Rosa Luxemburg

 

„Nicht zuständig“

(5. Mai 1914)


Aus Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 50, 5. Mai 1914.
Nach Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, Dietz Verlag, Berlin 1984, S. 439–42.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlags.
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Es gibt in der Geschichte Worte und Situationen, die in einem Augenblick das vorhandene Kräfteverhältnis, den inneren Reifegrad der Gesellschaft so grell beleuchten, wie es sonst Jahre nicht vermögen. Zu solchen gehört die neulich im Reichstag vom Genossen Dittmann vorgebrachte „kurze Anfrage“ über die skandalösen Zustände in einem Infanterieregiment in Straßburg und die noch kürzere Antwort eines schneidigen Generalmajors: die Beantwortung der Anfrage werde abgelehnt, da weder der Reichskanzler noch der Reichstag in Angelegenheiten der Ausbildung der Truppen zuständig seien. Der ganze Vorgang dürfte keine zehn Minuten in Anspruch genommen haben, worauf sich der biedere Reichstag mit Behagen seinem „laufenden Geschäft“ des gesetzgeberischen Strohdreschens zuwandte.

Es handelte sich bei der sozialdemokratischen Anfrage bekanntlich um dokumentarisch belegte Fälle von Überanstrengung bei Felddienstübungen, um Massenerkrankungen von Soldaten, um zwei Todesfälle und zwei Fälle von Selbstmord, die den unmenschlichen Strapazen ein Ende gemacht haben sollen. Die in unserer Presse veröffentlichten Briefe eines der dahingeschiedenen Opfer dieser barbarischen Kasernenpädagogik gaben der furchtbaren Wahrheit ein erschütterndes Zeugnis. Schatten zu Tode gemarterter Soldaten pochten also an den Tempel der Volksvertretung. Verzweifelte Blicke anderer Vaterlandsverteidiger, die der Erlöser Tod noch nicht aus der Straßburger Kaserne befreit hat, richteten sich hilfeflehend auf die würdige Gesetzgeberversammlung, dieselbe, die durch ihre Bewilligung der jüngsten Militärvorlage [1] neue Zehntausende von Söhnen des Volkes dem Moloch in den Rachen geworfen hat. Nun erklärte aber Moloch auf die knappste Anfrage aus der Mitte der Volksvertreter über die Schicksale jener Volkssöhne schnarrend: Halt’s Maul, Reichstag, du bist nicht zuständig! Und was tat darauf der Reichstag? Richtig, er hielt das Maul und schluckte die Antwort im Stile Götz von Berlichingens, ohne mit der Wimper zu zucken.

Man ist in Deutschland seit der Zabernaffäre [2], seit den zahllosen Selbstentwürdigungen der bürgerlichen Reichstagsmehrheit nachgerade an starke Stücke gewöhnt. Ein Parlament, das sich seit langen Jahren in der Kunst der eigenen Erniedrigung und Preisgebung mit wahrem Feuereifer übt, ruft schließlich eine gewisse Abstumpfung gegenüber seinen Heldentaten hervor. Und doch zeigt sich, dass es für den deutschen Reichstag auch noch von der politischen Tiefe, an der er mit Gott für König und Vaterland angelangt ist, einen Abrutsch gibt. Es zeigt sich, dass jeder neue Tag einen neuen, weiteren Schritt der siegreichen Militärdiktatur über die Leiche des deutschen Parlamentarismus mit sich bringt.

Denn was bedeutet die Erklärung des säbelrasselnden Marssohnes an den Reichstag? „Nicht zuständig in Angelegenheiten der Ausbildung der Truppen !“ Aber zur „Ausbildung der Truppen“ gehören Dienstzeit, Misshandlungen der Soldaten, ihre Ernährungs- und Gesundheitszustände in der Kaserne und auf den Übungsplätzen, die Manöver, die Verwendung der Soldaten als Offiziersburschen und als Streikbrecher, als Mordwerkzeuge gegen streikende Arbeiter und gegen demonstrierende Volksmassen. Ja, das ganze heutige Militärsystem hat ja überhaupt keinen anderen erdenklichen Zweck als die „Ausbildung der Truppen“, und so wäre von nun an der Reichstag über dieses ganze System mit all seinem lieblichen Drum und Dran „nicht zuständig“ mitzureden. Die Debatten im Plenum über den Militäretat, die Verhandlungen darüber in den Kommissionen des Reichstags wären von nun an eine unwürdige Farce, ein leeres Wortgebimmel, dem nicht einmal mehr eine Selbsttäuschung des würdigen Parlaments über die eigene angebliche Bedeutung einigen sittlichen Ernst verleihen könnte! Der Reichstag würde sich als nur zuständig zur Bewilligung von Geldmitteln für den Militarismus herausstellen.

In jedem Parlament, dessen Mehrheit auf sich selbst wie auf die Verfassungsrechte des Volkes etwas hält, würde ein tosender Sturm der Entrüstung dem frechen Kriegsknecht seinen Satz in den Mund zurückgedrückt haben wie selbst in der russischen Duma vor einigen Jahren ein elementarer Sturm der sozialdemokratischen Fraktion einen säbelrasselnden Kriegsminister mitten im frechen ‘Wort zum Schweigen gebracht hat, bis er bleich und zitternd die Tribüne verlassen musste. Aber das deutsche Bürgertum quittiert hier wieder nur über Fußtritte, die es durch sein freiwilliges inbrünstiges Kuschen vor dem Militarismus förmlich erbittet. Die jüngsten Wahlen in Schweden haben in schlagender Weise denselben inneren Zusammenbruch des Liberalismus erwiesen [3], wie er schon durch die letzten Wahlen in Belgien [4], in Deutschland [5] aufgezeigt worden war. In Schweden wie anderswo ergreift das Bürgertum eine Massenflucht aus dem Lager des Liberalismus um unter den Fahnen der offenen Reaktion dem Götzen Militarismus Opfer zu bringen. Was für Ratschläge gibt nun der deutsche Liberalismus seinem schwedischen Bruder in dieser tristen Lage, auf welchen Weg weist er ihn weiterhin? „Es ist der Weg, der zur Verständigung mit der Rechten führt.“ „Da beide Parteien, Liberale wie Konservative, im Grunde das gleiche wollen, so wäre es das Nächstliegende, dass sie sich zu gemeinsamer Lösung der Rüstungsfrage grundsätzlich bereit erklärten.“ Den schwedischen Liberalen, die ja in diesem Wahlkampf die Verfassungsrechte gegen das persönliche Regiment auf ihren Schild erhoben, wird gesagt, „sie könnten aus der preußischen Geschichte lernen, dass kein Gegenstand zu verfassungstheoretischen Haarspaltereien ungeeigneter sei als die Frage der Wehrkraft“. Die Verteidigung des Parlamentarismus gegen das persönliche Regiment, der Verfassung gegen die Militärdiktatur – das sind „theoretische Haarspaltereien“ und die einzige „reale“ Politik, das ist der liberal-konservative Block unter den Fahnen des Militarismus! Wollen doch Liberale und Konservative „im Grunde“ ein und dasselbe! So schrieb neulich im redaktionellen Leitartikel das Berliner Tageblatt, Organ des linken Flügels des deutschen Liberalismus. Es wäre ja geradezu ein Wunder, wenn der deutsche Militarismus auf diesen liberalen Backen, die das Erröten der politischen Scham verlernt haben, nicht sofort die richtige Antwort erschallen ließe, wie sie tatsächlich eine Woche nach jenem Artikel der Generalmajor im Reichstag gegeben hat.

So drückt die erbarmungslose Walze der imperialistischen Entwicklung Tag um Tag das gesamte Bürgertum von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken zu einer reaktionären Masse platt und zugleich dadurch das Parlament und die Verfassung zu einer Fußmatte für den militaristischen Kürassierstiefel. Und jeder weitere Schritt auf diesem Wege macht es zur dringenderen Notwendigkeit, dass in dem Maße, wie sich das bürgerliche Parlament seiner Zuständigkeit im politischen Leben begibt, die arbeitenden Massen draußen im Lande für sich die „Zuständigkeit“ in allen Grundfragen des öffentlichen Lebens durch eigenen Druck, durch Machtentfaltung von höchster Wucht erobern. Wenn unsere Fraktion durch ihr unermüdliches Wirken im Reichstag auch nichts anderes erzielen würde als solche, die Situation mit Blitzlicht beleuchtenden Resultate, so wäre ihre Aktion für die Aufklärung und Revolutionierung der Volksmassen von unschätzbarem Wert.


Anmerkungen

1. Ende März 1913 war Im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10.000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sogenannten Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, dass die Revisionisten unter Missbrauch der Fraktionsdisziplin den Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückten. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“.

2. Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsass) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert.

3. Im September 1912 waren in Schweden Wahlen zur Ersten Kammer durchgeführt worden, bei denen die Konservativen 88, die Liberalen 49 und die Sozialdemokraten 13 Sitze erobern konnten.

4. Am 14. April 1902 hatte in Belgien ein Massenstreik von etwa 300.000 Arbeitern zur Verbesserung des Wahlrechts begonnen. Er war am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei, die mit den Liberalen eine Allianz eingegangen war, abgebrochen worden, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

5. Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012