Rosa Luxemburg


Bericht an den III. Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress
in Zürich 1893 über den Stand und Verlauf der sozialdemokratischen
Bewegung in Russisch-Polen 1889–1893

(August 1893)


Bericht an den III. Internat. Socialistischen Arbeiterkongress in Zürich 1893 über den Stand und Verlauf der socialdemokratischen Bewegung in Russisch-Polen 1889–1893 [1], erstattet von der Redaktion der Zeitschrift Sprawa Robotnicza (Arbeitersache), Organ der Socialdemokraten des Königreichs Polen, o. O. u. J.
Nach Gesammelte Werke, Band 1/1, 1970, S. 5–13.
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Genossen! Es ist das erste Mal, dass die polnischen Sozialdemokraten aus dem Russland unterworfenen Teile Polens an Eurem Kongress teilnehmen.

Aus dem finstern Reiche des politischen Despotismus und der starren Reaktion senden die Arbeiter von Warschau und Łódź ihren Delegierten, der zumal der unsrige ist, teilzunehmen an dem Arbeiterparlament zweier Welten.

Wir senden Euch unsern Brudergruß und die frohe Botschaft, dass auch bei uns die sozialdemokratischen Prinzipien Wurzel gefasst haben und trotz der Verfolgungen der mit einer rohen Polizeimacht verbündeten Bourgeoisie das rote Banner der Sozialdemokratie für die polnischen Arbeitermassen zum Leitstern ihres Emanzipationskampfes geworden ist. Während Ihr im Westen von Sieg zu Sieg schreitet, führen wir im Osten, den Prinzipien der internationalen Sozialdemokratie treu, unentwegt den Kampf mit dem russischen Despotismus, diesem letzten und gewaltigsten Hort der europäischen Reaktion. Die von Grund aus verschiedenen politischen Verhältnisse zwingen uns eine der Form nach andere Kampfesweise auf. Notgedrungen hüllen wir unsere unablässige Arbeit in das Dunkel der Konspiration, gefährden beständig Freiheit und Leben und können daher nicht frei und offen wie Ihr handeln und vorläufig nur in einzelnen Fällen, wie der Maifeier, uns Eurer Kampfesweise anschließen. Selbstverständlich müssen auch die Formen und Mittel dieses Kampfes andere sein. Deshalb sind nur wenige der Beschlüsse, welche Ihr bei Euren wichtigen und fruchtbaren Beratungen fasst, in denen Ihr die Mittel und Wege erwägt, welche das Proletariat beider Welten zum erhabenen Ziele, zum Siege der sozialistischen Ideen, führen sollen, auf unsere Lage anwendbar.

Die sozialistische Bewegung im sogenannten Kongresspolen [2] datiert seit fast 15 Jahren; doch war diese Bewegung bis zu den letzten vier Jahren nicht sozialdemokratisch zu nennen. [3] Die revolutionäre Partei „Proletariat“ [4], welcher das hohe Verdienst zukommt, den ersten sozialistischen Strömungen Ausdruck gegeben und sie in ein organisches Ganzes zusammengefasst zu haben, und welche die Bewegung bis zum Jahre 1889 leitete, hat zwar formell die allgemeinen im Kommunistischen Manifest ausgedrückten Prinzipien anerkannt; doch war es nicht leicht, diese Prinzipien unter neuen Bedingungen in einem Staate, dessen politische Verhältnisse so gänzlich verschieden von denen des westlichen Europas sind, in Anwendung zu bringen. Diese Aufgabe zu lösen ist dieser Partei nicht gelungen. Dabei muss man den Einfluss im Auge behalten, welchen der heroische Kampf der russischen revolutionären Partei „Narodnaja Wolja“ auf unsere Bewegung ausüben musste. Hat doch dieser heldenmütige Zweikampf der Revolutionäre mit dem allmächtigen Alleinherrscher in ganz Europa höchste Bewunderung hervorgerufen und unwillkürlich Hoffnungen erweckt. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn die Polnische Sozialistische Partei, von dem richtigen Standpunkte des gemeinsamen Kampfes mit den russischen Revolutionären ausgehend, vollständig unter den Einfluss jener Partei geriet. Die Folge hiervon war, dass die praktische Tätigkeit und Taktik des „Proletariat“ im Widerspruch mit dem formellen Programm der Ausdruck des utopistisch verschwörerischen Blanquismus wurde.

In den Begriffen der damaligen Revolutionäre fiel der Sturz des Zarentums mit der sozialen Revolution zusammen. Ebenso wie ihre Bruderpartei „Narodnaja Wolja“ waren die damaligen Revolutionäre überzeugt, dass die Revolution durch eine Anzahl entschlossener, tatkräftiger und zielbewusster Verschwörer herbeigeführt werden kann. Der großen Masse des Proletariats wurde nur die Rolle vorbehalten, im entscheidenden Augenblicke die sozialistischen Verschwörer zu unterstützen.

Dieser Voraussetzung entsprechend war die Agitation der Partei fast ausschließlich darauf gerichtet, revolutionäre Gefühle mittelst Proklamationen und terroristischer Taten zu erwecken; an die Hebung des geistigen und materiellen Niveaus der Arbeitermasse innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung wurde wenig oder gar nicht gedacht. Man versäumte, es ganz, die vorläufigen, von dem heutigen Staate zu erzwingenden sozialen und politischen Zugeständnisse als nächstes Ziel zu betrachten, wie dies die Arbeiterparteien aller Länder tun. Die Partei beschränkte sich darauf, einzelne Individuen zu gewinnen – wodurch sie viel dazu beigetragen hat, die spätere sozialdemokratische Agitation zu erleichtern – und anderseits den Hass gegen die Despotie und die bestehende Gesellschaftsordnung unter den Massen zu wecken; die Partei arbeitete, in einem despotischen Staate lebend, direkt auf eine soziale Revolution in nächster Zeit hin. Wiederholt war die Partei gezwungen, wenn auch im Widerspruche zum Charakter ihrer Tätigkeit im allgemeinen, den sich in der Masse selbständig kundgebenden, auf ökonomische oder politische Ziele gerichteten Regungen sich anzuschließen, ebenso nahm sie an der Maifeier 1890 teil.

Um jedoch die ihm zukommende Bedeutung zu erlangen und zum wahren Ausdruck des Klassenkampfes der Arbeiter zu werden, musste der Sozialismus endgültig mit den blanquistischen Traditionen brechen und sich auf den Boden der westeuropäischen Arbeiterbewegung stellen. Diese Umwandlung in den Ansichten und der Taktik der Sozialisten begann im Jahre 1889 und führte schließlich zu einer selbständigen sozialdemokratischen Bewegung. Man sah endlich ein, dass die Rolle der sozialdemokratischen Partei darin bestehe, den im Kapitalismus mit elementarer Gewalt sich entwickelnden Kampf des Proletariats gegen die bestehende Gesellschaftsordnung zielbewusst zu leiten, dass der Kampf auf ökonomischem Gebiete um die alltäglichen Interessen der arbeitenden Klassen, der Kampf um demokratische Regierungsformen die Schule ist, welche das Proletariat unbedingt durchmachen muss, ehe es imstande ist, die heutige Gesellschaft zu stürzen. Diesen Gesichtspunkt behielt die neue Organisation bei ihrer Tätigkeit beständig im Auge.

Wie jede sozialistische Partei, war die Sozialdemokratie bei uns bemüht, die besten und tatkräftigsten Elemente der Arbeiterschaft heranzuziehen und um sich zu gruppieren; dabei war aber das Augenmerk nicht darauf gerichtet, Leiter der bevorstehenden Revolution heranzuziehen, sondern zielbewusste Agitatoren, Führer der Arbeiterklasse bei allen ihren Aufgaben und Kämpfen.

Die elende materielle Lage der schrankenlos ausgebeuteten polnischen Arbeiter musste notgedrungen einen verzweifelten ökonomischen Kampf hervorrufen; die Sozialdemokraten stellten sich an seine Spitze, verliehen ihm einen einheitlichen Plan, eine Organisation und suchten ihn zielbewusst zu machen.

In den letzten drei Jahren fanden etwa 30 Streiks statt, welche fast ebenso viele Gewerke betrafen. [5] Diese in den meisten Fällen wesentlich erfolgreichen Streiks wurden unter der tätigen Leitung der sozialdemokratischen Organisation ausgefochten. Diese Ziffer, welche im westlichen Europa kaum nennenswert sein würde, hat bei uns eine ganz besondere Bedeutung, weil die Streiks hier mehr als irgendwo ein hervorragendes Mittel, die indifferente Masse aufzurütteln, sie zum Widerstand hinzureißen, bilden. Es waren dies unsere ersten praktischen Erfolge; sie bewiesen klar und anschaulich die Bedeutung des solidarischen Klassenbewusstseins, enthüllten den prinzipiellen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat, legten den Klassencharakter der Regierung bloß, wiesen auf die unumgängliche Notwendigkeit, beide zu bekämpfen, hin. Um diesen Kampf zu regeln und zu erleichtern, musste die sozialdemokratische Partei entsprechende Organisationen ins Leben rufen. So wurden Fachvereine gegründet, welche, unmittelbare ökonomische Vorteile verfolgend, gleichzeitig festen Boden für die sozialistische Propaganda bildeten. Zu demselben Zwecke wurden Bibliotheken und Lesezirkel eingerichtet.

In den beiden Hauptzentren unserer Industrie wurden regelrechte Streikkassen angelegt, welchen Hunderte von Arbeitern beitraten. Diese Kassen haben für uns eine besondere Bedeutung, da sie direkt die alltäglichen materiellen Interessen der Arbeiter ins Auge fassten, daher in den weitesten Schichten Anklang fanden und schon durch ihre Administration ihre Mitglieder in fortwährender Bewegung erhielten, während sie andererseits treffliche Anknüpfungspunkte für die sozialistische Agitation abgaben.

Auf diese Weise wurden die Sozialdemokraten nach und nach die wirklichen Führer der Arbeiterbewegung, erlangten Popularität und Zutrauen der großen Masse.

Die von den Arbeitern angenommene entschlossene Haltung zwang der Bourgeoisie und Regierung manches Zugeständnis ab; hier und da erlangten die Arbeiter höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeit, die Regierung nahm notgedrungen die Rolle eines Beschützers der Arbeit auf sich, überwachte die Erfüllung der notdürftigsten Arbeiterschutzgesetzgebung, wodurch wenigstens den schreiendsten Übeln hie und da abgeholfen wurde; die Zahl der Fabrikinspektionskreise und der Inspektoren wurde vergrößert. Natürlich wurde auch hier wie in allen Staaten, die „Sozialpolitik von oben“ treiben, hauptsächlich der Schein gewahrt und nichts Durchgreifendes geschaffen.

Der politische Kampf wird dem Proletariat durch die Haltung der Regierung in ökonomischen Fragen aufgedrungen; denn einerseits heuchelt diese Arbeiterschutzpolitik, bietet ihm kleinliche Palliativmittelchen an, welche größtenteils auf dem Papier bleiben, anderseits sucht sie jede selbständige Regung der ausgebeuteten Klassen mit roher Polizeifaust niederzuschmettern. Die Streiks werden durch besondere Verordnungen verboten, und wenn sie trotzdem zustande kommen, sind Polizei und Militär bereit, sie niederzuhalten. Arbeitervereine und -kassen sind ebenfalls verboten, und wenn sie entdeckt werden, drohen den Beteiligten langjährige Kerkerstrafen. Jede Tatsache dieser Art ist eine neue praktische Lehre von der Notwendigkeit des politischen Kampfes für die Arbeiter und bestätigt die Lehren der Sozialdemokratie; denn jede dieser Tatsachen zeigt klar und deutlich, dass der Absolutismus eine Schranke ist, welche jede Verbesserung der heutigen Lage der arbeitenden Klasse unmöglich macht, ebenso wie er den sozialistischen Bestrebungen überhaupt im Wege steht, dass alle Anstrengungen des Proletariats darauf gerichtet sein müssen, diese Schranke zu stürzen, dass alle Kräfte daranzusetzen sind, dem Zarentum eine demokratische Konstitution abzuzwingen. Diese Losung der Sozialdemokratie, der politische Kampf, der Kampf um Rechte und Freiheiten für das arbeitende Volk, ertönt am lautesten am Tage der Maifeier.

Die Maifeier hat vom ersten Augenblicke an bei unserm Proletariat ihre volle Bedeutung gewonnen. Schon im Jahre 1890 feierten gegen zehntausend Arbeiter, hauptsächlich in Warschau, gemeinschaftlich mit den Arbeitern der ganzen Welt. Im nächsten Jahre war die Zahl schon auf 25.000 bis 30.000 gestiegen und feierten außer in Warschau die Arbeiter der Industriezentren Zyrardów und Łódź. Die Maifeier im Jahre 1892, an welcher in Łódź allein 80.000 Arbeiter die Arbeit niederlegten und welche infolge der Polizeiprovokationen so blutig endete, zog ihrerzeit die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf sich. Auch in diesem Jahre erhoben trotz des furchtbaren Aderlasses, den die Partei durch zahlreiche Verhaftungen erlitten hatte, trotz der raffinierten Grausamkeit und Spionage seitens der Regierung einige tausend Arbeiter das Banner des achtstündigen Arbeitstages, und nur dadurch, dass in den Fabrikstädten die ganze Militärmacht entfaltet wurde, gelang es, „die Ruhe aufrechtzuerhalten“.

Der Charakter und die Bedeutung der Maifeier bei uns steht der in Österreich am nächsten; doch hat sie für uns eine noch größere Bedeutung, weil sie die einzige Gelegenheit zu offener Massenmanifestation ist. Die Maifeier rüttelt die weitesten Massen des Proletariats auf und weckt sie aus ihrem tiefen Schlafe. Infolge unserer Lage kann dieselbe bei uns keine andere Form erhalten als die der Arbeitseinstellung. Diese konkrete, grelle Art der Demonstration ist allein imstande, Begeisterung hervorzurufen und Einfluss zu üben; sie trägt, wie in Österreich, den Charakter einer politischen Manifestation. Beim vollständigen Mangel an politischen Freiheiten und Rechten verbindet sie mit der Forderung des Achtstundentages die des allgemeinen Wahlrechts, des Versammlungs- und Vereinsrechts, der Freiheit des Gewissens, der Sprache, des Wortes und der Schrift. Solche Forderungen enthalten alle bei dieser Gelegenheit gedruckten Proklamationen. Schließlich ist die Maifeier die einzige konkrete Form, bei der die internationale Solidarität unsern Massen ersichtlich wird; sie ist fast die einzige Gelegenheit, bei welcher unser Proletariat sich als Glied der mächtigen internationalen Arbeiterarmee fühlen und betätigen kann.

So stellt sich die Tätigkeit unserer Sozialdemokratie in den letzten vier Jahren dar. Gestützt auf die Prinzipien der internationalen Sozialdemokratie, verfolgt sie unentwegt ihr Ziel; schwer muss jeder Schritt von ihr erkauft werden. In der kurzen Zeit von vier Jahren verloren Hunderte von Genossen die Freiheit; von den vier Maifeiern endeten zwei, ähnlich wie in Fourmies, mit einem blutigen Zusammenstoß mit dem Militär. – Im Jahre 1891 feiern die Arbeiter ruhig und ernst wie überall, das Militär greift sie an und provoziert einen blutigen Kampf. – Im nächsten Jahre liefern 80.000 Arbeiter in Łódź der Soldateska eine förmliche Schlacht, und das wiederum infolge der Provokation seitens der Polizei. Die Verhaftungen reißen fast jeden Tag Genossen aus den Reihen der Kämpfer; die Warschauer „Zitadelle“ hat oft nicht Platz genug, um alle Gefangenen aufzunehmen, und trotz dieser Opfer wird der Kampf beharrlich fortgesetzt. Es wurde ihm eben in der letzten Zeit eine neue Waffe in Gestalt der sozialdemokratischen, im Ausland erscheinenden Arbeiterzeitung Sprawa Robotnicza zu Diensten gestellt.

Die Arbeiterbewegung im Königreich Polen wurde allmählich zur wichtigsten Erscheinung unseres sozialen Lebens. Jeder historischen Tradition bar, hat sich unsere Bourgeoisie ganz der Profitwut hingegeben und um das Linsengericht des ihren materiellen Interessen von der Regierung gewährten Schutzes alle patriotischen und politischen Bestrebungen mit zynischer Offenheit preisgegeben. Der russische Absatzmarkt, der ihr erlaubt, den aus den polnischen Arbeitern erpressten Mehrwert zu realisieren, hat sie zur treuen Stütze „des Throns und Altars“ gemacht; als eine selbständige politische Macht existiert sie nicht. Das polnische Kleinbürgertum ist noch am ehesten von patriotisch-revolutionären Traditionen durchdrungen; sein Interessengegensatz zur Großindustrie, welche sich infolge der politischen Verbindung mit Russland entwickelt hat, entfacht seine patriotische Stimmung und macht es zum Schwärmer für die Unabhängigkeit Polens. Aber selbständig tätig ist das Kleinbürgertum ebensowenig wie die Großbourgeoisie. Das einzige oppositionell tätige Element in unserer Gesellschaft ist die Arbeiterklasse. Natürlicherweise sucht auch jeder politische Gedanke, jede oppositionelle Regung sie zu ihrem Träger zu machen. Auch unsere patriotische „Intelligenz“, welche auf sozialem Gebiet unbewusst kleinbürgerliche Ideale vertritt, sucht die Arbeiterbewegung ins patriotische Fahrwasser hinüberzulenken; daher die Versuche dieser „Intelligenz“ in der allerletzten Zeit, das Programm der Wiederherstellung des selbständigen polnischen Reiches mit dem sozialdemokratischen zu einer Synthese des Sozialpatriotismus zu verschmelzen. Aber der erste praktische Versuch, der Maifeier in diesem Jahre einen halbpatriotischen Charakter aufzuzwingen, scheiterte an dem energischen Widerstand der klassenbewussten sozialdemokratischen Arbeiterschaft.

Die patriotische Richtung, das Ideal eines selbständigen polnischen Reiches, hat keine Aussichten, die sozialdemokratische Arbeiterschaft für sich zu gewinnen. Die ökonomisch-soziale Geschichte der drei Teile des ehemaligen Königreiches Polen hat sie den drei großen Annexionsstaaten organisch einverleibt und in jedem besondere Bestrebungen und politische Interessen geschaffen. Bei der chronischen Überfüllung des Weltmarktes existiert und entwickelt sich heute die Großindustrie von Kongresspolen nur infolge der politischen Koexistenz mit Russland, welcher ein ökonomisches Band beider Länder entwuchs. Dieses ökonomische Band verstärkt noch beständig die russische Regierung durch tückische Politik, indem sie die polnische Industrie teils um im Interesse der Russifizierung die Kapitalistenklasse für sich zu gewinnen, teils im eigenen ökonomischen Interesse im großen und ganzen fördert. Angesichts dieser ökonomischen Verknüpfung, die in der unüberwindlichen Logik des Kapitalismus wurzelt, entbehrt die Bestrebung, einen kapitalistischen polnischen Staat ins Leben zu rufen, jeder reellen Basis. Der Patriotismus wird angesichts dieser Tatsachen zu einem Programm, welchem die subjektiven Wünsche seiner Schöpfer zur Grundlage und die unberechenbaren Eventualitäten eines europäischen Krieges als Mittel der Verwirklichung dienen. Die Unterstützung der europäischen Demokratie, auf welche unsere Patrioten rechnen, kann bei ihrer enormen moralischen Bedeutung die mangelnde materielle Basis des Programms denn doch nicht ersetzen.

Das Programm, ein selbständiges Polen wiederherzustellen, kann, da es nicht mit der Wirklichkeit rechnet, keine politische Tätigkeit schaffen, welche den Bedürfnissen des Proletariats entspricht. Ein gemeinsames politisches Minimalprogramm der Arbeiterklasse der drei polnischen Länder, deren eines eine relativ weite politische Freiheit mit allgemeinem Stimmrecht besitzt, deren zweites, im Besitz einiger kümmerlicher politischer Rechte, das allgemeine Stimmrecht erst zu erkämpfen hat, deren drittes vollends im Joch des Absolutismus sich befindet, ein solches gemeinsames Programm ist heute eine praktische Unmöglichkeit, da ja die politische Tätigkeit der Arbeiterpartei immer den gegebenen politischen Formen entsprechen muss. Jenes Programm heute als ein politisches annehmen würde soviel bedeuten, wie auf jede politische Tätigkeit verzichten zu wollen. Die Arbeiterklasse muss aber eine solche üben, sie kann nur für reelle Forderungen gewonnen werden, für solche, die schon heute einen praktischen Kampf im Namen wirklicher, naheliegender und wichtiger Bedürfnisse schaffen. Eine solche auf reellen Verhältnissen beruhende politische Aktion ist heute für das Proletariat von Galizien der ihm mit dem Proletariat von ganz Österreich gemeinsame Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Für das Proletariat von Posen und Schlesien ist das politische Programm das Zusammengehen mit der deutschen Sozialdemokratie. Für das Proletariat von Russisch-Polen ist es die seinen wirklichen Lebensverhältnissen entsprechende, dem gesamten Proletariat des russischen Reiches gemeinsame Parole – die Niederwerfung des Absolutismus. Dieses Programm ergibt sich aus den Bedürfnissen seines alltäglichen ökonomischen Kampfes ebensowohl wie aus seinen sozialistischen Bestrebungen überhaupt. Dieses Programm macht es ihm möglich, indem es ihm die Erkämpfung solcher politischen Rechte, welche am besten seinen lokalen Interessen entsprechen, zum Ziele setzt, sich gleichzeitig vor der Russifizierungspolitik der Regierung zu schützen. Dieses Programm endlich führt die Arbeiterklasse auf geradem Wege zum Triumphe des Sozialismus und nähert sie gleichzeitig demjenigen Momente, in welchem mit der definitiven Aufhebung aller Unterdrückung auch die Unterjochung der polnischen Nationalität endgültig beseitigt und aller kulturellen Bedrückung der Grund entzogen wird.

Das Programm, das sich die Niederwerfung des Zarentums zur nächsten politischen Aufgabe stellt, rechnet in seiner Verwirklichung nicht auf zufällige Umwälzungen in der europäischen Politik, es verdankt sein Bestehen nicht den Wünschen und Idealen einzelner [Personen] und abgelebter Klassen. Es ist vielmehr von dem objektiven Gang der Geschichte erzeugt, welcher die patriarchalische Bauernwirtschaft zersetzt und die materiellen Bedingungen des Zarentums dadurch untergräbt, welcher gleichzeitig den Kapitalismus entwickelt und damit die politische Macht geschaffen hat, die ihn stürzen wird – das Proletariat.

Bestrebt, in ihrem eigenen Interesse eine neue politische Form zu erringen, hat unsere Arbeiterklasse das erhabene Bewusstsein, dass sie für die gemeinsame Sache des internationalen Proletariats wirkt, dass sie durch Bekämpfung des mächtigsten Hortes der europäischen Reaktion wirklich zum Triumphe der großen Ziele beiträgt, welche heute in einem Gedanken und einem Gefühle Tausende von Genossen der ganzen Welt vereinigen.

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Anmerkungen

1. Dieser Bericht ist nicht gezeichnet. Aus einer Fußnote in Rosa Luxemburgs Artikel Der Sozialpatriotismus in Polen (siehe S. 39) geht hervor, dass sie an der Abfassung des Berichts weitgehend beteiligt war.

2. Als Kongresspolen wird das 1815 durch den Wiener Kongress geschaffene Königreich Polen bezeichnet, das bis 1915 bestand, durch Personalunion mit Russland verbunden war und unter zaristischer Herrschaft litt.

3. Im Jahre 1889 war in Warschau unter Führung der Sozialdemokraten Julian Marchlewski und Jan Leder der Verband Polnischer Arbeiter (Związek Robotników Polskich) gegründet worden. Er konzentrierte sich zunächst auf den ökonomischen Kampf, leistete eine breite Aufklärungsarbeit unter dem Proletariat und forderte das Bündnis mit den russischen Sozialdemokraten. Der Verband konstituierte sich 1893 mit einem Teil des „II. Proletariat“ zur Sozialdemokratischen Partei des Königreichs Polen (SDKP).

4. Die 1882 von Ludwik Waryński gegründete erste Sozialrevolutionäre Arbeiterpartei im Königreich Polen, genannt das „I.“ oder „Große Proletariat“, wurde 1886 in einer großen Verhaftungswelle zerschlagen.

Das von Marcin Kasprzak gegründete „II.“ oder „Kleine Proletariat“ bestand von 1888 bis 1893.

5. Seit dem 1. Mai 1890 nahm die Streikbewegung große Ausmasse an und erfasste die meisten Branchen der metallverarbeitenden und chemischen Industrie Warschaus, der Textilindustrie in Łódź, der Kohlen- und Hüttenindustrie von Dabrowa sowie die Webereien von Zyrardów. Den Höhepunkt erreichte sie im Aufstand von Łódź am 5. Mai 1892 mit etwa 80 000 Streikenden.


Zuletzt aktualisiert am 11. Februar 2025