MIA > Deutsch > Marxisten > Luxemburg
Die Internationale, Heft 1, S. 71–77, 1915.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 33–42.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: R. Kuli.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die jüngste Broschüre Kautskys, Nationalstaat, Imperialistischer Staat und Staatenbund (Nürnberg [1915], Fränkische Verlagsanstalt), ist zum Teil nur Wiederholung, zum Teil aber eine Ergänzung der Äußerungen, die er in verschiedenen Artikeln der Neuen Zeit zum gegenwärtigen Kriege getan hat.
Zunächst untersucht Kautsky das Wesen und die historische Rolle des Nationalstaates und weiß von ihm eine Menge Dinge zu erzählen, von denen kein Mensch bisher etwas wußte. So erfahren wir, daß der Nationalstaat sowohl eine unabweisbare logische Konsequenz der „modernen großstaatlichen Demokratie“ wie auch umgekehrt ihre unentbehrliche Grundlage ist. Nationalstaat und „moderne Demokratie“ – zweieinig sind sie, nicht zu trennen. Wir erfahren ferner, daß Österreich z. B. nur dadurch demokratisch zu regenerieren sei, daß es als Einheitsstaat in einen Bund von Nationalstaaten aufgelöst wird, daß auch von den „Grenzvölkern Rußlands“ eine solche Auflösung in Nationalstaaten „gefordert wird“ u. dgl. Während nach der bisherigen Auffassung der Sozialdemokratie die ganze nationale Phraseologie sowohl in Österreich wie in Rußland wie in Deutschland und überall vorzugsweise dazu diente, durch Verwirrung des Klassenkampfes die Geschäfte der Bourgeoisie und ihrer Klassenherrschaft zu besorgen, erleuchtet uns Kautsky, daß die nationalen Kämpfe innerhalb des heutigen Staates nur aus „dem demokratischen Empfinden“ fließen und um so stärker hervortreten, je stärker dieses Empfinden ist.
Bei Kautsky verschwindet also vollständig die Auffassung des Nationalstaates als einer vorübergehenden, geschichtlich bedingten Phase der bürgerlichen Klassenherrschaft, einer Phase, die vom Imperialismus längst überwunden und am deutlichsten gerade in dem gegenwärtigen Weltkriege zu Grabe getragen wird. Für Kautsky ist der Nationalstaat ein Schema der modernen Demokratie und als solches zugleich das Zukunftsideal, ja das Programm der Sozialdemokratie! „Von der bürgerlichen Demokratie hat die Sozialdemokratie das Streben nach dem Nationalstaat übernommen“, fabuliert Kautsky (S.11), obwohl bis jetzt nicht eine einzige sozialdemokratische Partei bekannt ist, die ein solches „Streben“ auf ihr Programm geschrieben hätte, und obwohl bis jetzt, umgekehrt, das Zusammenschweißen der Proletarier ohne Unterschied der Nationalität in jedem Staate zum gemeinsamen Klassenkampf mit gemeinsamem Programm im Gegensatz zu kleinbürgerlichen Nationalbestrebungen als die Aufgabe der Sozialdemokratie betrachtet wurde. Die Sozialdemokratie erkannte freilich nach der Formulierung des Londoner Internationalen Kongresses aus dem Jahre 1896 [2] „das Selbstbestimmungsrecht jeder Nationalität“ an. Aber zwischen dieser Formel und dem“Streben zum Nationalstaat“ liegt eben der ganze Abgrund, der sozialistische Grundsätze von bürgerlichen politischen Programmen trennt. Seine verblüffende Entdeckung konnte Kautsky nur fertigbringen, weil er einfach in der blauen Luft der Abstraktion Nationalstaat und Demokratie identifiziert. Und da „Demokratie“ natürlich von der Sozialdemokratie „erstrebt“ wird, so ergibt sich daraus auf die einfachste Art von der Welt, daß wir auch nach dem Nationalstaat „streben“ müssen.
Was ist nun aber eigentlich jene „moderne Demokratie“, die das Ziel unserer Sehnsucht sein soll? Die Antwort darauf gibt – so wird der Leser meinen – das Minimalprogramm der Sozialdemokratie. Weit gefehlt! Kautsky nennt „moderne Demokratie“ – den heutigen bürgerlichen Parlamentarismus! Der heutige preußisch-deutsche Halbabsolutismus z.B. muß uns schon nach diesem Schema als „moderne Demokratie“ erscheinen.
Denn hören wir ihn erzählen:
In dem gleichen Zeitraum, in dem sich jene beiden Riesenreiche (Großbritannien und Rußland – R.L.) bildeten, erstanden aber schon die materiellen Bedingungen, die Demokratie über das Bereich der Gemeinde oder der Markgenossenschaft hinaus in einem größeren Staate zu verwirklichen und damit die primitive Demokratie durch die moderne zu ersetzen. Dies wurde erreicht durch die Entwicklung des Verkehrs, des Buchdrucks sowie durch die Verallgemeinerung des Lesens und Schreibens ... Gleichzeitig bildete sich der moderne Großstaat mit einer zentralisierten Bürokratie und einer festen Zollgrenze. Zunächst verstärkte er die Macht der staatlichen Zentralgewalt, die eine absolute wurde. Aber die Entwicklung des Verkehrs und der Presse ermöglichte es immer mehr der Bevölkerung des ganzen Staates, Taten und Unterlassungen der Zentralgewalt kennenzulernen, sie zu diskutieren, zu kritisieren. Dieses Gehaben der Zentralgewalt wurde zugleich immer wichtiger für jeden einzelnen, das Bereich der Staatsgewalt wuchs. Daher erstand der Drang, auf sie Einfluß zu nehmen durch ein System von Repräsentanten, Vertretern, die von der Masse gewählt und kontrolliert werden. So entwickelte sich die moderne Demokratie, deren wesentlichste Merkmale der Parlamentarismus, die Presse und große, das ganze Bereich des Staates umfassende Parteiorganisationen bilden. (S. 8. [Hervorhebung – R.L.]
Wir haben dieses Prachtstück der materialistischen Auffassung im Wortlaut hierher gesetzt, damit der Leser sieht, wie hübsch man die Entstehung des bürgerlichen „Rechtsstaates“ ohne den weitläufigen Apparat von Klasseninteressen, ökonomischen Umwälzungen usw. aus der Entwicklung „des Verkehrs und der Presse“ erklären kann. „Die moderne Demokratie“ erscheint auf diese Weise, ganz wie ihre würdige Ergänzung, der Nationalstaat, nicht als prosaisches Stück bürgerlicher Klassenherrschaft mit allen Schlacken ihres irdisch beschränkten Daseins und mit deutlichen Spuren des Verfalls, sondern im blauschimmernden Duft der Abstraktion und in das dauerhafte Dasein eines Ideals gehüllt. Wir leben ja, wie Kautsky an einer anderen Stelle (S. 77) sagt, „im Zeitalter der wachsenden Demokratie“. Freilich, ein Ideal wird diese unsere „moderne Demokratie“ erst, wenn wir den reinen Nationalstaat bekommen. So könnte „die volle Demokratie“ in Deutschland „mit seinen Polen, Dänen, Franzosen“ gar nicht verwirklicht werden, denn „ein polnischer Politiker oder eine polnische Zeitschrift oder ein polnisches Buch mögen noch so eindringlich, überzeugend und bedeutend zu uns in ihrer Sprache sprechen, sie werden vielleicht auf Polen auch außerhalb Deutschlands wirken, nie auf das deutsche Volk. Im Wirken auf das Volk und durch das Volk besteht jedoch das Wesen der Demokratie.“ (S. 9) Und deshalb erst „innerhalb jedes solcher Nationalstaaten (in die die heutigen Großstaaten zerfallen müssen – R.L.) ist dann volle, nicht bloß formelle, sondern wirkliche und wirksame Demokratie möglich.“ (S. 11) [Hervorhebung – R.L.] Hast du nun Worte, lieber Leser?
Aber das holde Zwillingspaar hat auch noch ein kleines Schwesterchen, von dem es unzertrennlich ist. Die Miliz! „Der Nationalstaat ... setzt jeder Minderung oder Änderung seines Gebiets durch eine fremde erobernde Macht den energischsten, dauernd kaum überwindlichen Widerstand in dem starken demokratischen Leben seiner Bewohner entgegen; anderseits findet dieser Staat in dem Umfang des zusammenhängenden Gebiets der Nation seine Grenze, die er ohne Schädigung seiner selbst nicht überschreiten kann. Alles das bewirkt, daß für seine Existenz die Kraft seiner Demokratie wichtiger wird als die Kraft seiner Armeen, die für einen geschlossenen Nationalstaat, wenn er ein solcher bleiben will (dies „wenn“ ist gottvoll! – R.L.), rein defensiven Charakter bekommen. Gleichzeitig mit der Idee der modernen Demokratie und des Nationalstaates (bei Kautsky steht hier, was ein augenscheinlicher Druckfehler: Nationalitätenstaates – R.L.) erwachst die Idee der Milizarmee Sie werden alle drei von den gleichen Parteien und Volksklassen getragen.“ (S. 16/17) Kautsky selbst gehört übrigens zu diesen Parteien und Volksklassen nicht, denn einige Seiten später, als es gilt, das Friedensprogramm der Sozialdemokratie aufzustellen, vergißt er seine Miliz ganz und gar und fordert – die „Abrüstung“ auf die Hälfte des heutigen Bestandes der stehenden Armeen.
Und nochmals, lieber Leser, hast du Worte? Es fragt sich: Wo sind oder waren denn all die hübschen Sachen, die Kautsky uns da vormalt, auf Erden zu sehen Ist etwa Deutschland seit 1870 oder Italien jener „Nationalstaat“ mit defensiver Milizarmee und wachsender Demokratie? Ist der demokratischste Staat Europas und derjenige, der sich der Miliz am meisten nähert: die Schweiz, ein Nationalstaat? Ist der demokratischste außereuropäische Staat, die Vereinigten Staaten von Amerika, ein Nationalstaat? Es fragt sich: Hat Marx nicht etwa „auf das Volk und durch das Volk“ in zahllosen Ländern gewirkt, obwohl er nur „in seiner Sprache“ sprach? Es fragt sich endlich: Hat die Sozialdemokratie nicht stets behauptet, daß „volle, nicht bloß formelle, sondern wirkliche und wirksame Demokratie“ erst dann denkbar ist, wenn ökonomische und soziale Gleichheit, d. h. sozialistische Wirtschaftsordnung, verwirklicht, daß die „Demokratie“ des bürgerlichen Nationalstaates hingegen in letzter Linie stets mehr oder weniger Humbug ist?
Doch lassen wir jetzt den Nationalstaat und die Demokratie mitsamt der Miliz, von denen man die ganze Zeit nicht weiß, ob Kautsky sie als existierende historische Verhältnisse konterfeit oder als rosige Wolken seiner Phantasie. Sie sind jedenfalls nur Vorbereitung zur entsprechenden Behandlung des Imperialismus.
Was ist Imperialismus? Imperialismus – das ist bloß eine garstige „Methode“. Das ist eine Methode, mit Gewalt und ähnlichen häßlichen und verwerflichen Mitteln das zu erreichen, was an sich legitim und notwendig, aber „viel besser“ durch andere Methoden, nämlich durch die „Demokratie“, zu erreichen ist. Kautsky erkennt in dem Ausdehnungsdrang des Kapitals das legitime Bedürfnis der modernen Entwicklung; bloß die Mittel, die imperialistischen Methoden will er beseitigen und damit dem Imperialismus, dem Wettrüsten, der Kolonialpolitik „den schlimmsten Stachel“ nehmen.
Aber hinwiederum, wenn wir uns die Sache ganz genau besehen, so gibt es beinahe gar keinen Imperialismus. Denn entweder ist das, was jetzt als solcher erscheint, noch nicht Imperialismus, oder es ist mit ihm schon vorbei.
England? Nun, dessen Kolonien waren erobert „lange vor der imperialistischen Periode“, und jetzt beruht z.B. der südafrikanische, der kanadische, der australische Bund auf reiner Demokratie. Gegen eine solche „Staatenart“ könnten wir kaum etwas „einwenden“.
Südafrika Ägypten, Algerien, Persien nähern sich immer mehr „dem Stadium der modernen Demokratie“, und deshalb kommen diese Gebiete als Objekt des Imperialismus „nicht mehr“ in Betracht (S.54). Rußland? Dieses kann natürlich „noch nicht“ Imperialismus treiben, denn es bedarf selbst noch der Kapitaleinfuhr. Österreich ? Eigentlich kann es auch „noch nicht“ imperialistische Ziele verfolgen, da es ebenfalls noch selbst des Kapitalimports bedarf; zugleich ist es aber auch schon über diese Ziele hinaus: Sein „zeitweiser“ imperialistischer Drang nach Saloniki „hat längst aufgehört“. Sein Konflikt mit Serbien aber ist gar nicht imperialistischen Charakters. Beweis: Es liegen ihm agrarische Interessen zugrunde, Serbien seinerseits ist .,noch weit von jeder imperialistischen Tendenz“ entfernt, es befindet sich im Stadium „des Nationalstaates“. China? Es nähert sich auch mit Siebenmeilenstiefeln „dem Stadium“ der modernen Demokratie alias des Nationalstaates, also auch hier wird „jede imperialistische Politik unmöglich“ (was die verblendeten Japaner, die die Neue Zeit nicht lesen, in diesem Moment offenbar gar nicht ahnen).
Mit einem Wort, wohin wir blicken, ist es mit dem Imperialismus nichts, oder seine Tage sind gezählt, denn überall wird er durch die zunehmende „Demokratie“ verdrängt. Halt, die Türkei! Das war allerdings ein Objekt des Imperialismus, namentlich des deutschen. Die Türkei drohte denn auch zum Wetterwinkel des imperialistischen Weltkrieges zu werden. Allein auch hier war just vor dem Ausbruch des gegenwärtigen Krieges alles „geregelt“. Er brach in einem Moment aus, in dem „kein einziger imperialistischer Streitpunkt existierte“ (S. 63).
Hat so der Imperialismus schon vor dem Krieg gar nicht existiert, so wird er nach dem Kriege – das hat Kautsky schon im September vorigen Jahres prophezeit – erst recht aufhören zu existieren. „Der Export von Kapitalien aus den Industriestaaten, diese Quelle des Imperialismus und damit letzte Ursache des Krieges, hört, zunächst wenigstens, auf.“ Denn einerseits werden die europäischen Industriestaaten nach dem Kriege „andere Sorgen haben“, als Imperialismus zu treiben, andererseits „entziehen sich“ die Agrarstaaten immer mehr der Ausbeutung durch den Imperialismus (Neue Zeit [32. Jg. 1913/1914], Nr. 23, S. 970). Also war der ganze Imperialismus und namentlich der gegenwärtige Weltkrieg im Grunde genommen „viel Lärm um nichts“. Wie brach denn der Krieg nach alledem aus? Na, eben – bloß aus dem Wettrüsten und der Mobilisierung! (S. 65)
Wozu all diese Gymnastik, fragst du, lieber Leser? Wozu so viel edler Schweiß und Mühe, um allgemein bekannte Tatsachen, die jetzt in den Gassen gellen, zu bestreiten? Die Antwort gibt uns Kautsky mit der folgenden Entdeckung: Wer „behauptet, der Imperialismus sei im jetzigen Stadium der kapitalistischen Produktion für diese unerläßlich“, der „besorgt damit die Geschäfte der Imperialisten ..., erhöht ihren geistigen Einfluß in der Volksmasse und damit ihre Macht“ (S. 22). Also „behauptet“ Kautsky das Gegenteil. Er „behauptet“, daß der Imperialismus gar nicht ökonomisch notwendig, sondern „nur eine Machtfrage“ sei, daß die Ausdehnung des Kapitals „am besten“ nicht durch die gewalttätigen Methoden des Imperialismus, sondern „durch die friedliche Demokratie“ gefördert werde. (S. 70) Wie einfach und einleuchtend! Marx behauptete, daß die Kapitalsherrschaft auf einer gewissen Stufe eine unerläßliche ökonomische Notwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung sei, damit besorgte er natürlich die Geschäfte der Kapitalisten, erhöhte ihren geistigen Einfluß und ihre Macht. Engels behauptete, die Aktiengesellschaften seien eine ökonomische Notwendigkeit der kapitalistischen Produktion, und besorgte damit die Geschäfte der Aktionäre, erhöhte wohl ihre Dividenden. Die Sozialdemokratie behauptete bis jetzt, daß der heutige Militarismus eine historische Notwendigkeit als Werkzeug der kapitalistischen Klassenherrschaft sei, und besorgte damit die Interessen der Militaristen, erhöhte ihren Einfluß und ihre Macht. Das ist alles sonnenklar, und Lassalle kann sich mit seinem „Aussprechen dessen, was ist“, nochmals begraben lassen.
Nur vergißt Kautsky, daß uns seine rettende Entdeckung von der Nichtnotwendigkeit des Imperialismus, der „nur“ eine Machtfrage sei, schließlich mageren Trost gewährt. Denn „die Macht“ ist – wie Engels seinem Dühring einst auseinandergesetzt hat – auf großen historischen Strecken gleichfalls ein ökonomischer Faktor und hat ihre Wurzeln in ökonomischen Notwendigkeiten. Kautsky vergißt ferner, daß „die Methode“ des Imperialismus, die er als höchst äußerliches garstiges Beiwerk des heutigen Kapitalismus abschaffen will, für diesen wesentlich ist. Er sieht nämlich, wenn er von der Gewaltsamkeit der imperialistischen Methoden spricht, selbst nur die äußere geräuschvolle, kriegerische Erscheinung des Imperialismus. Er vergißt, daß das, was ihm als die „friedliche“ und „demokratische“ Kapitalexpansion besser gefällt: die Eisenbahnbauten und die Einführung des Warenhandels in zurückgebliebenen Ländern, daß dieser Prozeß gleichfalls, nur im stillen, von einem fortlaufenden gewaltsamen Zusammenbruch der vorhandenen sozialen Organisation unter unaufhörlichen gewaltsamen Eingriffen des Staates begleitet wird. Er vergißt vollständig, daß auch der englische Freihandel, dessen Großtaten in China er in Gegensatz zum Imperialismus stellt und preist, sich die „offenen Türen“ am Gelben Meer mit Kanonenschlünden und Greueltaten des Krieges wie mit zahllosen stilleren Gewaltstreichen des Raubs und Betrugs von 1839 bis 1900 geschlagen hat. Mit einem Wort, die ganze Kautskysche Unterscheidung des legitimen ökonomischen Kerns und der häßlichen „gewaltsamen“ Schale, die man als etwas Zufälliges dem Kapitalismus ausreden möchte, ist bloße Spintisiererei am Schreibtisch. In der blutigen Wirklichkeit hat der Imperialismus weder Kern noch Schale, er ist beides mit einem Male; ökonomische Notwendigkeit und Gewaltmittel gehen hier Hand in Hand und wechseln alle Augenblicke die Stellen. Beide sind nur zu überwinden durch die Beseitigung des Kapitalismus. Kautskys Plan, den heutigen Imperialismus zu zivilisieren, zu „demokratisieren“ und friedlich zu machen, ihm „den Stachel“ zu nehmen, läuft schließlich so ungefähr auf die Davidsche „sozialistische“ Kolonialpolitik hinaus. Das Utopische all solcher Bestrebungen, dem Tiger die Krallen zu beschneiden und ihm einzureden, daß er sich im eigenen Interesse „am besten“ von Honig und Gemüsen nähren soll, springt schließlich in die Augen. Und wenn die Davids ihre kleinbürgerlichen Utopien lange Jahre vor dem heutigen Kriege ausspannen, so ist es viel verwunderlicher, daß Kautsky heute gerade im Blitz und Donner der großen weltgeschichtlichen, vom Imperialismus heraufbeschworenen Katastrophe einen Anlaß findet – munter und unverdrossen wie eine junge Zikade im Grase –, sein Liedlein von der „Abrüstung“, vom „Nationalstaat“, von der „demokratischen Entwicklung“ und vom Freihandel als den nächsten Zukunftsperspektiven des Kapitalismus „in dessen eigenem Interesse“ zu singen. Eine verkehrtere geschichtliche Perspektive zur Orientierung des Proletariers läßt sich offenbar aus dem heutigen Weltkriege nicht ableiten.
Aber diese wunderliche Geschichtsauffassung hat eine sehr ernste praktische Seite. Es ist klar, daß das Wiedererwachen, in den Reihen der Sozialdemokratie in Deutschland wie anderwärts, zum internationalen Klassenbewußtsein sich in dein Maße vollzieht, wie die Arbeiter sich vom Bann der nationalistischen Hypnose frei machen, in die sie von den herrschenden Klassen wie von den eigenen Parteiführern während des jetzigen Kriegsgemetzels hineingetrieben worden sind, in dem Maße, wie sie sich über den imperialistischen Charakter des Krieges und die ihnen daraus erwachsenden großen Aufgaben klarwerden. Nun liefert Kautsky einerseits gerade jetzt, mitten in den nationalistischen Orgien der Kriegshetzer, eine überschwängliche Analogie des Nationalismus, die stärkste Betonung des nationalistischen Gedankens, den er mit „demokratischem Empfinden“ identifiziert, andererseits löst er den Imperialismus als historische Phase in theoretischen Dunst auf. Und als Moral von der Geschichte: ein „Friedensprogramm“ der Sozialdemokratie, das neben der Ablehnung der Annexionen die „Abrüstung“ auf die Hälfte oder auf ein Viertel – wie es vorigen September [1914] in der Neuen Zeit, Seite 971, hieß und einen europäischen Staatenbund oder Zollverein mit freihändlerischen Handelsverträgen umfaßt. Also neue Rezepte und Projekte! Statt Aktion, statt Klassenkampf hält Kautsky für unsere dringendste Aufgabe in dieser Situation, Ratschläge an die bürgerliche Gesellschaft zu erteilen, wie sie durch Demokratie, Freihandel und hübsche kleine Defensivkriege „am besten“ ihre eigenen Geschäfte besorgen kann, so zwar, daß bei diesem sanft flackernden geschichtlichen Feuer auch das Süpplein des Proletariats unmerklich gargekocht wird. Daß er uns diese freundlichen Aussichten nach dem Kriege, die den Imperialismus und das Wettrüsten „ablösen“ könnten, als die heilige Allianz der „Imperialisten“, also wohl das Gegenteil von Demokratie und Freihandel und eher als eine Ära der schwärzesten Reaktion ausgemalt hat (Neue Zeit vom 11. September 1914, S. 922), tut wohl nichts zur Sache. Daß sein Staatenbund alias Zollverein nichts als ein Abklatsch der früher von Prof. Julius Wolf, von Max Schippel, jetzt wieder von den offiziellen Herolden des Imperialismus, den Losch, Liszt u. a., immer wieder vorgerittenen Projekte der reaktionären Zollpolitik mit einer Spitze bald gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, bald gegen England ist, scheint Kautsky auch nicht weiter zu genieren.
Kautsky zieht in seiner Broschüre gegen „die Rechte“ der Partei, gegen die Sozialimperialisten ins Feld. Ihnen will er durch seine historische Perspektive das Wasser abgraben. Zugleich unterläßt er nicht, um sich seinen „zentralen“ Punkt zu wahren, gegen die „äußerste Linke“ ein paar schneidige Lufthiebe zu führen. Er denunziert sie nämlich als Leute, die erstens streben, den Parlamentarismus durch den „Massenstreik“ zu „ersetzen“ [1*], zweitens als Leute, die dem Imperialismus den Sozialismus entgegensetzen wollen, „das heißt nicht bloß seine Propagierung, die wir seit einem halben Jahrhundert allen Formen der kapitalistischen Herrschaft entgegensetzen, sondern seine sofortige Durchführung“ (S. 17). Kautsky würde wohl in nicht geringe Verlegenheit geraten, wenn ihn jemand in aller Höflichkeit am Kragen packen und ersuchen würde, doch gefälligst genau anzugeben, wer, wo, wann in der Partei den Parlamentarismus durch den Massenstreik „ersetzen“ wollte, oder den Kauz zu nennen, der eine „sofortige Durchführung“ des Sozialismus fordert.
Wie Kautsky als erster den Hetzruf gegen die „Quertreiber“ ausstieß, indem er sofort nach Ausbruch des Krieges gegen die „Eigenbrötelei“ und die „Kritik“ als die ärgsten Verbrechen warnte (Neue Zeit vom 21. August 1914, S. 846), so leistet er auch jetzt der Rechten treffliche Dienste, indem er von den Ansichten und Absichten der „Quertreiber“ mit freier Phantasie ein abgeschmacktes Zerrbild verfertigt.
Aber noch mehr ist seine ganze Theorie, die er jetzt in der Broschüre wie in der Neuen Zeit vertritt, geeignet, den Sozialimperialisten, die er bekämpfen will, das Werk zu erleichtern, indem sie in den Parteien die größte Verwirrung in bezug auf die historische Situation, ihre wahren Tendenzen und die Aufgaben der Arbeiterklasse verbreitet. Und deshalb sind diese breiten schillernden theoretischen Spintisierereien gefährlicher als die „Neuorientierungen“ der Heine, Südekum, Haenisch und wie sie alle heißen. Während diese durch ihr krasses Auftreten vor sich selbst genügend warnen, sind die Kautskyschen Theorien wohl fähig, zwar nicht dein Militarismus und Imperialismus, aber der Sozialdemokratie „den Stachel“ zu nehmen.
Übrigens schließt Kautsky seine Broschüre mit einer hübschen Wendung. Der imperialistischen „Methode“ müßten wir „entschiedene Bekämpfung“ angedeihen lassen. „je gewaltiger der Widerstand der Arbeiter, unüberwindlicher die Schranken, die dem Kapital hier in den Weg gelegt werden“ [S.79], um so mehr wird sich das Kapital gezwungen sehen, sowohl in den Formen der Ausbeutung wie in der auswärtigen Politik lobenswerte demokratische Pfade zu wandeln und sich zu bessern. Wie dem immer sei, jedenfalls ist es klar, daß der „gewaltige Widerstand“ und „die unüberwindlichen Schranken“ gegen den Imperialismus wohl anders aussehen als die heutige Haltung der Parteiinstanzen und die eigene Haltung Kautskys seit Ausbruch des Krieges. So hat Kautsky unversehens zum Schluß ein scharfes Urteil über die offizielle Taktik der Sozialdemokratie gesprochen. Und diese Schlußwendung ist so ziemlich die einzige, die in seiner Schrift ganz einwandfrei ist.
1*. „Aber dieser Ersatz stellt sich bei näherer Einsicht stets als eine Form der primitiven Demokratie heraus. Das gilt auch von der direkten Gesetzgebung durchs Volk wie von ihrer energischeren Abart, dem Massenstreik“ (S. 8). Der Massenstreik als „Abart“ der direkten Gesetzgebung durch das Volk und als solche eine „Form“ der Markgenossenschaft – heiliger Nepomuk, ist das ein Wortgebimmel!
1. Diese Rezension ist mit Mortimer, einem Pseudonym Rosa Luxemburgs, gezeichnet.
2. Der Internationale sozialistische Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß in London fand vom 27. Juli bis 1. August 1896 statt.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012