MIA > Deutsch > Marxisten > Luxemburg > Sozialreform oder Revolution?
Bernstein hat seine Revision des sozialdemokratischen Programms mit dem Aufgeben der Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs angefangen. Da aber der Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft ein Eckstein des wissenschaftlichen Sozialismus ist, so mußte die Entfernung dieses Ecksteins logisch zum Zusammenbruche der ganzen sozialistischen Auffassung bei Bernstein führen. Im Laufe der Debatte gibt er, um seine erste Behauptung aufrecht zu erhalten, eine Position des Sozialismus nach der anderen preis.
Ohne Zusammenbruch des Kapitalismus ist die Expropriation der Kapitalistenklasse unmöglich – Bernstein verzichtet auf die Expropriation und stellt als Ziel der Arbeiterbewegung die allmähliche Durchführung des „Genossenschaftlichkeitsprinzips“ auf
Aber die Genossenschaftlichkeit läßt sich inmitten der kapitalistischen Produktion nicht durchführen – Bernstein verzichtet auf die Vergesellschaftung der Produktion und kommt auf die Reform des Handels, auf den Konsumverein.
Aber die Umgestaltung der Gesellschaft durch die Konsumvereine, auch mit Gewerkschaften zusammen, verträgt sich nicht mit der tatsächlichen materiellen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft – Bernstein gibt die materialistische Geschichtsauffassung auf.
Aber seine Auffassung von dem Gang der ökonomischen Entwicklung verträgt sich nicht mit dem Marxschen Mehrwertgesetz – Bernstein gibt das Mehrwert- und das Wertgesetz und damit die ganze ökonomische Theorie von Karl Marx auf.
Aber ohne bestimmtes Endziel und ohne ökonomischen Boden in der gegenwärtigen Gesellschaft kann der proletarische Klassenkampf nicht geführt werden – Bernstein gibt den Klassenkampf auf und verkündet die Aussöhnung mit dem bürgerlichen Liberalismus.
Aber in einer Klassengesellschaft ist der Klassenkampf eine ganz natürliche, unvermeidliche Erscheinung – Bernstein bestreitet in weiterer Konsequenz sogar das Bestehen der Klassen in unserer Gesellschaft: die Arbeiterklasse ist ihm bloß ein Haufen nicht nur politisch und geistig, sondern auch wirtschaftlich zersplitterter Individuen. Und auch die Bourgeoisie wird nach ihm nicht durch innere ökonomische Interessen, sondern bloß durch äußeren Druck – von oben oder von unten – politisch zusammengehalten.
Aber wenn es keinen ökonomischen Boden für den Klassenkampf und im Grunde genommen auch keine Klassen gibt, so erscheint nicht nur der künftige Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie unmöglich, sondern auch der bisherige, so erscheint die Sozialdemokratie selbst mit ihren Erfolgen unbegreiflich. Oder aber sie wird begreiflich gleichfalls nur als Resultat des politischen Regierungsdruckes, nicht als gesetzmäßiges Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung, sondern als Zufallsprodukt des hohenzollernschen Kurses, nicht als legitimes Kind der kapitalistischen Gesellschaft, sondern als Bastard der Reaktion. So führt Bernstein mit zwingender Logik von der materialistischen Geschichtsauffassung zu der Frankfurter und der Vossischen Zeitung. [1]
Es bleibt nur noch übrig, nachdem man die ganze sozialistische Kritik der kapitalistischen Gesellschaft abgeschworen hat, das Bestehende wenigstens im großen und ganzen auch befriedigend zu finden. Und auch davor schreckt Bernstein nicht zurück: er findet jetzt die Reaktion in Deutschland nicht so stark, „in den westeuropäischen Staaten ist von politischer Reaktion nicht viel zu merken“, „in fast allen Ländern des Westens ist die Haltung der bürgerlichen Klassen der sozialistischen Bewegung gegenüber höchstens eine der Defensive und keine der Unterdrückung“ (Vorwärts vom 26. März 1899). Die Arbeiter sind nicht verpaupert, sondern im Gegenteil immer wohlhabender, die Bourgeoisie ist politische fortschrittlich und sogar moralisch gesund, von Reaktion und Unterdrückung ist nichts zu sehen – und alles geht zum besten in dieser besten der Welten.
So kommt Bernstein ganz logisch und folgerichtig von A bis herunter auf Z. Er hatte damit angefangen, das Endziel um der Bewegung willen aufzugeben. Da es aber tatsächlich keine sozialdemokratische Bewegung ohne das sozialistische Endziel geben kann, so endet er notwendig damit, daß er auch die Bewegung selbst aufgibt.
Die ganze sozialistische Auffassung Bernsteins ist somit zusammengebrochen. Aus dem stolzen, symmetrischen, wunderbaren Bau des Marxschen Systems ist bei ihm nunmehr ein großer Schutthaufen geworden, in dem Scherben aller Systeme, Gedankensplitter aller großen und kleinen Geister eine gemeinsame Gruft gefunden haben. Marx und Proudhon, Leo von Buch und Franz Oppenheimer, Friedrich Albert Lange und Kant, Herr Prokopovitsch und Dr. Ritter von Neupauer, Herkner und Schulze-Gävernitz, Lassalle und Prof. Julius Wolf [2] – alle haben ihr Scherflein zu dem Bernsteinschen System beigetragen, bei allen ist er in die Lehre gegangen. Und kein Wunder! Mit dem Verlassen des Klassenstandpunktes hat er den politischen Kompaß, mit dem Aufgeben des wissenschaftlichen Sozialismus die geistige Kristallisationsachse verloren, um die sich einzelne Tatsachen zum organischen Ganzen einer konsequenten Weltanschauung gruppieren.
Diese aus allen möglichen Systembrocken unterschiedslos zusammengewürfelte Theorie scheint auf den ersten Blick ganz vorurteilslos zu sein. Bernstein will auch nichts von einer „Parteiwissenschaft“ oder richtiger von einer Klassenwissenschaft, ebensowenig von einem Klassenliberalismus, einer Klassenmoral hören. Er meint eine allgemein menschliche, abstrakte Wissenschaft, abstrakten Liberalismus, abstrakte Moral zu vertreten. Da aber die wirkliche Gesellschaft aus Klassen besteht, die diametral entgegengesetzte Interessen, Bestrebungen und Auffassungen haben, so ist eine allgemein menschliche Wissenschaft in sozialen Fragen, ein abstrakter Liberalismus, eine abstrakte Moral vorläufig eine Phantasie, eine Selbsttäuschung. Was Bernstein für seine allgemein menschliche Wissenschaft, Demokratie und Moral hält, ist bloß die herrschende, d. h. die bürgerliche Wissenschaft, die bürgerliche Demokratie, die bürgerliche Moral.
In der Tat! Wenn er das Marxsche ökonomische System abschwört, um auf die Lehren von Brentano, Böhm-Jevons, Say [3], Julius Wolf zu schwören, was tut er anderes, als die wissenschaftliche Grundlage der Emanzipation der Arbeiterklasse mit dem Apologetentum der Bourgeoisie vertauschen? Wenn er von dem allgemein menschlichen Charakter des Liberalismus spricht und den Sozialismus in seine Abart verwandelt, was tut er anderes, als dem Sozialismus den Klassencharakter, also den geschichtlichen Inhalt, also überhaupt jeden Inhalt nehmen und damit umgekehrt die historische Trägerin des Liberalismus, die Bourgeoisie, zur Vertreterin der allgemein menschlichen Interessen machen?
Und wenn er gegen „die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten (allmächtigen) Mächten der Entwicklung“, gegen die „Verachtung des Ideals“ [4] in der Sozialdemokratie zu Felde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet, gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischen Wiedergeburt des Proletariats, gegen den revolutionären Klassenkampf, eifert – was tut er im Grunde genommen anders, als der Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: die Aussöhnung mit der bestehenden Ordnung und die Übertragung der Hoffnung ins jenseits der sittlichen Vorstellungswelt predigen?
Indem er endlich gegen die Dialektik seine schärfsten Pfeile richtet, was tut er anders, als gegen die spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewußten Proletariats ankämpfen? Gegen das Schwert ankämpfen, das dem Proletariat die Finsternis seiner historischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistige Waffe, womit es, materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt, weil es sie ihrer Vergänglichkeit überführt, ihr die Unvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution im Reiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem Bernstein von der Dialektik Abschied nimmt und die Gedankenschaukel des Einerseits – Andererseits, Zwar – Aber, Obgleich – Dennoch, Mehr – Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig in die historisch bedingte Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das getreue geistige Abbild ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist. Das politische Einerseits – Andererseits, Wenn und Aber der heutigen Bourgeoisie sieht genau so aus, wie die Denkweise Bernsteins, und die Bernsteinsche Denkweise ist das feinste und sicherste Symptom seiner bürgerlichen Weltanschauung.
Aber für Bernstein ist nunmehr auch das Wort „bürgerlich“ kein Klassenausdruck, sondern ein allgemeingesellschaftlicher Begriff. Das bedeutet nur, daß er – folgerichtig bis zum Punkt über dem i – mit der Wissenschaft, Politik, Moral und Denkweise auch die geschichtliche Sprache des Proletariats mit derjenigen der Bourgeoisie vertauscht hat. Indem Bernstein unter „Bürger“ unterschiedslos den Bourgeois und den Proletarier, also den Menschen schlechthin versteht, ist ihm tatsächlich der Mensch schlechthin zum Bourgeois, die menschliche Gesellschaft mit der bürgerlichen identisch geworden.
1. Die Frankfurter Zeitung: Tageszeitung kleinbürgerlich-demokratischer Richtung; erschien von 1856 bis 1943 in Frankfurt a.M. – Die Vossische Zeitung: liberale Zeitung; veröffentlicht in Berlin; ursprünglich wöchentlich; gegründet 1704; ab 1824 Tageszeitung; Veröffentlichung eingestellt 1933.
2. Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865): französischer utopischer Sozialist; stellte eine Gesellschaft vor, die auf dem gerechten Austausch zwischen unabhängigen Produzenten beruhte; betrachtete den Staat als von weniger Bedeutung; gilt als theoretischen Vorgänger und ideologischen Begründer des Anarchismus; heftig von Marx kritisiert in seinem Buch Das Elend der Philosophie.– Leo von Buch – Franz Oppenheimer (1864–1943): deutscher Ökonom und Soziologe; liberaler Sozialist. Bernstein zitiert ihn positiv. – Friedrich Albert Lange (1828–1875): deutscher neo-kantianischer Philosoph und Sozialreformer. – Immanuel Kant (1724–1804): deutscher idealistischer Philosoph; Gründer der klassischen deutschen Philosophie. – S.N. Prokopovitsch (1871–1952): russischer Ökonom und Publizist; bedeutender Vertreter des „Ökonomismus“; bedeutender Vertreter der Ideen von Bernstein in Rußland; ab 1906 Mitglied des ZK der Partei der Konstitutionellen Demokraten; gehörte 1917 der Provisorischen Regierung an; 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen. – Dr Joseph Ritter von Neupauer (??–??): deutscher bürgerlicher Ökonom, dessen Ideen Bernstein guthieß. – Heinrich Herkner (1863–1932): Student des Kathedersozialisten Lujo Brentano; Vizepräsident des Vereins für Sozialreform ab 1911; Präsident 1917–29. – Gerhart Schulze-Gävernitz (1864–1943): deutscher Ökonom. – Ferdinand Lassalle (1825–1864): deutscher Sozialist; Teilnehmer an der Revolution 1848/49 in Deutschland; Mitglied des Bundes der Kommunisten; spielte bedeutende Rolle bei der Organisierung der deutschen Arbeiterklasse durch seine Arbeit bei der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) 1862–64; neigte zum Staatssozialismus; seine Abneigung gegen die Bourgeoisie führte ihn zu Verhandlungen über politische Zusammenarbeit mit Bismarck; betonte die Rolle von Produktivgenossenschaften; seine Ideen legten eine Basis für die Entwicklung des Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie; starb 1864 nach einem Duell. – Julius Wolf (1862–1937): österreichischer Ökonom; Professor in Zürich ab 1888; Doktorvater von Rosa Luxemburg; sie machte sich oft über ihn als einen typischen liberalen Akademiker lustig.
3. Jean-Baptiste Say (1767–1832): französischer Ökonom; argumentierte, das Angebot verursache die eigene Nachfrage, Krisen seien deshalb das Ergebnis der Disproportionalität zwischen der Branchen der Produktion, die sich durch die uneingeschränkte Wechselwirkung zwischen dem Angebot und der Nachfrage korrigieren würde; war also Vertreter des Freihandels.
4. Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 187.
Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019