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Das Proletariat ergreift die Staatsmacht und richtet seine revolutionäre Diktatur auf: das bedeutet, daß die Verwirklichung des Sozialismus zur Tagesfrage geworden ist. Ein Problem, auf das das Proletariat ideologisch am allerwenigsten vorbereitet war. Denn die „Realpolitik“ der Sozialdemokratie, die alle Tagesfragen immer bloß als Tagesfragen, ohne Zusammenhang mit dem Weg der Gesamtentwicklung, ohne Beziehung zu den letzten Problemen des Klassenkampfes, also ohne jemals real und konkret über den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft hinauszuweisen, behandelt hat, gab gerade dadurch dem Sozialismus in den Augen der Arbeiter wieder den Charakter einer Utopie. Die Trennung des Endzieles von der Bewegung verfälscht nicht nur die richtige Perspektive zu den Fragen des Alltags, der Bewegung, sondern verwandelt zugleich das Endziel in eine Utopie. Dieser Rückfall in den Utopismus äußert sich in sehr verschiedenen Formen. Vor allem darin, daß der Sozialismus in den Augen der Utopisten nicht als ein Werden, sondern als ein Sein erscheint. Das heißt, man untersucht die Probleme des Sozialismus – soweit sie überhaupt aufgeworfen werden – nur daraufhin, welche ökonomischen, kulturellen usw. Fragen und welche für sie günstigsten technischen usw. Lösungen möglich sind, wenn der Sozialismus bereits ins Stadium der praktischen Verwirklichung eingetreten ist. Es wird aber weder die Frage, wie eine solche Situation sozial möglich, wie sie erreicht wird, aufgeworfen, noch die, wie eine solche Situation sozial-konkret beschaffen ist, welche Klassenverhältnisse, welche Wirtschaftsformen das Proletariat in dem geschichtlichen Augenblick vorfindet, in dem es an die Aufgabe der Verwirklichung des Sozialismus herantritt. (So wie seinerzeit Fourier die Einrichtung der Phalanstères genau analysiert hat, ohne den konkreten Weg, wie sie zu verwirklichen sind, aufzeigen zu können.) Der opportunistische Eklektizismus, die Entfernung der Dialektik aus der Methode des sozialistischen Denkens, hebt also den Sozialismus selbst aus dem geschichtlichen Prozeß des Klassenkampfes heraus. Die vom Gift dieses Denkens angesteckten müssen deshalb sowohl die Voraussetzungen der Verwirklichung des Sozialismus wie die Probleme seiner Verwirklichung in einer verstellten Perspektive sehen. Diese Falschheit der Grundeinstellung geht so tief, daß sie nicht nur vom Denken der Opportunisten, für die ja der Sozialismus immer ein fernes Endziel bleibt, Besitz ergreift, sondern auch die ehrlichen Revolutionäre zu verkehrten Vorstellungen verleitet. Diese – ein großer Teil der Linken der II. Internationale – haben wohl den revolutionären Prozeß selbst, den Kampf um die Macht als Prozeß, im Zusammenhang mit den praktischen Fragen des Alltags erblickt, sie waren aber außerstande, die Lage des Proletariats nach der Machtergreifung und die konkreten Probleme, die aus dieser Lage folgen, ebenfalls in diesen Zusammenhang einzufügen. Sie sind hier ebenfalls zu Utopisten geworden.
Der großartige Realismus, mit dem Lenin während der Diktatur alle Probleme des Sozialismus behandelt hat, der selbst seinen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Gegnern Achtung abringen mußte, ist also nichts weiter als die konsequente Anwendung des Marxismus, der geschichtlich-dialektischen Betrachtungsweise auf die nunmehr aktuell gewordenen Probleme des Sozialismus. Man wird in Lenins Schriften und Reden – wie übrigens auch in den Werken von Marx – sehr wenig über den Sozialismus als Zustand finden. Um so mehr dagegen über die Schritte, die zu seiner Verwirklichung führen können. Denn wir können uns den Sozialismus als Zustand unmöglich in seinen Details konkret vorstellen. So wichtig die theoretisch zutreffende Erkenntnis seiner Grundstruktur ist, so liegt die Wichtigkeit dieser Erkenntnis vor allem darin, daß durch sie ein Maßstab für die Richtigkeit der Schritte gegeben ist, die wir ihm entgegen tun. Die konkrete Erkenntnis des Sozialismus ist – ebenso wie dieser selbst – ein Produkt des Kampfes, der um ihn geführt wird; sie läßt sich nur im Kampf um den Sozialismus, nur durch diesen Kampf erwerben. Und jeder Versuch, zu einer Erkenntnis über den Sozialismus nicht auf dem Weg dieser seiner dialektischen Wechselwirkung mit den Alltagsproblemen des Klassenkampfes zu gelangen, macht aus dieser Erkenntnis eine Metaphysik, eine Utopie, etwas bloß Anschauendes, nicht Praktisches.
Lenins Realismus, seine „Realpolitik“ ist also die endgültige Liquidierung eines jeden Utopismus, die konkret inhaltliche Erfüllung des Programmes von Marx: eine praktisch gewordene Theorie, eine Theorie der Praxis zu geben. Lenin hat mit dem Problem des Sozialismus dasselbe getan, was er mit dem Staatsproblem getan hat: er hat es der bisherigen metaphysischen Isolierung, der Verbürgerlichung entrissen und es in den Gesamtzusammenhang der Probleme des Klassenkampfes eingefügt. Er hat die genialen Andeutungen, die Marx in der Kritik des Gothaer Programmes und anderswo gegeben hat, an dem konkreten Leben des Geschichtsprozesses erprobt, sie an der geschichtlichen Wirklichkeit konkreter und erfüllter gemacht, als es im Zeitalter von Marx, selbst für ein Genie wie Marx, möglich gewesen ist.
Die Probleme des Sozialismus sind demnach die Probleme der ökonomischen Struktur und der Klassenverhältnisse im Zeitpunkt, wo das Proletariat die Staatsmacht ergreift. Sie entspringen unmittelbar aus der Lage, in der das Proletariat seine Diktatur errichtet. Sie können deshalb nur aus diesen Problemen heraus verstanden und zur Lösung geführt werden; sie enthalten aber – aus demselben Grunde – dieser Lage und allen vorangehenden Lagen gegenüber dennoch etwas prinzipiell Neues. Mögen alle ihre Elemente aus der Vergangenheit herausgewachsen sein, ihre Verknüpfung mit der Erhaltung und Befestigung der Herrschaft des Proletariats ergibt Probleme, die weder in Marx noch in anderen früher entstandenen Theorien enthalten sein konnten, die nur aus dieser wesentlich neuen Lage zu erfassen und zu lösen sind.
Die „Realpolitik“ Lenins erweist sich hiermit – wenn man auf ihren Zusammenhang und ihre Grundlegung zurückgeht – als der bisher erreichte Höhepunkt der materialistischen Dialektik. Auf der einen Seite eine streng-marxistische, schlichte und nüchterne, aber ins Allerkonkreteste gehende Analyse der gegebenen Lage, der Wirtschaftsstruktur und der Klassenverhältnisse. Auf der anderen Seite eine durch keinerlei theoretische Voreingenommenheit, durch keinen utopistischen Wunsch verstellte Klarsicht allen neuen Tendenzen gegenüber, die sich aus dieser Lage ergeben. Diese scheinbar einfache und tatsächlich aus dem Wesen der materialistischen Dialektik – die ja eine Theorie der Geschichte ist – stammende Forderung ist aber keineswegs leicht zu erfüllen. Die Denkgewohnheiten des Kapitalismus haben allen Menschen, vor allem den wissenschaftlich Orientierten, die Neigung anerzogen, das Neue stets völlig aus dem Alten, das Heutige restlos aus dem Gestrigen erklären zu wollen. (Der Utopismus der Revolutionäre ist ein Versuch, sich am eigenen Zopf aus dem Graben zu ziehen, sich mit einem Sprung in eine völlig neue Welt zu versetzen, statt das dialektische Entstehen des Neuen aus dem Alten mit Hilfe der Dialektik zu begreifen.) „Deshalb werden“, sagt Lenin, „viele und sehr viele durch den Staatskapitalismus verwirrt. Um nicht verwirrt zu werden, muß man stets an das Grundlegende denken, daß der Staatskapitalismus in der Form, wie wir ihn gegenwärtig haben, in keiner Theorie, in keiner Literatur analysiert worden ist, aus dem einfachen Grunde, weil alle Begriffe, die mit diesem Worte verknüpft sind, sich auf die bürgerliche Macht in der kapitalistischen Gesellschaft beziehen. Und wir haben einen Staat, der das kapitalistische Geleise verlassen hat und noch nicht auf das neue Geleise geraten ist.“
Was findet aber das zur Herrschaft gelangte russische Proletariat als konkrete, reale Umwelt der Verwirklichung des Sozialismus vor? Erstens einen – relativ – entwickelten Monopolkapitalismus, zusammenbrechend infolge des Weltkrieges, in einem zurückgebliebenen Bauernland, dessen Bauernschaft sich nur im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution aus den Fesseln der feudalen Überreste befreien konnte. Zweitens außerhalb Rußlands eine feindlich gesinnte kapitalistische Umwelt, die sich mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln auf den neu entstandenen Arbeiter- und Bauernstaat zu werfen gewillt ist, die auch stark genug wäre, diesen militärisch oder ökonomisch zu erdrücken, wenn sie nicht durch das immer wachsende Sichauswirken der Gegensätze des imperialistischen Kapitalismus in sich zerklüftet wäre, so daß dem Proletariate stets Gelegenheiten geboten sind, diese Rivalitäten usw. zu seinem Nutzen auszuwerten. (Freilich sind damit nur die beiden Hauptproblemkomplexe bezeichnet; auf wenigen Seiten können aber nicht einmal diese beiden erschöpfend behandelt werden.)
Die materielle Grundlage des Sozialismus als den Kapitalismus ablösende höhere Wirtschaftsform kann nur die Umorganisierung, die Höherentwicklung der Industrie sein, ihre Anpassung an die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen, ihre Umgestaltung im Sinne eines immer sinnvoller werdenden Lebens (Aufhören des Gegensatzes von Stadt und Land, von geistiger und physischer Arbeit usw.). Der Zustand dieser materiellen Grundlage des Sozialismus bedingt mithin die Möglichkeiten und Wege seiner konkreten Verwirklichung. Und hier hat Lenin – bereits im Jahre 1917, vor dem Ergreifen der Staatsmacht – die ökonomische Lage und die aus ihr entspringenden Aufgaben für das Proletariat klar bestimmt. „Die Dialektik der Geschichte ist eben diejenige, daß der Krieg, indem er die Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen ungeheuer beschleunigt hat, gerade dadurch die Menschheit dem Sozialismus ungeheuer näher gebracht hat. Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution. Und das nicht nur deshalb, weil der Krieg mit seinem Entsetzen den proletarischen Aufstand gebiert – kein Aufstand kann den Sozialismus schaffen, wenn er ökonomisch nicht gereift ist –, sondern deshalb, weil der staatsmonopolistische Kapitalismus eine vollkommene materielle Vorbereitung des Sozialismus ist, die Eingangspforte zu ihm, weil er in der historischen Leiter jene Stufe bedeutet, zwischen welcher und der folgenden Stufe, die man Sozialismus nennt, es keine zwischenliegenden Stufen gibt.“ Folglich ist „der Sozialismus nichts anderes als ein staatskapitalistisches Monopol, eingestellt zum Nutzen des ganzen Volkes und insofern kein kapitalistisches Monopol mehr“. Und anfangs 1918: „ ... der Staatskapitalismus würde bei der gegenwärtigen Lage der Dinge in unserer Räterepublik einen Schritt vorwärts bedeuten. Würde bei uns, beispielsweise, nach einem halben Jahre, der Staatskapitalismus festen Fuß fassen, so würde das einen gewaltigen Erfolg und die sicherste Gewähr dafür bedeuten, daß bei uns der Sozialismus nach einem Jahre sich endgültig etablieren und unbesiegbar sein würde.“
Diese Stellen mußten besonders ausführlich wiedergegeben werden, um der weit verbreiteten bürgerlichen und sozialdemokratischen Legende, als ob Lenin nach dem Scheitern des „doktrinär-marxistischen“ Versuches, den Kommunismus „auf einmal“ einzuführen, aus „realpolitischer Klugheit“ ein Kompromiß geschlossen hätte, von der ursprünglichen Linie seiner Politik abgewichen wäre. Gerade das Gegenteil ist die geschichtliche Wahrheit. Der sogenannte Kriegskommunismus, den Lenin eine „durch Bürgerkrieg und Zerstörung bedingte provisorische Maßnahme“ nennt, die „keine den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats entsprechende Politik war und keine sein konnte“, war die Abweichung von der Linie, auf der sich – nach seiner theoretischen Voraussicht – die Entwicklung zum Sozialismus abspielt. Freilich eine durch den inneren und äußeren Bürgerkrieg bedingte, also unvermeidliche, aber doch bloß provisorische Maßnahme. Es wäre aber, nach Lenin, für das revolutionäre Proletariat verhängnisvoll gewesen, diesen Charakter des Kriegskommunismus zu verkennen, ihn gar – wie viele ehrliche Revolutionäre, die aber nicht auf der theoretischen Höhe Lenins gestanden sind – als einen wirklichen Schritt in der Richtung auf den Sozialismus zu bewerten.
Es kommt also nicht darauf an, wie stark die äußeren Formen des Wirtschaftslebens einen sozialistischen Charakter an sich tragen, sondern ausschließlich darauf, wie weit es dem Proletariate gelingt, jenen Wirtschaftsapparat, den es mit der Machtergreifung in seinen Besitz gebracht hat, der zugleich die Grundlage seines gesellschaftlichen Seins ist, die Großindustrie, tatsächlich zu beherrschen und dieses Beherrschen tatsächlich in den Dienst seiner Klassenziele zu stellen. So sehr aber die Umwelt dieser Klassenziele und dementsprechend die Mittel ihrer Verwirklichung verändert worden sind, so mußte doch ihre allgemeine Grundlage dieselbe bleiben: mit Hilfe der Führung der – stets schwankenden – Mittelschichten (besonders der Bauern) auf der entscheidenden Front, auf der Front gegen die Bourgeoisie, den Klassenkampf weiter zu führen. Und hier darf niemals vergessen werden, daß trotz des ersten Sieges das Proletariat noch immer die schwächere Klasse geblieben ist und es noch lange Zeit – bis zu einem Siege der Revolution im Weltmaßstabe – bleiben wird. Sein Kampf hat sich also ökonomisch nach zwei Prinzipien zu richten: einerseits die Zerrüttung der Großindustrie durch Krieg und Bürgerkrieg, so rasch und so vollständig wie irgend möglich aufzuhalten, denn ohne diese Basis muß das Proletariat als Klasse zugrunde gehen. Anderseits alle Probleme der Produktion und Distribution so zu regeln, daß die Bauernschaft, die durch die revolutionäre Lösung der Agrarfrage zum Verbündeten des Proletariats geworden ist, durch die möglichste Erfüllung ihrer materiellen Interessen in diesem Bündnis erhalten bleibe. Die Mittel zur Verwirklichung dieser Ziele ändern sich nach den Umständen. Das allmähliche Durchsetzen dieser Ziele ist dieser Ziele ist aber der einzige Weg, die Herrschaft des Proletariats, die erste Voraussetzung des Sozialismus, aufrechtzuerhalten.
Der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat geht also auch an der inneren Wirtschaftsfront in unverminderter Heftigkeit weiter. Der Kleinbetrieb, den abzuschaffen, zu „sozialisieren“ in diesem Stadium ein reiner Utopismus ist, „erzeugt den Kapitalismus und die Bourgeoisie unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenmaßstab“. Es kommt darauf an, ob in diesem Wettkampf die sich neu formende, neu akkumulierende Bourgeoisie oder die vom Proletariat beherrschte staatliche Großindustrie siegreich sein wird. Diesen Wettkampf muß das Proletariat riskieren, wenn es nicht riskieren will, durch Abschnürung der Kleinbetriebe, des Handels usw. (deren wirkliche Durchführung sowieso illusorisch ist) auf die Dauer das Bündnis mit den Bauern zu lockern. Daneben tritt noch die Bourgeoisie in der Form des ausländischen Kapitals, der Konzessionen usw. in den Wettkampf ein. Hier entsteht nun die paradoxe Lage, daß diese Bewegung – einerlei, was ihre Absichten sind – objektiv-ökonomisch zum Verbündeten des Proletariats gemacht werden kann, indem durch sie die wirtschaftliche Macht der Großindustrie gestärkt wird. Es entsteht „ein Bündnis gegen die Elemente des Kleinbetriebes“. Wobei freilich anderseits die natürliche Tendenz des Konzessionskapitals, den proletarischen Staat allmählich in eine kapitalistische Kolonie zu „verwandeln, energisch bekämpft werden muß. (Konzessionsbedingungen, Außenhandelsmonopol usw.)
Es kann unmöglich die Aufgabe dieser spärlichen Anmerkungen sein, die Wirtschaftspolitik Lenins auch nur in ihren gröbsten Umrissen zu skizzieren. Das hier Angedeutete sollte nur als Beispiel dienen, um die Prinzipien der Politik Lenins, ihre theoretische Grundlage einigermaßen deutlich hervortreten zu lassen. Und dieses Prinzip ist: die Herrschaft des Proletariats in einem Universum von offenen und heimlichen Feinden, von schwankenden Verbündeten um jeden Preis aufrechtzuerhalten. So wie das Grundprinzip seiner Politik vor der Machtergreifung gewesen ist: in dem Gewirr der sich kreuzenden sozialen Tendenzen des untergehenden Kapitalismus jene Momente aufzufinden, deren Ausnützung durch das Proletariat dieses zur führenden, zur herrschenden Klasse der Gesellschaft emporzuheben imstande war. An diesem Prinzip hat Lenin sein ganzes Leben lang unerschütterlich und konzessionslos festgehalten. Er hat aber dieses Prinzip – ebenso unerbittlich konzessionslos – als ein dialektisches Prinzip festgehalten. In dem Sinne, „daß der Grundsatz der marxistischen Dialektik darin besteht, daß alle Grenzen in der Natur und in der Geschichte bedingt und beweglich sind, daß es keine einzige Erscheinung gibt, die unter gewissen Bedingungen nicht in ihr Gegenteil umschlagen könnte“. Darum erfordert „die Dialektik eine allseitige Untersuchung der betreffenden gesellschaftlichen Erscheinung in ihrer Entwicklung sowie ein Zurückführen der äußerlichen und scheinbaren Momente auf die grundsätzlichen, bewegenden Kräfte, die Entfaltung der Produktivkräfte und den Klassenkampf“ Die Größe Lenins als Dialektiker besteht darin, daß er die Grundprinzipien der Dialektik, die Entfaltung der Produktivkräfte und den Klassenkampf stets ihrem innersten Wesen nach, konkret, ohne abstrakte Voreingenommenheit, aber auch ohne fetischistisches Verwirrtsein durch Oberflächenerscheinungen klar gesehen hat. Daß er sämtliche Erscheinungen, mit denen er zu tun hatte, stets auf diese ihre letzte Grundlage: auf das konkrete Handeln konkreter (das heißt klassenmäßig bedingter) Menschen auf Grund ihrer realen Klasseninteressen zurückgeführt hat. Erst von diesem Prinzip aus gesehen zerfällt die Legende vom „klugen Realpolitiker“ Lenin, dem „Meister der Kompromisse“ um den wahren Lenin, den konsequenten Ausbauer der Marxschen Dialektik, vor uns zu enthüllen.
Vor allem muß schon bei der Begriffsbestimmung des Kompromisses jeder Sinn, als ob es sich um einen Kniff, um eine Geschicklichkeit, um ein raffiniertes Übervorteilen handeln wurde, abgewiesen werden. „Personen“ sagt Lenin, „die unter Politik kleine Tricks verstehen, die manchmal an Betrug grenzen, müssen bei uns die entschiedenste Ablehnung erfahren. Klassen können nicht betrogen werden.“ Kompromiß bedeutet also für Lenin soviel: daß reale Entwicklungstendenzen von Klassen (eventuell, wie zum Beispiel bei unterdrückten Völkern, von Nationen), die unter bestimmten Umständen, auf eine gewisse Zeitdauer, in bestimmten Fragen mit den Lebensinteressen des Proletariats parallel gehen, zu diesem Zwecke – zum Vorteile beider ausgewertet werden.
Freilich können Kompromisse auch eine Form des Klassenkampfes mit dem entscheidenden Feind der Arbeiterklasse, mit der Bourgeoisie, sein. (Man denke nur an die Beziehung Sowjetrußlands zu den imperialistischen Staaten.) Und die Theoretiker des Opportunismus klammern sich auch an diese Spezialform der Kompromisse, teils um Lenin auch hier als „undogmatischen Realpolitiker“ zu loben oder herabzusetzen, teils um damit für ihre eigenen Kompromisse einen Deckmantel zu finden. Auf das Hinfällige des ersten Arguments haben wir bereits hingewiesen, bei der Beurteilung des zweiten muß – wie bei jeder Frage der Dialektik – jene Totalität, die die konkrete Umwelt des Kompromisses bildet, berücksichtigt werden. Und hier tritt alsbald zutage, daß der Kompromiß Lenins und das der Opportunisten von direkt entgegengesetzten Voraussetzungen ausgehen. Die sozialdemokratische Taktik ist – ob eingestanden oder unbewußt – darauf begründet, daß die eigentliche Revolution noch fern ist; die objektiven Vorbedingungen der sozialen Revolution sind noch nicht da, das Proletariat ist ideologisch noch nicht reif zur Revolution, die Partei und die Gewerkschaften sind noch zu schwach usw.: darum muß das Proletariat Kompromisse mit der Bourgeoisie schließen. Je mehr die subjektiven wie objektiven Vorbedingungen der sozialen Revolution vorhanden sein werden, desto „reiner“ wird das Proletariat seine Klassenziele verwirklichen können. So daß der Kompromiß in der Praxis oft einen großen Radikalismus, ein vollständiges „Reinhalten“ der Prinzipien in bezug auf die „Endziele“ zur Kehrseite hat. (In diesem Zusammenhang können selbstredend nur jene sozialdemokratischen Theorien überhaupt berücksichtigt werden, die in irgendeiner Weise noch an der Theorie des Klassenkampfes festhalten zu müssen meinen. Denn für die anderen Anschauungen ist ja der Kompromiß gar kein Kompromiß mehr, sondern ein natürliches Zusammenarbeiten der verschiedenen Berufsschichten zum Wohle der Gesamtheit.)
Für Lenin hingegen folgt der Kompromiß direkt und logisch aus der Aktualität der Revolution. Wenn der Grundcharakter der ganzen Epoche die Aktualität der Revolution ist;, wenn diese Revolution – sowohl in jedem einzelnen Lande wie im Weltmaßstabe – jeden Augenblick ausbrechen kann, ohne daß dieser Augenblick je genau vorausbestimmbar sein könnte; wenn der revolutionäre Charakter der ganzen Epoche sich in der ständig steigenden Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft offenbart, was zur notwendigen Folge hat, daß die verschiedenartigsten Tendenzen sich ununterbrochen abwechseln und kreuzen: so bedeutet all dies, daß das Proletariat seine Revolution nicht unter selbstgewählten, „günstigsten“ Bedingungen beginnen und vollführen kann, daß dementsprechend jede Tendenz, die, wenn auch noch so vorübergehend, die Revolution fördern oder wenigstens die Feinde der Revolution schwächen kann, unter allen Umständen von ihm ausgenützt werden muß. Wir haben früher einige Aussprüche Lenins angeführt, aus denen ersichtlich ist, wie wenig Illusionen er – noch vor der Machtergreifung – in bezug auf das Tempo der Verwirklichung des Sozialismus gehabt hat. Folgende Sätze aus einem seiner letzten Aufsätze, nach der Periode der „Kompromisse“ geschrieben, zeigen aber ebenso deutlich, daß diese Voraussicht für ihn niemals ein Verschieben des revolutionären Handelns bedeutet hat. „Napoleon schrieb: ‚On s’engage et puis on voit.‘ In freier Übersetzung heißt das. „Man muß zunächst einen ernsten Kampf aufnehmen, dann wird schon das weitere ersichtlich“. So haben wir auch zunächst einen ernsten Kampf im Oktober 1917 aufgenommen, und dann wurden schon einige solcher Einzelheiten ersichtlich (vom Gesichtspunkt der Weltgeschichte sind es zweifellos Einzelheiten), wie der Brester Frieden oder die „neue ökonomische Politik““ usw. Die Leninsche Theorie und Taktik der Kompromisse ist also nur die sachlich-logische Folge aus der marxistischen, der dialektischen Geschichtserkenntnis, daß die Menschen zwar ihre Geschichte selbst machen, sie aber nicht unter selbstgewählten Umständen machen können. Sie ist eine Folge der Erkenntnis, daß die Geschichte stets Neues produziert; daß deshalb diese geschichtlichen Augenblicke, momentane Kreuzungspunkte von Tendenzen, nie in derselben Gestalt wiederkehren; daß Tendenzen heute für die Revolution ausgewertet werden können, die morgen eine Lebensgefahr für diese bedeuten würden und umgekehrt. So will Lenin am 1. September 1917 den Menschewiki und S.R. auf Grund der alten bolschewistischen Parole „Alle Macht den Räten“ ein gemeinsames Vorgehen, ein Kompromiß anbieten. Jedoch bereits am 17. September schreibt er: „Am Ende ist das Anerbieten eines Kompromisses schon verspätet. Vielleicht sind die wenigen Tage, im Laufe deren die friedliche Entwicklung noch möglich war, ebenfalls vorüber. ja, nach allem ist es evident, daß sie schon vorbei sind.“ Die Anwendung dieser Theorie auf Brest-Litowsk, auf die Konzessionen usw. ergibt sich von selbst.
Wie sehr die ganze Leninsche Theorie der Kompromisse auf seine Grundanschauung von der Aktualität der Revolution begründet ist, zeigt sich vielleicht noch schärfer in seinen theoretischen Kämpfen gegen den linken Flügel seiner eigenen Partei (nach der ersten Revolution und nach dem Brester Frieden im russischen, in den Jahren 1920 und 1921 im europäischen Maßstab). In allen diesen Debatten war die prinzipielle Ablehnung eines jeden Kompromisses die Parole des Links-Radikalismus. Und die Polemik Lenins geht wesentlich darauf hinaus, daß in dem Ablehnen eines jeden Kompromisses ein Ausweichen vor den entscheidenden Kämpfen enthalten ist, daß dieser Anschauung ein Defaitismus der Revolution gegenüber zugrunde liegt. Denn die echte revolutionäre Lage – und dies ist nach Lenin der Grundzug unserer Epoche – äußert sich darin, daß es kein Feld des Klassenkampfes geben kann, wo nicht revolutionäre (oder konterrevolutionäre) Möglichkeiten vorhanden wären. Der echte Revolutionär also, derjenige, der es weiß, daß wir in einer revolutionären Epoche leben und praktisch die Konsequenzen dieser Erkenntnis zieht, muß stets das Ganze der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit von diesem Standpunkt betrachten und im Interesse der Revolution alles, das Größte und Kleinste, das Gewohnte und Überraschende je nach ihrer Wichtigkeit für die Revolution – aber nur danach – intensiv berücksichtigen. Wenn Lenin den Links-Radikalismus zuweilen einen Links-Opportunismus genannt hat, so hat er damit sehr richtig und tief auf die gemeinsame Geschichtsperspektive dieser beiden sonst so entgegengesetzten Strömungen, deren eine ein jeder Kompromiß verpönt, deren andere im Kompromiß das Prinzip der „Realpolitik“ im Gegensatz zum „starren Festhalten an dogmatischen Prinzipien“ erblickt, hingewiesen: auf einen Pessimismus in bezug auf Nähe und Aktualität der proletarischen Revolution. Aus dieser Art, wie er beide Tendenzen von dem gleichen Prinzip aus ablehnt, zeigt es sich, daß der Kompromiß bei Lenin und bei den Opportunisten nur dasselbe Wort ist, das aber bei jedem auf eine grundverschiedene Wirklichkeit bezogen wird und deshalb bei jedem einen grundverschiedenen Begriff deckt.
Eine richtige Erkenntnis darüber, was Lenin unter Kompromiß verstanden, wie er die Taktik der Kompromisse theoretisch fundiert hat, ist nicht nur von grundlegender Bedeutung für das zutreffende Verständnis seiner Methode, sondern auch praktisch von sehr weittragender Wichtigkeit. Der Kompromiß ist bei Lenin nur in der dialektischen Wechselwirkung mit dem Festhalten an den Prinzipien und der Methode des Marxismus möglich; im Kompromiß zeigt sich stets der nächste reale Schritt der Verwirklichung der Theorie des Marxismus. Wie also diese Theorie und Taktik sich von der mechanischen Starrheit eines Festhaltens an „reinen“ Prinzipien scharf abheben, so müssen sie auch von jeder prinzipienlos schematisierenden „Realpolitik“ streng ferngehalten werden. Das heißt, es reicht für Lenin nicht aus, daß die konkrete Lage, in der gehandelt wird, die konkreten Kräfteverhältnisse, die den Kompromiß bestimmen, die Tendenz der notwendigen Weiterentwicklung der proletarischen Bewegung, die ihre Richtung bedingt, in ihrer Tatsächlichkeit richtig erkannt und bewertet werden, sondern er betrachtet es als eine ungeheure praktische Gefahr für die Arbeiterbewegung, wenn solche richtigen Erkenntnisse der Tatsächlichkeit nicht in einen Rahmen der allgemein richtigen Erkenntnis des ganzen Geschichtsprozesses eingefügt werden. So hat er das praktische Verhalten der deutschen Kommunisten zu der nach dem Niederwerfen des Kapp-Putsches geplanten „Arbeiterregierung“, die sogenannte loyale Opposition als richtig anerkannt, hat aber zugleich aufs schärfste gerügt, daß diese richtige Taktik mit einer theoretisch falschen – von demokratischen Illusionen erfüllten Geschichtsperspektive begründet wurde.
Die dialektisch richtige Vereinigung des Allgemeinen und des Besonderen, die Erkenntnis des Allgemeinen (der allgemeinen Grundtendenz der Geschichte) im Besonderen (in der konkreten Lage), das daraus entspringende Konkretwerden der Theorie ist also der Grundgedanke dieser Theorie der Kompromisse. Diejenigen, die in Lenin bloß einen klugen oder eventuell sogar genialen „Realpolitiker“ erblicken, verkennen das Wesen seiner Methode durchaus. Aber diejenigen, die in seinen Entscheidungen überall anwendbare „Rezepte“, „Vorschriften“ für ein richtiges praktisches Handeln zu finden vermeinen, verkennen ihn erst recht. Lenin hat nie „allgemeine Regeln“ aufgestellt, die auf eine Reihe von Fällen „angewendet“ werden könnten. Seine „Wahrheiten“ entwachsen der konkreten Analyse der konkreten Lage mit Hilfe der dialektischen Geschichtsbetrachtung. Aus einer mechanischen „Verallgemeinerung“ seiner Winke oder Entscheidungen kann nur eine Karikatur, ein Vulgär-Leninismus entstehen; so zum Beispiel bei jenen ungarischen Kommunisten, die bei völlig verschiedener Lage, bei der Beantwortung der Clemenceau-Note im Sommer 1919, den Brester Frieden schematisch nachzuahmen versucht haben. Denn, wie Marx bei Lasalle scharf tadelt: „ ... die dialektische Methode wird falsch angewandt. Hegel hat nie die Subsumption einer Masse von „Fällen“ under a general principle (unter ein allgemeines Prinzip) Dialektik genannt.“
Die Berücksichtigung aller vorhandenen Tendenzen in der jeweiligen konkreten Lage bedeutet aber keineswegs, daß diese Tendenzen nun mit gleichem Gewicht in die Waagschale der Entscheidung fallen. Im Gegenteil. Jede Lage hat ein zentrales Problem, von dessen Entscheidung sowohl die der gleichzeitigen anderen Fragen wie die Weiterentwicklung aller gesellschaftlichen Tendenzen in der Zukunft abhängt. „Man muß es verstehen“, sagt Lenin, „in jedem Augenblick jenes besondere Glied der Kette zu ergreifen, an das man sich mit allen Kräften klammern muß, um die ganze Kette festzuhalten und den festen Übergang zum nächsten Gliede der Kette vorzubereiten, wobei die Reihenfolge der Glieder, ihre Form, ihre Verkettung, ihr Unterschied voneinander in der historischen Kette der Ereignisse nicht so einfach und sinnlos sind wie bei einer gewöhnlichen, von einem Schmiede angefertigten Kette.“ Welches Moment des gesellschaftlichen Lebens im gegebenen Augenblick zu einer solchen Bedeutung erwächst, kann sich nur aus der marxistischen Dialektik, aus der konkreten Analyse der konkreten Lage ergeben. Der Leitfaden, mit dem es gefunden werden kann, ist aber die revolutionäre Betrachtung der Gesellschaft, als eines sich im Prozeß befindenden Ganzen. Denn nur diese Beziehung zum Ganzen erhebt das jeweilige entscheidende Kettenglied zu dieser Bedeutung: es muß ergriffen werden, weil nur auf diese Weise das Ganze ergriffen wird. So hebt Lenin, ebenfalls in einem seiner letzten Aufsätze, wo er von den Genossenschaften spricht und darauf hinweist, daß „vieles davon, was in den Träumen der alten Genossenschaftler phantastisch oder selbst übelriechend romantisch war, die nackteste Wirklichkeit geworden“ ist, dieses Problem besonders scharf und konkret hervor. Er sagt: „Eigentlich bleibt uns ‚nur‘ das eine übrig: unsere Bevölkerung so „zivilisiert“ zu machen, daß sie alle Vorteile der persönlichen Beteiligung an der Kooperation begreift und zu dieser Beteiligung schreitet. ‚Nur‘ so viel. Keiner anderen Spitzfindigkeiten bedürfen wir jetzt, um zum Sozialismus überzugehen. Aber um dieses ‚Nur‘ zu vollbringen, dazu ist ein ganzer Umschwung, eine ganze Strecke der kulturellen Entwicklung der ganzen Volksmasse notwendig.“ Es ist hier leider nicht möglich, den ganzen Aufsatz ausführlich zu analysieren. Eine solche Analyse – und zwar die eines beliebigen taktischen Winkes von Lenin – würde zeigen, wie in jedem solchen „Kettengliede“ stets das Ganze enthalten ist. Daß das Kriterium der richtigen marxistischen Politik darin liegt, stets jene Momente aus dem Prozesse herauszuheben und die größte Energie auf sie zu konzentrieren, welche Momente – im gegebenen Augenblick, in der gegebenen Phase – diese Beziehung zum Ganzen, zum Ganzen der Gegenwart und zum zentralen Entwicklungsproblem der Zukunft, also auch zur Zukunft in ihrer praktisch-ergreifbaren Ganzheit in sich bergen. Dieses energische Anfassen des nächsten, des entscheidenden Kettengliedes bedeutet also keineswegs, daß nun dieses Moment aus dem Ganzen herausgerissen würde und die anderen Momente seinetwegen vernachlässigt werden sollten. Im Gegenteil. Es bedeutet, daß alle anderen Momente, in Beziehung auf dieses zentrale Problem gebracht, in dieser Beziehung richtig verstanden und gelöst werden. Der Zusammenhang aller Probleme miteinander wird durch diese Auffassung nicht gelockert, sondern im Gegenteil intensiver und konkreter gemacht.
Diese Momente werden vom Geschichtsprozeß, von der objektiven Entwicklung der Produktionskräfte hervorgebracht. Es hängt aber vom Proletariate ab, ob und wie weit es sie zu erkennen, zu ergreifen und dadurch ihre Weiterentwicklung zu beeinflussen imstande sein wird. Der grundlegende, bereits öfter angeführte Satz des Marxismus, daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen, erhält im Zeitalter der Revolution, nach der Ergreifung der Staatsmacht eine sich stets steigernde Bedeutung; wenn auch selbstredend seine dialektische Ergänzung durch die Bedeutung der nicht selbstgewählten Umstände zu seinem Wahrbleiben unerläßlich ist. Das bedeutet praktisch, daß die Rolle der Partei in der Revolution – der große Gedanke des jungen Lenin – im Zeitalter des Überganges zum Sozialismus noch größer und entscheidender wird, als sie es in der vorbereitenden Epoche gewesen ist. Denn je größer der aktive, den Gang der Geschichte bestimmende Einfluß des Proletariats wird, je schicksalhafter – im guten wie im schlechten Sinne – die Entscheidungen des Proletariats für sich und für die ganze Menschheit werden, desto wichtiger bleibt es, den einzigen Kompaß auf diesem wilden, sturmbewegten Meer, das Klassenbewußtsein des Proletariats in reiner Gestalt zu bewahren; diesen Geist, den einzig möglichen Führer im Kampfe, zu immer wachsender Klarheit heranzubilden. Diese Bedeutung der aktiv-geschichtlichen Rolle der Partei des Proletariats ist ein Grundzug der Theorie und deshalb der Politik Lenins, den er nicht müde wird, immer wieder hervorzuheben und seine Bedeutung für die praktischen Entscheidungen zu betonen. So sagt er am XI. Parteitag der R.K.P., als er die Gegner der staatskapitalistischen Entwicklung bekämpft hat: „Der Staatskapitalismus ist jener Kapitalismus, den zu beschränken, dessen Grenzen festzustellen wir imstande sein werden; dieser Staatskapitalismus ist mit dem Staate verbunden, und der Staat, das sind Arbeiter, der vorgeschrittenste Teil der Arbeiter, die Avant-Garde, das sind wir... Und das hängt schon von uns ab, wie dieser Staatskapitalismus sein wird.“
Darum ist jeder Wendepunkt in der Entwicklung zum Sozialismus stets und in entscheidender Weise zugleich ein inneres Problem der Partei. Eine Umgruppierung der Kräfte, eine Anpassung der Parteiorganisationen an die neue Aufgabe: die Entwicklung der Gesellschaft in dem Sinne zu beeinflussen, den die sorgsame und genaue Analyse des Ganzen vom Klassenstandpunkt des Proletariats ergibt. Darum steht in der Rangordnung der entscheidenden Mächte im Staate – der wir sind – die Partei auf der allerhöchsten Stufe. Darum ist aber diese Partei selbst da die Revolution nur im Weltmaßstabe siegen kann, da das Proletariat nur als Weltproletariat sich wirklich zur Klasse konstituiert – als Sektion dem höchsten Organ der proletarischen Revolution, der kommunistischen Internationale eingeordnet und untergeordnet. Die mechanistische Starrheit des Denkens, die alle Opportunisten und Bürgerlichen kennzeichnet, wird in solchen Verknüpfungen stets unlösbare Widersprüche sehen. Sie wird nicht verstehen, wieso die Bolschewiki, nachdem sie „zum Kapitalismus zurückgekehrt“ sind, dennoch an der alten Parteistruktur, an der alten „undemokratischen“ Diktatur der Partei festhalten. Sie wird nicht verstehen, wieso die kommunistische Internationale keinen Augenblick auf die Weltrevolution verzichtet, ja sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln vorzubereiten und zu organisieren trachtet, während der Staat des russischen Proletariats gleichzeitig seinen Frieden mit den imperialistischen Mächten; die möglichste Beteiligung des imperialistischen Kapitalismus am wirtschaftlichen Aufbau Rußlands zu fördern versucht. Sie wird nicht verstehen, wieso die Partei an ihrem inneren strengen Charakter unerbittlich festhält und ihre ideologische und organisatorische Festigung mit den energischesten Mitteln betreibt, während die Wirtschaftspolitik der Räterepublik ängstlich darüber wacht, daß jenes Bündnis mit den Bauern, dem sie ihr Bestehen verdankt, nicht gelockert werde, während die Räterepublik in den Augen der Opportunisten immer mehr zu einem Bauernstaat wird, immer mehr ihren proletarischen Charakter verliert usw. usw. Die mechanische Starrheit des undialektischen Denkens vermag es nicht zu fassen, daß diese Widersprüche objektive, seiende Widersprüche des gegenwärtigen Zeitalters sind; daß die Politik der R.K.P. die Politik Lenins nur insofern widerspruchsvoll ist, als sie die dialektisch richtigen Antworten auf die objektiven Widersprüche ihres eigenen gesellschaftlichen Seins sucht und findet.
So führt uns die Analyse der Politik Lenins stets zu den Grundfragen der dialektischen Methode zurück. Sein ganzes Lebenswerk ist die konsequente Anwendung der Marxschen Dialektik auf die ununterbrochen wechselnden, stets Neues hervorbringenden Erscheinungen eines ungeheuren Übergangszeitalters. Da aber die Dialektik keine fertige Theorie ist, die mechanisch auf die Erscheinungen des Lebens angewendet werden könnte, sondern nur in dieser Anwendung, durch diese Anwendung als Theorie existiert, ist die dialektische Methode aus der Praxis Lenins erweiterter, erfüllter und theoretisch entwickelter hervorgegangen, als er sie aus der Erbschaft von Marx und Engels übernommen hat.
Es ist deshalb vollkommen berechtigt, vom Leninismus als einer neuen Phase in der Entwicklung der materialistischen Dialektik zu sprechen. Lenin hat nicht nur die Reinheit der Marxschen Lehre nach einer jahrzehntelangen Verflachung und Entstellung, die der Vulgärmarxismus zustande gebracht hat, wie konkreter und reifer gemacht. Wenn es aber nun zur Aufgabe der Kommunisten wird, auf dem Pfade des Leninismus weiter zu gehen, so kann dieses Weitergehen nur dann fruchtbar werden, wenn sie sich zu Lenin so zu verhalten versuchen, wie sich Lenin selbst zu Marx verhalten hat, Art und Inhalt dieses Verhaltens sind von der Entwicklung der Gesellschaft, von den Problemen und Aufgaben, die der Geschichtsprozeß dem Marxismus stellt, sein Gelingen von der Höhe des proletarischen Klassenbewußtseins in der führenden Partei des Proletariats bestimmt. Der Leninismus bedeutet, daß die Theorie des historischen Materialismus den Tageskämpfen des Proletariats noch näher gerückt ist, noch praktischer geworden ist, als sie es zu Marx’ Zeiten sein konnte. Die Tradition des Leninismus kann also nur darin bestehen, diese lebendige und lebenspendende, diese wachsende und das Wachstum fördernde Funktion des historischen Materialismus unverfälscht und unerstarrt zu bewahren. Darum muß – wir wiederholen – Lenin von den Kommunisten so studiert werden, wie Marx von Lenin studiert wurde. Studiert, um die dialektische Methode handhaben zu lernen. Um zu erlernen: wie durch die konkrete Analyse der konkreten Lage im Allgemeinen das Besondere und im Besonderen das Allgemeine; im neuen Moment einer Situation das, was es mit dem bisherigen Prozeß verbindet und in der Gesetzlichkeit des Geschichtsprozesses das immer wieder entstehende Neue; im Ganzen der Teil und im Teil das Ganze; in der Notwendigkeit der Entwicklung das Moment des aktiven Handelns und in der Tat die Verknüpfung mit der Notwendigkeit des Geschichtsprozesses gefunden werden kann. Der Leninismus bedeutet eine bisher unerreichte Stufe des konkreten, nicht schematischen, nicht mechanischen, rein auf Praxis gerichteten Denkens. Dies zu erhalten ist die Aufgabe der Leninisten. Aber in dem Geschichtsprozeß kann sich nur das sich lebendig Entwickelnde erhalten. Und ein solches Erhalten der Tradition des Leninismus bedeutet heute die vornehmste Aufgabe eines jeden, der die dialektische Methode als Waffe im Klassenkampf des Proletariats ernst nimmt.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003