Georg Lukács

 

Lenin

 

III. Die führende Partei des Proletariats

Die geschichtliche Aufgabe des Proletariats ist also: sich aus jeder ideologischen Gemeinschaft mit den anderen Klassen herauszulösen, auf der Grundlage der Eigenart seiner Klassenlage und der daraus entspringenden Selbständigkeit seiner Klasseninteressen sein klares Klassenbewußtsein zu finden. Erst auf diese Weise wird es fähig, alle Unterdrückten und Ausgebeuteten der bürgerlichen Gesellschaft in den gemeinsamen Kampf gegen ihre wirtschaftlichen und politischen Herrscher zu führen. Die objektive Grundlage dieser führenden Rolle des Proletariats ist seine Stellung im Produktionsprozeß des Kapitalismus. Es wäre jedoch eine mechanische Anwendung des Marxismus und darum ein völlig unhistorischer Illusionismus, sich nun vorzustellen, als ob das richtige, zur Führung befähigende Klassenbewußtsein im Proletariate allmählich, reibungs- und rückfallslos, von selbst entstehen; als ob das Proletariat ideologisch in seinen klassenmäßig-revolutionären Beruf hineinwachsen könnte. Die Unmöglichkeit des ökonomischen Hineinwachsens des Kapitalismus in den Sozialismus haben die Bernstein-Debatten klar erwiesen. Das ideologische Gegenstück dieser Lehre ist aber trotzdem im Denken vieler ehrlicher Revolutionäre Europas unwiderlegt wirksam geblieben, ja ist nicht einmal als Problem und Gefahr erkannt worden. Nicht als ob die Besten von ihnen die Existenz und die Bedeutung dieses Problems ganz verkannt; als ob sie nicht gesehen hätten, daß der endgültige Sieg des Proletariats über einen langen Weg durch viele Niederlagen hindurchführt, daß dabei nicht nur materielle, sondern auch ideologische Rückfälle hinter eine bereits erreichte Stufe unvermeidlich sind. Sie wußten – um die Formulierung Rosa Luxemburgs anzuführen daß die proletarische Revolution, die ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen nach gar nicht mehr „zu früh“ kommen kann, in bezug auf die Festhaltung der Gewalt (also ideologisch) notwendig „zu früh“ stattfinden muß. Wenn jedoch auch bei dieser Geschichtsperspektive über den Weg des Proletariats zu seiner Befreiung die Anschauung vertreten wird, daß eine spontan-revolutionäre Selbsterziehung der proletarischen Massen (durch Massenaktionen und ihre Erfahrungen), unterstützt von einer theoretisch richtigen Agitation, Propaganda usw. der Partei, ausreicht, um die hier nötige Entwicklung zu garantieren, so ist man doch in irgendeiner Weise bei dem ideologischen Hineinwachsen des Proletariats in seinen revolutionären Beruf stehengeblieben.

Lenin war der erste – und lange Zeit der einzige – bedeutende Führer und Theoretiker, der dieses Problem von der theoretisch zentralen und darum von der praktisch entscheidenden Seite in Angriff nahm: von der Seite der Organisation. Der Streit um den § I des Organisationsstatuts auf dem Brüssel-Londoner Kongreß 1903 ist heute schon allgemein bekannt. Er drehte sich um die Frage, ob derjenige Mitglied der Partei sein könne, der sie unterstützt und unter ihrer Kontrolle arbeitet (wie die Menschewiki es wollten), oder ob die Teilnahme an den illegalen Organisationen, das Aufgehen mit der ganzen Existenz in der Parteiarbeit, die völlige Unterordnung unter die – als sehr streng konzipierte – Parteidisziplin hierzu unerläßlich sei. Die anderen organisatorischen Fragen, z.B. Zentralisation, sind nur die notwendigen sachlichen Folgen dieser Stellungnahme.

Auch dieser Streit kann nur aus dem Widerstreit der beiden Grundanschauungen über Möglichkeit, wahrscheinlichen Ablauf, Charakter usw. der Revolution verstanden werden; obwohl alle diese Zusammenhänge damals Lenin allein durchschaut hatte.

Der bolschewistische Organisationsplan hebt eine Gruppe von zielklaren, zu jedem Opfer bereiten Revolutionären aus der mehr oder weniger chaotischen Masse der Gesamtklasse heraus. Ist damit nicht die Gefahr heraufbeschworen, daß diese „Berufsrevolutionäre“ sich vom wirklichen Leben der Klasse ablösen und in dieser Trennung zur Verschwörergruppe, zur Sekte ausarten? Ist dieser Organisationsplan nicht nur die praktische Folge jenes „Blanquismus“, den die „scharfsinnigen“ Revisionisten sogar bei Marx entdecken zu können meinten? Es kann hier nicht untersucht werden, wie weit dieser Vorwurf selbst Blanqui gegenüber fehlgeht. Den Kern der Leninschen Organisation trifft er schon darum nicht, weil die Gruppe der Berufsrevolutionäre nach Lenin keinen Augenblick die Aufgabe hat, die Revolution „zu machen“ oder durch ihre selbständige, mutige Aktion die untätige Masse mitzuziehen, vor ein revolutionäres fait accompli zu stellen. Der Organisationsgedanke Lenins setzt die Tatsache der Revolution, die Aktualität der Revolution voraus. Hätten die Menschewiki in ihrer historischen Voraussicht recht behalten, wären wir einer – relativ – ruhigen Zeit der Prosperität und der langsamen Ausbreitung der Demokratie entgegengegangen, wo höchstens in den rückständigen Ländern die feudalen Überreste vom „Volk“, von den „progressiven“ Klassen hinweggeschwemmt werden, so hätten die Gruppen der Berufsrevolutionäre notwendig in Sektenhaftigkeit erstarren oder zu bloßen Propagandazirkeln werden müssen. Die Partei als straff zentralisierte Organisation der bewußtesten Elemente des Proletariats – und nur dieser – ist als Instrument des Klassenkampfes in einer revolutionären Zeit gedacht. „Man kann nicht“ – sagt Lenin „mechanisch das Politische vom Organisatorischen trennen, und wer die bolschewistische Parteiorganisation unabhängig von der Frage, ob wir in der Zeit der proletarischen Revolutionen leben, bejaht oder verneint, hat von ihrem Wesen sicher gar nichts verstanden.“

Es könnte aber – von ganz entgegengesetzter Seite – der Einwand auftauchen: gerade die Aktualität der Revolution macht eine derartige Organisation überflüssig. Es mag in der Zeit des Stillstandes der revolutionären Bewegung nützlich gewesen sein, die Berufsrevolutionäre organisatorisch zusammenzufassen. Jedoch in den Jahren der Revolution selbst, wenn die Massen aufs tiefste aufgewühlt sind, wenn sie in Wochen, ja in Tagen mehr revolutionäre Erfahrungen sammeln, reifer werden, als sonst in Jahrzehnten, wenn sogar jene Teile der Klasse, die sich sonst nicht einmal durch ihre unmittelbarsten Tagesvorteile in die Bewegung einbeziehen lassen, revolutionär auftreten, ist eine solche Organisation unnütz und sinnlos. Sie verschwendet brauchbare Energien; sie hemmt, wenn sie zu Einfluß gelangt, die spontane, revolutionäre Produktivität der Massen.

Es ist klar: dieser Einwand führt wieder zum Problem des ideologischen Hineinwachsens zurück. Das Kommunistische Manifest bezeichnet sehr klar die Beziehung der revolutionären Partei des Proletariats zur Gesamtklasse. „Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, anderseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“ Sie sind – mit anderen Worten – das zur sichtbaren Gestalt gewordene Klassenbewußtsein des Proletariats. Und die Frage ihrer Organisation entscheidet sich nach der Voraussicht, wie das Proletariat dieses, sein eigenes Klassenbewußtsein wirklich erringt und sich völlig zu eigen macht. Daß dies nicht von selbst, nicht durch das mechanische Sichauswirken der ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion, noch durch das schlicht organische Wachstum der Massenspontaneität geschieht, nimmt jeder an, der die revolutionäre Funktion der Partei nicht unbedingt leugnet. Der Unterschied zwischen der Leninschen Parteikonzeption und den andern beruht vor allem darauf, daß er einerseits die ökonomische Differenzierung innerhalb des Proletariats (die Entstehung der Arbeiteraristokratie usw.) tiefer und folgenschwerer erfaßt als die anderen, und daß er anderseits die revolutionäre Zusammenarbeit des Proletariats mit den anderen Klassen in der geschilderten neuen Geschichtsperspektive erblickt. Daraus folgt eine gesteigerte Bedeutung des Proletariats in der Vorbereitung und Führung der Revolution und daraus wiederum die führende Funktion der Partei der Arbeiterklasse gegenüber.

Das Entstehen und die wachsende Bedeutung der Arbeiteraristokratie heißt von diesem Standpunkt so viel, daß die stets vorhandene – relative – Divergenz der unmittelbaren Tagesinteressen gewisser Arbeiterschichten von den wirklichen Interessen der ganzen Klasse immer wächst und sich in diesem Wachstum versteinert. Die kapitalistische Entwicklung, die anfangs die örtlich, zünftlerisch usw. getrennte Arbeiterklasse gewaltsam nivelliert und vereinigt hat, schafft jetzt eine neue Differenzierung. Und diese Differenzierung hat nicht nur zur Folge, daß das Proletariat nunmehr nicht in ganz einheitlicher Feindschaft der Bourgeoisie gegenübersteht. Es entsteht daneben noch die Gefahr, daß diese Schichten, denen ihr Aufstieg zu einer kleinbürgerlichen Lebenshaltung, ihr Besetzen der Stellungen in der Partei- und Gewerkschaftsbureaukratie, stellenweise der Munizipalposten usw. – trotz oder gerade wegen – ihrer verbürgerlichten Ideologie, ihres Mangels an Reife des proletarischen Klassenbewußtseins eine Überlegenheit an formaler Bildung, Verwaltungsroutine usw. vor den übrigen proletarischen Schichten geben, die ganze Klasse in rückständiger Weise ideologisch zu beeinflussen imstande sein werden. Das heißt, daß sie durch ihren Einfluß in den Organisationen des Proletariats das Klassenbewußtsein aller Arbeiter zu verdunkeln helfen, es in der Richtung auf ein stillschweigendes Bündnis mit der Bourgeoisie beeinflussen.

Gegen diese Gefahr können bloße theoretische Klarheit, entsprechende Agitation und Propaganda der revolutionär klaren Gruppen nicht aufkommen. Denn diese Interessengegensätze äußern sich sehr lange nicht in einer für alle Arbeiter sichtbaren Form, so sehr, daß sogar ihre ideologischen Vertreter zuweilen keine Ahnung davon haben, daß sie bereits von dem Wege der Gesamtklasse abgewichen sind. Darum können solche Differenzen sehr leicht als „theoretische Meinungsverschiedenheiten“, als bloß „taktische Differenzen“ usw. vor den Arbeitern verschleiert werden. Und der revolutionäre Instinkt der Arbeiter, der sich zuweilen in großen spontanen Massenaktionen entladet, bleibt außerstande, die unbewußt-handelnd erreichte Höhe des Klassenbewußtseins als dauerndes Gut für die ganze Klasse festzuhalten.

Schon aus diesem Grunde ist die organisatorische Selbständigkeit der völlig bewußten Elemente der Klasse unerläßlich. Es zeigt sich aber in diesem Gedankengang, daß die Leninsche Organisationsform untrennbar mit der Voraussicht der nahenden Revolution verknüpft ist. Denn erst in diesem Zusammenhange erscheint jede Abweichung vom richtigen Weg der Klasse als schicksalhaft und verhängnisvoll; erst in diesem Zusammenhang kann die Entscheidung in einer scheinbar kleinen Tagesfrage von ungeheurer Tragweite für die ganze Klasse werden; erst in diesem Zusammenhange wird es zur Lebensfrage für das Proletariat, daß es das seiner Klassenlage wirklich entsprechende Denken und Handeln klar, in sichtbarer Gestalt vor Augen habe.

Die Aktualität der Revolution bedeutet aber zugleich, daß die Gärung der Gesellschaft, das Auseinanderfallen ihres alten Gefüges sich keineswegs auf das Proletariat beschränkt, sondern sämtliche Klassen der Gesellschaft erfaßt. Ist doch nach Lenin das wirkliche Kennzeichen einer revolutionären Situation, daß „die ‚Unterschichten‘, nicht in der alten Weise leben wollen, und die ‚Oberschichten‘ nicht in der alten Weise leben können“; „die Revolution ist ohne gesamtnationale (die Ausgebeuteten wie die Ausbeuter berührende) Krisis nicht möglich“. Je tiefer die Krise geht, desto größer die Aussichten der Revolution. Jedoch je tiefer sie geht, je mehr Schichten der Gesellschaft sie erfaßt, desto verschiedenere, elementare Bewegungen kreuzen sich in ihr, desto verworrener und wechselnder werden die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Klassen, von deren Kampf der Ausgang des Ganzen – letzten Endes – abhängt: von Bourgeoisie und Proletariat. Will das Proletariat in diesem Kampfe siegen, so muß es jede Strömung, die zur Zersetzung der bürgerlichen Gesellschafft beiträgt, fördern und unterstützen, jede elementare, wenn auch noch so unklare Bewegung von einer irgendwie unterdrückten Schicht in die revolutionäre Gesamtbewegung einzuordnen trachten. Und das Nahen eines revolutionären Zeitabschnittes zeigt sich auch darin, daß alle Unzufriedenen der alten Gesellschaft Anschluß an das Proletariat oder wenigstens Verbindung mit ihm suchen. Hier aber kann gerade eine große Gefahr stecken. Denn ist die Partei des Proletariats nicht in einer Weise organisiert, daß die klassenmäßig richtige Richtung ihrer Politik garantiert ist, so können diese in einer revolutionären Situation sich stetig mehrenden Verbündeten statt Hilfe nur Verwirrung bringen. Denn die anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft (Bauern, Kleinbürger, Intellektuelle) streben selbstverständlicherweise nicht dieselben Ziele an wie das Proletariat. Das Proletariat – wenn es weiß, was es will, was es klassenmäßig zu wollen hat – kann sich selbst und diesen Schichten die Rettung aus ihrer sozialen Not bringen. Ist jedoch die Partei, der kämpfende Träger seines Klassenbewußtseins, unsicher in bezug auf die Wege, die die Klasse zu gehen hat, ist sogar ihr proletarischer Charakter nicht organisatorisch garantiert, so strömen diese Schichten in die Partei des Proletariats hinein, lenken sie vom Wege ab, und ihr Bündnis, das bei klassenklarer Organisation der proletarischen Partei die Revolution gefördert hätte, kann zu ihrer größten Gefährdung werden.

Der Leninsche Organisationsgedanke hat demzufolge als notwendige Pole: strengste Auswahl in bezug auf proletarisches Klassenbewußtsein für die Parteimitglieder; vollste Solidarität und Unterstützung für sämtliche Unterdrückten und Ausgebeuteten der kapitalistischen Gesellschaft. Er vereinigt also in dialektischer Weise zielklare Abgeschlossenheit und Universalität, Führung der Revolution im streng proletarischen Sinne und allgemeinen nationalen (und internationalen) Charakter der Revolution. Die menschewistische Organisation schwächt diese beiden Pole ab, vermischt sie, erniedrigt sie zu Kompromissen und vereinigt sie auf solche Weise in der Partei selbst. Sie schließt sich von breiten Schichten der Ausgebeuteten (z.B. von den Bauern) ab, vereinigt aber in der Partei die verschiedenartigsten Interessengruppen, die ihr das einheitliche Denken und Handeln verwehren. Statt also in dem wogenden Kampf der chaotisch ringenden Klassen – denn jede revolutionäre Lage äußert sich gerade im tief aufgewühlten chaotischen Zustand der ganzen Gesellschaft – die für den Sieg entscheidende Front, die Front des Proletariats gegen die Bourgeoisie in notwendiger Klarheit aufrichten zu helfen und die unklaren Gruppen der anderen Unterdrückten um das Proletariat zu scheren, verwandelt sich eine solche Partei selbst in ein unklares Gemenge von verschiedenen Interessengruppen. Sie kommt nur durch innere Kompromisse überhaupt zum Handeln und wird entweder von klareren oder elementarer handelnden Gruppen ins Schlepptau genommen, oder sie bleibt gezwungen, den Ereignissen fatalistisch zuzuschauen.

Der Leninsche Organisationsgedanke bedeutet also einen doppelten Bruch mit dem mechanischen Fatalismus: sowohl mit dem, der das Klassenbewußtsein des Proletariats als mechanisches Produkt seiner Klassenlage auffaßt, wie mit dem, de in der Revolution selbst nur eine mechanische Auswirkung sich fatalistisch entladender ökonomischer Kräfte erblickt, die das Proletariat – bei hinreichender „Reife“ der objektiven Bedingungen der Revolution – sozusagen automatisch zum Siege führt. Müßte darauf gewartet werden, bis das Proletariat einheitlich und klar in den entscheidenden Kampf zieht, so würde es nie eine revolutionäre Situation geben. Einerseits wird es immer – und je entwickelter der Kapitalismus ist, desto mehr – proletarische Schichten geben, die dem Befreiungskampf ihrer eigenen Klasse tatenlos zuschauen, ja sogar ins feindliche Lager übergehen. Anderseits jedoch ist das Verhalten des Proletariats selbst, seine Entschlossenheit und die Höhe seines Klassenbewußtseins keineswegs etwas mit fatalistischer Notwendigkeit aus der ökonomischen Lage Entspringendes.

Selbstredend kann auch die größte und beste Partei der Welt keine Revolution „machen“. Aber die Art, wie das Proletariat auf eine Lage reagiert, hängt weitgehend von der Klarheit und Energie ab, die die Partei seinen Klassenzielen zu geben imstande ist. So erhält im Zeitalter der Aktualität der Revolution das alte Problem, ob die Revolution „gemacht“ werden kann oder nicht, eine vollkommen neue Bedeutung. Und mit diesem Bedeutungswandel wandelt sich auch die Beziehung von Partei und Klasse, die Bedeutung der Organisationsfragen für Partei und Gesamtproletariat. Der alten Fragenstellung vom „Machen“ der Revolution liegt eine starre, undialektische Trennung von Notwendigkeit des Geschichtsablaufs und Aktivität der handelnden Partei zugrunde. Auf diesem Niveau, wo „Machen“ der Revolution ihr Herauszaubern aus dem Nichts bedeutet, ist es auch durchaus zu verneinen. Die Aktivität der Partei im Zeitalter der Revolution bedeutet aber etwas Grundverschiedenes. Denn ist der Grundcharakter der Zeit revolutionär, so kann eine akut revolutionäre Situation jeden Augenblick eintreten. Zeitpunkt und Umstände ihres Eintretens sind kaum jemals genau vorausbestimmbar. Um so mehr aber sowohl jene Tendenzen, die zu ihrem Eintreten hintreiben, wie die Grundlinien des richtigen Handelns bei ihrem Eintreten. Die Aktivität der Partei ist auf diese Geschichtserkenntnis begründet. Die Partei muß die Revolution vorbereiten. Das heißt, sie muß einerseits durch ihr Handeln (durch ihren Einfluß auf das Handeln des Proletariats und auch der anderen unterdrückten Schichten) auf das Reifen dieser Tendenzen zur Revolution beschleunigend zu wirken versuchen. Sie muß aber anderseits das Proletariat auf das in der akut revolutionären Situation notwendige Handeln ideologisch, taktisch, materiell und organisatorisch vorbereiten.

Damit rücken aber auch die inneren Organisationsfragen der Partei in eine neue Perspektive. Sowohl die alte – auch von Kautsky vertretene – Auffassung, daß die Organisation die Voraussetzung des revolutionären Handelns bildet, wie jene Rosa Luxemburgs, daß sie ein Produkt der revolutionären Massenbewegung ist, erscheinen als einseitig und undialektisch. Die die Revolution vorbereitende Funktion der Partei macht aus ihr zu gleicher Zeit und in gleicher Intensität Produzent und Produkt, Voraussetzung und Frucht der revolutionären Massenbewegungen. Denn die bewußte Aktivität der Partei beruht auf einer klaren Erkenntnis der objektiven Notwendigkeit der ökonomischen Entwicklung; ihre strenge organisatorische Abgeschlossenheit lebt in einer steten, fruchtbaren Wechselwirkung mit den elementaren Kämpfen und Leiden der Massen. Dieser Wechselwirkung ist Rosa Luxemburg stellenweise ganz nahe gekommen. Sie verkennt aber das bewußte und aktive Element an ihr. Darum ist sie außerstande gewesen, den springenden Punkt der Leninschen Parteikonzeption: diese vorbereitende Funktion der Partei zu erkennen; darum mußte sie alle daraus folgenden organisatorischen Prinzipien in der gröbsten Weise mißverstehen.

Die revolutionäre Situation selbst kann natürlich nicht ein Produkt der Tätigkeit der Partei sein. Es ist ihre Aufgabe, vorauszusehen, welche Richtung die Entwicklung der objektiven, ökonomischen Kräfte einnimmt, worin die den so entstehenden Lagen angemessene Verhaltungsweise der Arbeiterschaft besteht. Sie hat, dieser Voraussicht entsprechend, die Massen des Proletariats auf das Kommende und auf seine Interessen diesem gegenüber geistig, materiell und organisatorisch soweit wie möglich vorzubereiten. Die Ereignisse und die Lagen, die in ihrer Folge entstehen, sind aber Produkte der sich blind und naturgesetzlich auswirkenden ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion. Jedoch auch hier nicht in mechanistisch-fatalistischer Weise. Denn wir haben an dem einen Beispiel der ökonomischen Zersetzung des Agrarfeudalismus in Rußland bereits sehen können, daß der ökonomische Zersetzungsprozeß selbst zwar ein zwangsläufig entstehendes Produkt der kapitalistischen Entwicklung ist, daß aber seine klassenmäßigen Auswirkungen, die neuen Klassenschichtungen, die aus ihm entstehen, keineswegs eindeutig in diesem Prozeß selbst – wenn er isoliert betrachtet wird – begründet und darum bloß aus ihm erkennbar sein werden. Das Schicksal der ganzen Gesellschaft, deren Teile diese Prozesse bilden, ist das letzthin entscheidende Moment ihrer Richtung. In dieser Ganzheit spielen aber die spontan-elementar losbrechenden oder bewußt geleiteten Handlungen der Klassen eine entscheidende Rolle. Und je aufgewühlter eine Gesellschaft ist, je mehr ihre „normale“ Struktur aufgehört hat, richtig zu funktionieren, je stärker ihr sozial-ökonomisches Gleichgewicht gestört ist, das heißt, je revolutionärer eine Situation ist, desto entscheidender wird ihre Rolle. Daraus folgt, daß die Gesamtentwicklung der Gesellschaft im Zeitalter des Kapitalismus keineswegs in einer einfachen, geradlinigen Richtung erfolgt. Es ergeben sich vielmehr aus der Zusammenwirkung dieser Kräfte im gesellschaftlichen Ganzen Situationen, in denen eine bestimmte Tendenz sich verwirklichen kann –, wenn die Situation richtig erkannt und entsprechend ausgewertet wird. Aber die Entwicklung der ökonomischen Kräfte, die dem Anschein nach unwiderstehlich auf diese Situation hingetrieben hat, verfolgt, wenn diese versäumt wird, wenn ihre Konsequenzen nicht gezogen werden, keineswegs ebenso unwiderstehlich die bisherige Linie, sondern schlägt sehr oft ins Entgegengesetzte um. (Man stelle sich die Lage Rußlands vor, wenn die Bolschewiki im November 1917 nicht die Macht ergriffen, nicht die Agrarrevolution zu Ende geführt hätten. Eine „preußische“ Lösung der Agrarfrage wäre unter einem konterrevolutionären, aber im Vergleich zum vorrevolutionären Zarismus modern-kapitalistischen Regime nicht vollständig ausgeschlossen gewesen.)

Erst wenn die geschichtliche Umwelt, in der die Partei des Proletariats zu wirken hat, erkannt ist, kann ihre Organisation wirklich begriffen werden. Sie beruht auf den ungeheuren, welthistorischen Aufgaben, die Untergangsepoche des Kapitalismus dem Proletariate stellt; auf der ungeheuren welthistorischen Verantwortung, die diese Aufgaben der bewußten Führerschicht des Proletariats aufbürden. Indem die Partei aus der Erkenntnis der Totalität der Gesellschaft die Interessen des Gesamtproletariats (und dadurch vermittelt die Interessen aller Unterdrückten, die Zukunft der Menschheit) vertritt, muß sie in sich alle Gegensätze vereinigen, in denen sich diese vom Zentrum des gesellschaftlichen Ganzen gestellten Aufgaben ausdrücken. Wir haben bereits hervorgehoben, daß die strengste Auswahl der Parteimitglieder in bezug auf Klarheit des Klassenbewußtseins und unbedingte Hingebung der Sache der Revolution gegenüber mit dem restlosen Aufgehen im Leben der leidenden und kämpfenden Massen vereinigt werden muß. Und alle Bestrebungen, die erste Seite dieser Forderungen ohne ihren Gegenpol zu erfüllen, mußten mit einer sektenhaften Erstarrung selbst aus guten Revolutionären bestehender Gruppen enden. (Dies ist die Grundlage des Kampfes, den Lenin gegen „links“ vom Otsowismus bis zur K.A.P. und darüber hinaus geführt hat.) Denn die Strenge der Anforderungen den Parteimitgliedern gegenüber ist nur ein Mittel, um der ganzen Klasse des Proletariats (und darüber hinaus allen vom Kapitalismus ausgebeuteten Schichten) ihre wahren Interessen, all das, was ihren unbewußten Handlungen, ihrem unklaren Denken und verworrenen Empfinden wirklich zugrunde liegt, klar vor Augen zu stellen, bewußt zu machen.

Die Massen können aber nur handelnd lernen, nur im Kampfe ihrer Interessen bewußt werden. In einem Kampfe, dessen ökonomisch-soziale Grundlagen sich in ewigem Wechsel befinden, in dem sich deshalb die Bedingungen und Mittel des Kampfes ununterbrochen verändern. Die führende Partei des Proletariats kann ihre Bestimmung nur dann erfüllen, wenn sie in diesem Kampfe den kämpfenden Massen stets um einen Schritt voran ist, um ihnen den Weg weisen zu können. jedoch stets nur einen Schritt voran ist, um immer der Führer ihres Kampfes bleiben zu können. Ihre theoretische Klarheit ist also nur dann wertvoll, wenn diese nicht bei der allgemeinen, bei der bloß theoretischen Richtigkeit der Theorie stehenbleibt, sondern die Theorie stets in der konkreten Analyse der konkreten Lage gipfeln läßt, wenn die theoretische Richtigkeit stets nur den Sinn der konkreten Lage ausspricht. Die Partei muß also einerseits die theoretische Klarheit und Festigkeit haben, um allen Schwankungen der Massen zum Trotze, selbst eine vorübergehende Isolierung riskierend, auf dem richtigen Weg zu bleiben. Sie muß aber anderseits zugleich so elastisch und lernfähig sein, um aus jeder, wenn auch noch so verworrenen Äußerung der Massen die den Massen selbst unbewußt gebliebenen revolutionären Möglichkeiten herauszulesen.

Eine derartige Anpassung an das Leben der Gesamtheit ist ohne strengste Disziplin in der Partei unmöglich. Wenn die Partei nicht fähig ist, ihre Erkenntnis der Lage, der ununterbrochnen wechselnden Lage augenblicklich anzupassen, so bleibt sie hinter den Ereignissen zurück, wird aus dem Führer der Geführte, verliert den Kontakt mit den Massen und desorganisiert sich. Das hat zur Folge, daß die Organisation stets mit der größten Straffheit und Strenge funktionieren muß, um diese Anpassung sogleich, wenn nötig, in Tat umzusetzen. Zugleich jedoch bedeutet es, daß diese Forderung der Schmiegsamkeit auch auf die Organisation selbst ununterbrochen angewendet werden muß. Eine Organisationsform, die in einer bestimmten Lage für bestimmte Zwecke nützlich gewesen ist, kann bei veränderten Kampfbedingungen geradezu ein Hemmnis werden.

Denn es liegt im Wesen der Geschichte, stets Neues zu produzieren. Dieses Neue kann nicht durch irgendeine unfehlbare Theorie im voraus errechnet werden: es muß im Kampfe, aus seinen ersten sich zeigenden Keimen erkannt und bewußt zur Erkenntnis gefördert werden. Es ist keineswegs die Aufgabe der Partei, irgendwelche abstrakt ausgeklügelte Verhaltungsweise den Massen aufzudrängen. Sie hat im Gegenteil vom Kampf und von den Kampfmethoden der Massen ununterbrochen zu lernen. Sie muß aber auch im Lernen aktiv, die folgenden revolutionären Aktionen vorbereitend, tätig sein. Sie muß das von den Massen spontan, aus richtigem Klasseninstinkt Erfundene mit der Totalität der revolutionären Kämpfe verknüpfen, bewußt machen; sie muß, nach Marx’ Worten, den Massen ihre eigenen Aktionen erklären, um auf diese Weise nicht nur die Kontinuität der revolutionären Erfahrungen des Proletariats zu bewahren, sondern auch die Weiterentwicklung dieser Erfahrungen bewußt und aktiv zu befördern. Die Organisation hat sich als Instrument in die Ganzheit solcher Erkenntnisse und der aus ihnen entspringenden Handlungen einzufügen. Tut sie es nicht, so wird sie die von ihr unerkannte und darum unbeherrschte Entwicklung der Dinge zersetzen. Darum ist jeder Dogmatismus in der Theorie und jede Erstarrung in der Organisation verhängnisvoll für die Partei. Denn, wie Lenin sagt: „Jede neue Form des Kampfes, die mit neuen Gefahren und Opfern verbunden ist, ‚desorganisiert‘ unvermeidlich die zu dieser neuen Kampfform nicht vorbereiteten Organisationen.“ Es ist Aufgabe der Partei auch in bezug auf sich selbst – und hier erst recht – den notwendigen Weg frei und bewußt zurückzulegen, sich umzubilden, bevor die Gefahr der Desorganisation akut wird und durch diese Umbildung umbildend und fördernd auf die Massen einzuwirken.

Denn Taktik und Organisation bilden nur zwei Seiten eines untrennbaren Ganzen. Nur in beiden zugleich sind wirkliche Resultate erzielbar. Man muß, sollen sie erzielt werden, in beiden zugleich konsequent und elastisch, unerbittlich am Prinzip festhaltend und offenen Blickes für jede neue Wendung eines jeden Tages sein. Es kann weder taktisch noch organisatorisch etwas geben, was an und für sich gut oder schlecht wäre. Erst die Beziehung zum Ganzen, zum Schicksal der proletarischen Revolution macht einen Gedanken, eine Maßnahme usw. richtig oder falsch. Darum hat zum Beispiel Lenin – nach der ersten russischen Revolution – mit der gleichen Unerbittlichkeit sowohl jene bekämpft, die die angeblich nutzlose und sektenhafte Illegalität aufgeben wollten, wie jene, die sich restlos der Illegalität hingebend, die legalen Möglichkeiten von sich gewiesen haben; darum hat er für das Aufgehen im Parlamentarismus und für den prinzipiellen Antiparlamentarismus die gleiche zornige Verachtung gehabt usw.

Lenin ist nicht nur niemals ein politischer Utopist gewesen, sondern er hat auch nie in bezug auf das Menschenmaterial seiner Gegenwart irgendwelche Illusionen gehabt. „Wir wollen“, sagt er in der ersten Heldenzeit der siegreichen proletarischen Revolution, „den Sozialismus mit den Menschen errichten, die vom Kapitalismus erzogen, von ihm verdorben und verderbt, aber dafür von ihm auch zum Kampf gestählt worden sind.“ Die ungeheuren Anforderungen, die der Leninsche Organisationsgedanke an die Berufsrevolutionäre stellt, haben nichts Utopisches an sich. Freilich auch nichts an der Oberfläche des gewöhnlichen Lebens, der gegebenen Tatsächlichkeit, der Empirie Klebendes. Die Leninsche Organisation ist insofern selbst dialektisch – also nicht nur Produkt der dialektischen Geschichtstentwicklung, sondern zugleich ihr bewußter Förderer – als auch sie selbst zugleich Produkt und Produzent ihrer selbst ist. Die Menschen machen ihre Partei selbst, sie müssen einen hohen Grad von Klassenbewußtsein und Hingebung haben, damit sie an der Organisation teilnehmen wollen und können; aber zu wirklichen Berufsrevolutionären werden sie erst in der Organisation und durch die Organisation. Der Jakobiner, der sich mit der revolutionären Klasse verbündet, gibt durch seine Entschlossenheit, seine Fähigkeit zum Handeln, sein Wissen und seinen Enthusiasmus den Taten der Klasse Form und Klarheit. Es ist aber stets das gesellschaftliche Sein der Klasse, das aus ihm entsteigende Klassenbewußtsein, das den Inhalt und die Richtung seiner Handlungen bestimmt. Es ist kein stellvertretendes Handeln für die Klasse, sondern das Aufgipfeln des Handelns der Klasse selbst. Die Partei, die die proletarische Revolution zu führen berufen ist, tritt deshalb nicht fertig an ihren Führerberuf heran: auch sie ist nicht, sondern sie wird. Und der Prozeß der fruchtbaren Wechselwirkung zwischen Partei und Klasse wiederholt sich – freilich verändert – in der Beziehung der Partei zu ihren Mitgliedern. Denn, wie Marx in seinen Feuerbach-Aphorismen sagt: „Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß.“ Die Leninsche Konzeption der Partei ist der schroffste Bruch mit der mechanistischen und fatalistischen Vulgarisation des Marxismus. Sie ist die praktische Verwirklichung seines echten Wesens, seiner tiefsten Tendenz: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003