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Es ist nicht das erste und hoffentlich auch nicht das letzte Mal, daß sich aus den Reihen der Partei kritische Stimmen über einzelne unserer Programmforderungen und über unsere Taktik erheben. An sich kann das nicht genug begrüßt werden. Es kommt aber dabei vor allem auf das Wie der Kritik an, und zwar verstehen wir unter dem Wie nicht den „Ton“, mit dem es in der Partei leider Mode geworden ist, bei jeder Gelegenheit Aufhebens zu machen, sondern etwas viel Wichtigeres – die allgemeinen Grundlagen der Kritik, die bestimmte Weltanschauung, die in der Kritik zum Ausdruck kommt.
Tatsächlich liegt dem Kreuzzuge Isegrim-Schippels gegen die Milizforderung und für den Militarismus eine ganz konsequente sozialpolitische Weltanschauung zugrunde.
Der allgemeinste Standpunkt, von dem Schippel in seiner Verteidigung des Militarismus ausgeht, ist die Überzeugung von der Notwendigkeit dieses militärischen Systems. Er beweist durch alle möglichen Argumente kriegstechnisch, sozialer und wirtschaftlicher Natur die Unentbehrlichkeit der stehenden Heere. Und er hat allerdings von einem gewissen Standpunkte aus recht. Das stehende Heer, der Militarismus, sind tatsächlich unentbehrlich aber für wen? Für die heutigen herrschenden Klassen und die jetzigen Regierungen. Was folgt aber daraus anderes, als daß für die heutige Regierung und die herrschenden Klassen von ihrem Klassenstandpunkt die Abschaffung der stehenden Heere und die Einführung der Miliz, das heißt die Volksbewaffnung, als ein Ding der Unmöglichkeit, als eine Absurdität erscheinen mag? Und wenn Schippel seinerseits die Miliz gleichfalls für eine Unmöglichkeit und eine Absurdität hält, so zeigt er damit nur, daß er auch selbst in der Frage des Militarismus auf bürgerlichem Standpunkte steht, daß er sie mit den Augen der kapitalistischen Regierung oder der bürgerlichen Klassen betrachtet. Dies beweisen auch deutlich alle seine einzelnen Argumente. Er behauptet, die Ausrüstung aller Bürger mit Waffen, ein Grundpfeiler des Milizsystems, wäre unmöglich, weil wir kein Geld dazu hätten, „die Kulturaufgaben leiden so schon genug“. Er geht dabei also einfach von der heutigen preußisch-deutschen Finanzwirtschaft aus, eine andere als die Miquelsche [1], zum Beispiel eine Heranziehung der kapitalistischen Klasse zu der Besteuerung in wachsendem Maße, kann er sich auch bei dem Milizsystem gar nicht vorstellen.
Schippel hält die militärische Jugenderziehung, einen anderen Grundpfeiler des Milizsystems, für unerwünscht, weil die Unteroffiziere als militärische Erzieher nach ihm den verderblichsten Einfluß auf die Jugend ausüben würden. Er geht dabei natürlich von dem heutigen preußischen Kasernenunteroffizier aus und überträgt ihn einfach in das fingierte Milizsystem als Jugenderzieher. Er erinnert mit dieser Auffassungsweise lebhaft an den Professor Julius Wolf, der einen wichtigen Einwand gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung darin sieht, daß unter ihrer Herrschaft nach seiner Berechnung eine allgemeine Steigerung des Zinsfußes eintreten würde ...
Schippel hält den heutigen Militarismus wirtschaficlich für unentbehrlich, weil er die Gesellschaft vom ökonomischen Druck „entlaste“. Kautsky gibt sich alle erdenkliche Mühe, um zu erraten, wie sich denn der Sozialdemokrat Schippel diese „Entlastung“ durch den Militarismus gedacht haben mag, und begleitet jede mögliche Deutung mit trefflichen Erwiderungen. Schippel hat aber die Sache offenbar gar nicht als Sozialdemokrat, gar nicht vom Standpunkt des arbeitenden Volkes angefaßt. Wenn er von „Entlastung“ redete, so liegt es auf der Hand, daß er an das Kapital dachte. Und darin hat er allerdings recht: für das Kapital ist der Militarismus eine der wichtigsten Anlageformen, vom Standpunkt des Kapitals ist der Militarismus allerdings eine Entlastung. Und daß Schippel hier als richtiger Vertreter der Kapitalsinteressen spricht, zeigt sich schon dadurch, daß er in diesem Punkte einen berufenen Gewährsmann gefunden hat.
„Ich behaupte, meine Herren“, wurde im Reichstag in der Sitzung vom 12. Januar 1899 gesagt, „es ist auch ganz falsch, wenn man sagt, die zwei Milliarden Reichsschulden betreffen lediglich unproduktive Ausgaben, es stehen ihnen in keiner Weise produktive Einnahmen entgegen. Ich behaupte, es gibt gar keine produktivere Anlage, als die Ausgaben für die Armee.“ [Hervorhebung – R.L.] [2] Das Stenogramm meldet dabei allerdings „Heiterkeit links“ ... Der Redner war – Freiherr von Stumm.
Es ist eben für alle Behauptungen Schippels charakteristisch, nicht sowohl daß sie an sich falsch sind, sondern daß sie den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft zur Grundlage haben; deshalb erscheint auch bei Schippel alles, vom sozialdemokratischen Gesichtspunkt gesehen, auf den Kopf gestellt: die stehende Armee unentbehrlich, der Militarismus wirtschaftlich heilsam, die Miliz unpraktisch usw.
Es ist auffallend, wie der Schippelsche Standpunkt in der Frage des Militarismus in allen Hauptpunkten mit seinem Standpunkt in der anderen wichtigsten Frage des politischen Kampfes – in der Zollpolitik, übereinstimmt.
Vor allem haben wir hier wie dort das entschiedene Ablehnen, diese oder jene Stellungnahme zur Frage mit Demokratie oder Reaktion zu verbinden. Die Behauptung, als sei Freihandel mit Fortschritt und Schutzzöllnerei mit Reaktion identisch, hieß es im Referate auf dem Stuttgarter Parteitag – sei falsch. Lange und breite geschichtliche Erinnerungen sollten beweisen, daß man sehr gut ein Freihändler und zugleich Reaktionär, dagegen Schutzzöllner und glühender Freund der Demokratie sein kann. Fast mit den gleichen Worten hören wir jetzt: „Es gibt Milizschwärmer, die das heutige Erwerbsleben mit endlos ewigen Störungen und Unterbrechungen heimsuchen und den Unteroffiziersgeist selbst bis in die letzten Schulklassen unserer Knaben und Knäblein hinein verpflanzen wollen – viel schlimmer wie der heutige Militarismus. Es gibt Gegner der Miliz, die jeder und vollends einer derartigen Überwucherung der militärisien Eingriffe und Anforderungen todfeind sind.“ [1*]
Aus der Tatsache, daß die bürgerlichen Politiker in diesen, wie in allen Fragen keine prinzipielle Stellung einnehmen, daß sie Gelegenheitspolitik treiben, folgert der Sozialdemokrat Schippel auch für sich das Recht und die Notwendigkeit, den inneren reaktionären Kern des Schutzzolles und des Militarismus, respektive die fortschrittliche Bedeutung des Freihandels und der Miliz zu verkennen, das heißt gleichfalls keine prinzipielle Stellung zu den beiden Fragen einzunehmen.
Zweitens sehen wir hier wie dort gleichzeitig mit der Opposition gegen einzelne Übel der Schutzzollpolitik, respektive des Militarismus, die entschiedene Weigerung, beide Erscheinungen als solche im ganzen zu bekämpfen. In Stuttgart hörten wir im Schippelschen Referat von der Notwendigkeit, gegen einzelne übermäßige Zölle zu kämpfen, zugleich aber die Warnung: „sich festzulegen“, „sich die Hände zu binden“, d. h., den Schutzzoll immer und überall zu bekämpfen. Jetzt hören wir, daß Schippel wohl die „parlamentarische und agitatorische Bekämpfung konkreter militärischer Forderungen“ [Hervorhebung – R.L.] [2*] gelten läßt, daß er aber davor warnt, „rein äußerliche Zufälligkeiten und sehr nebensächliche, freilich auch sehr auffällige Rückwirkungen [des Militarismus – R.L.] auf die übrigen gesellschaftlichen Gebiete für sein Wesen und seinen Kern zu nehmen“. [3*]
Endlich, drittens, dies die Grundlage der beiden obigen Standpunkte, hier wie dort die ausschließliche Abschätzung der Erscheinung vom Standpunkte der vorherigen bürgerlichen Entwicklung, das heißt von der historisch bedingten fortschrittlichen Seite und die völlige Nichtbeachtung der weiteren, bevorstehenden Entwicklung und im Zusammenhang damit auch der reaktionären Seite der behandelten Erscheinungen. Der Schutzzoll ist für Schippel immer noch das, was er zu Zeiten des seligen Friedrich List vor mehr als einem halben Jahrhundert war: der große Fortschritt über die mittelalterlich-feudale wirtschaftliche Zersplitterung Deutschlands hinaus. Daß heute bereits der allgemeine Freihandel denselben notwendigen Schritt weiter über die innere wirtschaftliche Abgrenzung der eins gewordenen Weltwirtschaft ist, daß daher die nationalen Zollschranken heute eine Reaktion sind, das existiert für Schippel nicht.
Dasselbe in der Frage des Militarismus. Er betrachtet ihn immer noch vom Standpunkte des großen Fortschritts, den die stehende Armee auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht gegen die ehemaligen Werbeheere und feudalen Armeen bedeutete. Dabei bleibt aber die Entwicklung für Schippel stehen: über das stehende Heer nur mit weiterer Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht geht ihm die Geschichte nicht hinaus.
Was bedeuten aber diese charakteristischen Standpunkte, die Schippel ebenso in der Zoll- wie in der Militärfrage einnimmt? Sie bedeuten erstens eine Politik von Fall zu Fall anstatt einer prinzipiellen Stellungnahme und im Zusammmenhang damit eine Bekämpfung bloß der Auswüchse des Zoll- respektive Militärsystems anstatt der Bekämpfung des Systems selbst. Was ist diese Politik aber anderes, als unser guter Bekannter aus der letzten Zeit der Parteigeschichte – der Opportunismus?
Es ist wieder die „praktische Politik“, die in der Isegrim-Schippelschen offenen Absage an das Milizpostulat, einen der grundlegenden Punkte unseres ganzen politischen Programms, ihre Triumphe feiert, und darin liegt vom parteipolitischen Standpunkte die eigentliche Bedeutung des Schippelschen Auftretens. Nur im Zusammenhang mit dieser ganzen Strömung und vom Gesichtspunkte der allgemeinen Grundlagen und Folgen des Opportunismus läßt sich die neueste sozialdemokratische Kundgebung zugunsten des Militarismus richtig beurteilen und abschätzen.
1*. Die Neue Zeit, 1898/99, Nr. 19, S. 580–581.
2*. Sozialistische Monatshefte, 1898, Novemberheft, S. 495.
3*. Die Neue Zeit, 1898/99, Nr. 19, S. 581.
1. Johannes von Miquel (1828–1901), von 1890 bis 1901 preußischer Finanzminister, machte in seiner Steruerreform von 1891 die Einkommensteuer zum Mittelpunkt des direkten Steuersystems, wonach Einkommen bis 900 Mark steuerfrei blieben, alle höheren dagegen bis zu höchstens 4 Prozent besteuert werden könnten.
2. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. X. Legislaturperiode. II. Session, 1898/1900, Erster Band, Berlin 1899, S. 204.
Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019