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Quelle: W. I. Lenin, Werke (Berlin 1959), Bd. 24, S. 39–77.
Zuerst veröffentlicht im September 1917 als Broschüre im Verlag „Triboi“.
Unterschrift: N. Lenin.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Vielen Dank an Red Channel, der die Werke gescannt hat.
Der gegenwärtige historische Zeitpunkt in Rußland wird durch
folgende Hauptzüge charakterisiert:
1. Die alte Zarenmacht, die nur eine Handvoll fronherrlicher, die ganze Staatsmaschinerie (Heer, Polizei, Beamtenschaft) beherrschender Gutsbesitzer repräsentierte, ist zerschlagen und beseitigt, aber nicht endgültig zur Strecke gebracht. Die Monarchie ist faktisch nicht vernichtet. Die Romanowbande fährt fort, monarchistische Ränke zu schmieden. Der riesige Bodenbesitz der fronherrlichen Gutsbesitzer ist nicht liquidiert.
2. Die Staatsmacht ist in Rußland in die Hände einer neuen Klasse übergegangen, und zwar in die der Bourgeoisie und der verbürgerlichten Gutsbesitzer. Insofern ist die bürgerlich-demokratische Revolution in Rußland abgeschlossen.
Die zur Macht gelangte Bourgeoisie hat einen Block (Bund) mit ausgesprochen monarchistischen Elementen geschlossen, die sich in den Jahren 1906–1914 durch die Nikolaus dem Blutigen und Stolypin dem Henker erwiesene unerhört eifrige Unterstützung hervorgetan haben (Gutschkow und andere rechts von den Kadetten stehende Politiker). Die neue bürgerliche Regierung Lwow und Co. versuchte mit den Romanows Verhandlungen über die Wiederherstellung der Monarchie in Rußland zu führen und hat solche Verhandlungen begonnen. Unter einem Schwall revolutionärer Phrasen besetzt diese Regierung im stillen die leitenden Stellen mit Anhängern des alten Regimes. Das Streben dieser Regierung ist darauf gerichtet, den ganzen Apparat der Staatsmaschinerie (Heer, Polizei, Beamtenschaft), den sie in die Hände der Bourgeoisie gelegt hat, so wenig wie möglich zu reformieren. Die in den Massenaktionen zum Ausdruck kommende revolutionäre Initiative, die Machtergreifung durch das Volk von unten her – diese einzige Bürgschaft für wirkliche Erfolge der Revolution – sucht die neue Regierung bereits jetzt in jeder Weise zu behindern.
Diese Regierung hat bis heute den Einberufungstermin der Konstituierenden Versammlung noch nicht einmal festgesetzt. Den gutsherrlichen Grundbesitz, diese materielle Grundlage des feudalen Zarismus, tastet sie nicht an. Diese Regierung denkt gar nicht daran, die Machenschaften der monopolistischen Finanzorganisationen, der Großbanken, der kapitalistischen Syndikate und Kartelle usw. zu untersuchen und zu publizieren, die Kontrolle über sie zu errichten.
Die wichtigsten, ausschlaggebenden Ministerposten in der neuen Regierung (das Ministerium des Innern, das Kriegsministerium, d. h. die Befehlsgewalt über das Heer, die Polizei, die Beamtenschaft, über den ganzen Apparat zur Unterdrückung der Massen) werden von notorischen Monarchisten und Parteigängern des gutsherrlichen Großgrundbesitzes bekleidet. Den Kadetten, diesen Republikanern seit gestern, diesen Republikanern wider Willen, sind zweitrangige Posten überlassen worden, die weder zur Befehlsgewalt über das Volk noch zum Apparat der Staatsmacht unmittelbare Beziehung haben. A. Kerenski, der Vertreter der Trudowiki und „Auch-Sozialist“, spielt überhaupt keine Rolle, er ist lediglich berufen, die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit des Volkes mit tönenden Phrasen einzuschläfern.
Aus allen diesen Gründen verdient die neue bürgerliche Regierung
selbst auf dem Gebiet der Innenpolitik nicht das geringste Vertrauen
des Proletariats, und jede Unterstützung der neuen Regierung seitens
des Proletariats ist unzulässig.
4. In der Außenpolitik, die infolge der objektiven Bedingungen jetzt im Vordergrund steht, ist die neue Regierung eine Regierung der Fortsetzung des imperialistischen Krieges, eines Krieges im Bündnis mit den imperialistischen Mächten, mit England, Frankreich usw., eines Krieges um die Teilung der kapitalistischen Beute, um die Erdrosselung der kleinen und schwachen Völker.
Den Interessen des russischen Kapitals und seines mächtigen Gönners und Gebieters, des englisch-französischen imperialistischen Kapitals, des reichsten in der ganzen Welt, untergeordnet, hat die neue Regierung entgegen den vom Sowjet der Soldaten- und Arbeiterdeputierten im Namen der unzweifelhaften Mehrheit der Völker Rußlands in der entschiedensten Weise ausgesprochenen Wünschen keine realen Schritte unternommen, um dem Völkergemetzel, das um der Interessen der Kapitalisten willen veranstaltet wurde, ein Ende zu bereiten. Sie hat nicht einmal jene geheimen, ausgesprochen auf Raub abzielenden Verträge (über die Aufteilung Persiens, über die Ausplünderung Chinas, über die Ausplünderung der Türkei, über die Aufteilung Österreichs, über die Annexion Ostpreußens, über die Annexion der deutschen Kolonien usw.) veröffentlicht, die, wie jeder weiß, Rußland an das englisch-französische imperialistische Raubkapital ketten. Sie hat diese Verträge bestätigt! die vom Zarismus geschlossen wurden – vom Zarismus, der im Laufe der Jahrhunderte mehr Völker ausgeraubt und unterdrückt hat als die anderen Tyrannen und Despoten, der das großrussische Volk nicht nur unterdrückte, sondern auch mit Schmach bedeckte und korrumpierte, indem er es zum Henker anderer Völker machte.
Die neue Regierung, die diese schändlichen Raubverträge bestätigte, hat es unterlassen, allen kriegführenden Völkern den sofortigen Waffenstillstand anzubieten, entgegen den durch die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten klar zum Ausdruck gebrachten Forderungen der Mehrheit der Völker Rußlands. Sie beschränkte sich auf feierliche, wohltönende, hochtrabende, aber gänzlich nichtssagende Deklarationen und Phrasen, die im Munde bürgerlicher Diplomaten stets dazu dienten und dienen, die vertrauensseligen und naiven Massen des geknechteten Volkes zu betrügen.
4. Das ist der Grund, warum die neue Regierung in der Außenpolitik
nicht das geringste Vertrauen verdient und warum auch ein weiteres
Wiederholen der Forderungen, diese Regierang möge den Friedenswillen
der Völker Rußlands kundtun, sie möge auf Annexionen verzichten
usw. usf., in Wirklichkeit nur bedeutet, das Volk zu betrügen, in
ihm unerfüllbare Hoffnungen zu wecken, die Klärung seines
Bewußtseins hinauszuzögern, es indirekt auszusöhnen mit der
Fortsetzung des Krieges, dessen wahrer sozialer Charakter nicht durch
fromme Wünsche bestimmt wird, sondern durch den Klassencharakter der
kriegführenden Regierung, durch die Verknüpfung der von dieser
Regierung vertretenen Klasse mit dem imperialistischen Finanzkapital
Rußlands, Englands, Frankreichs usw., durch die reale, wirkliche
Politik, die diese Klasse betreibt.
5. Die wichtigste Besonderheit unserer Revolution, eine Besonderheit, die es unbedingt notwendig macht, daß man sich ernsthaft mit ihr befaßt, ist die gleich in den ersten Tagen nach dem Sieg der Revolution entstandene Doppelherrschaft.
Diese Doppelherrschaft kommt zum Ausdruck in dem Bestehen zweier Regierungen: der eigentlichen, wirklichen Hauptregierung, der Regierung der Bourgeoisie, der „Provisorischen Regierung“ Lwow und Co., die über alle Machtorgane verfügt, und der zusätzlichen, „kontrollierenden“ Nebenregierung in Gestalt des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, die über keine Organe der Staatsmacht verfügt, sich aber unmittelbar auf die anerkannt absolute Mehrheit des Volkes, auf die bewaffneten Arbeiter und Soldaten stützt.
Klassenmäßig liegt die Quelle und die Bedeutung dieser Doppelherrschaft darin, daß die russische Revolution vom März 1917 nicht nur die gesamte Zarenmonarchie hinweggefegt, nicht nur der Bourgeoisie die ganze Macht übergeben hat, sondern auch dicht an die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft herangekommen ist. Gerade eine solche Diktatur (d. h. eine Macht, die sich nicht auf das Gesetz stützt, sondern auf die unmittelbare Gewalt der bewaffneten Bevölkerungsmassen), und zwar gerade der genannten Klassen, bilden der Petrograder Sowjet sowie die anderen, örtlichen Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.
6. Eine weitere, im höchsten Grade wichtige Besonderheit der russischen Revolution ist, daß der Petrograder Sowjet der Soldaten- und Arbeiterdeputierten, der allem Anschein nach das Vertrauen der Mehrheit der örtlichen Sowjets genießt, der Bourgeoisie und ihrer Provisorischen Regierung die Staatsmacht freiwillig abtritt, daß er ihr freiwillig den Vorrang läßt, da er mit ihr ein Abkommen traf, sie zu unterstützen, daß er sich mit der Rolle eines Beobachters begnügt, eines Kontrolleurs der Einberufung der Konstituierenden Versammlung (deren Einberufungstermin die Provisorische Regierung bis jetzt noch nicht einmal bekanntgegeben hat).
Dieser überaus eigenartige, in dieser Form in der Geschichte noch nie dagewesene Umstand hat zwei Diktaturen miteinander und ineinander verflochten: die Diktatur der Bourgeoisie (denn die Regierung Lwow und Co. ist eine Diktatur, d. h. eine Staatsmacht, die sich nicht auf das Gesetz und nicht auf den vom Volk vorher kundgegebenen Willen stützt, sondern auf die gewaltsame Machtergreifung, wobei die Macht von einer bestimmten Klasse, und zwar von der Bourgeoisie, ergriffen wurde) und die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft (der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten).
Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß sich eine derartige „Verflechtung“ nicht lange halten kann. Zwei Staatsgewalten können in einem Staate nicht bestehen. Eine von ihnen muß verschwinden, und die ganze Bourgeoisie Rußlands ist bereits mit aller Kraft am Werke, die Sowjets der Soldaten- und Arbeiterdeputierten mit allen möglichen Mitteln überall auszuschalten, zu schwächen, zu einem Nichts herabzudrücken und die Alleinherrschaft der Bourgeoisie zu errichten.
Die Doppelherrschaft bringt nur jenen Übergangsmoment in der Entwicklung der Revolution zum Ausdruck, an dem diese zwar über die gewöhnliche bürgerlich-demokratische Revolution hinausgegangen, aber noch nicht bis zur „reinen“ Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft gelangt ist.
Die klassenmäßige Bedeutung (und die klassenmäßige Erklärung) dieser labilen Ubergangssituation besteht in folgendem: Wie jede Revolution, hat auch unsere Revolution das größte Heldentum, die größte Selbstaufopferung der Masse für den Kampf gegen den Zarismus erfordert und zugleich mit einem Schlag eine unerhört große Zahl von Kleinbürgern in die Bewegung hineingezogen.
Eines der wissenschaftlichen und praktisch-politischen Hauptmerkmale jeder wirklichen Revolution ist das ungewöhnlich schnelle, jähe, schroffe Anwachsen der Zahl der zur aktiven, selbständigen, tatkräftigen Anteilnahme am politischen Leben, an der Gestaltung des Staates übergehenden Kleinbürger.
So auch in Rußland. Rußland ist heute in Wallung geraten. Die Millionen und aber Millionen, die zehn Jahre lang politisch geschlafen haben, in denen das furchtbare Joch des Zarismus und die Zwangsarbeit für die Gutsbesitzer und Fabrikanten jede politische Regung erstickt haben, sind erwacht und drängen zur Politik. Wer aber sind diese Millionen und aber Millionen? Größtenteils sind es Kleineigentümer, Kleinbürger, Leute, die in der Mitte zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern stehen. Rußland ist das kleinbürgerlichste Land unter allen europäischen Ländern.
Die riesige kleinbürgerliche Woge hat alles überflutet, sie hat das klassenbewußte Proletariat nicht nur durch ihre zahlenmäßige Stärke, sondern auch ideologisch überwältigt, das heißt, sie hat sehr breite Arbeiterkreise mit kleinbürgerlichen politischen Ansichten angesteckt, ergriffen.
Das Kleinbürgertum ist im Leben von der Bourgeoisie abhängig, da es selbst ein Eigentümerund kein Proletarierdasein führt (was seine Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Produktion betrifft), und in seiner Denkart folgt es der Bourgeoisie.
Blinde Vertrauensseligkeit gegenüber den Kapitalisten, diesen schlimmsten Feinden des Friedens und des Sozialismus das ist es, was die gegenwärtige Politik der Massen in Rußland kennzeichnet, das ist es, was mit revolutionärer Schnelligkeit auf dem sozial-ökonomischen Boden des kleinbürgerlichsten aller europäischen Länder emporgeschossen ist. Das ist die Klassengrundlage des „Abkommens“ (ich betone, daß ich nicht so sehr das formelle Abkommen als vielmehr die tatsächliche Unterstützung, die stillschweigende Übereinkunft, das blind vertrauensselige Abtreten der Macht im Auge habe) zwischen der Provisorischen Regierung und dem Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten eines Abkommens, das den Gutschkow einen fetten Bissen, nämlich die Wirkliche Macht, eingebracht hat, dem Sowjet aber Versprechungen, Ehren (vorläufig noch), Schmeicheleien, Redensarten, Beteuerungen und Kratzfüße seitens der Kerenski.
Die ungenügende zahlenmäßige Stärke des Proletariats in
Rußland, sein ungenügend entwickeltes Klassenbewußtsein und seine
ungenügende Organisiertheit das ist die andere Seite derselben
Medaille. Alle Volkstümlerparteien, bis hin zu den
Sozialrevolutionären, waren stets kleinbürgerlich, ebenso die
Partei des Organisationskomitees (Tschcheïdse, Zereteli u. a.);
die parteilosen Revolutionäre (Steklow u. a.) ließen sich
gleichfalls von dieser Welle mit fortreißen oder sind ihrer nicht
Herr geworden, vermochten ihrer nicht Herr zu werden.
7. Aus der oben geschilderten Eigenart der tatsächlichen Lage ergibt sich die für den Marxisten der mit den objektiven Tatsachen, mit den Massen und den Klassen, nicht aber mit Einzelpersonen u. dgl. m. rechnen muß verbindliche Eigenart der Taktik im gegebenen Zeitpunkt.
Diese Eigenart erfordert vor allem, daß „der süßlichen Limonade revolutionär-demokratischer Phrasen Essig und Galle beigemischt wird“ (wie sich – äußerst treffend – Theodorowitsch, einer meiner Genossen aus dem ZK unserer Partei, in der gestrigen Sitzung des Gesamtrussischen Kongresses der Eisenbahnangestellten und -arbeiter in Petrograd ausdrückte). Sie erfordert Kritik, Aufklärung über die Fehler der kleinbürgerlichen Parteien der Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, Schulung und Vereinigung der Elemente der bewußten proletarischen, der kommunistischen Partei, Befreiung des Proletariats von dem „allgemeinen“ kleinbürgerlichen Taumel.
Es scheint, als sei das „bloß“ propagandistische Arbeit. In Wirklichkeit ist es im höchsten Grade praktische revolutionäre Arbeit, denn man kann eine Revolution nicht vorwärtstreiben, die zum Stillstand gekommen, die in Redensarten versandet ist, die „auf der Stelle tritt“ nicht etwa äußerer Hindernisse wegen, nicht weil die Bourgeoisie Gewalt gegen sie anwendet (Gutschkow droht einstweilen nur mit Gewaltanwendung gegen die Soldatenmasse), sondern weil die Massen in blinder Vertrauensseligkeit befangen sind.
Nur durch den Kampf gegen diese blinde Vertrauensseligkeit (der ausschließlich mit geistigen Waffen, durch kameradschaftliche Überzeugung, durch Hinweis auf die Erfahrungen des Lebens geführt werden kann und darf) können wir uns von der grassierenden revolutionären Phrase befreien und wirklich sowohl das Bewußtsein des Proletariats als auch das Bewußtsein der Massen sowie ihre kühne, entschlossene Initiative überall im Lande, die selbständige Verwirklichung, Entfaltung und Festigung der Freiheiten, der Demokratie, des Prinzips des Gemeinbesitzes des Volkes am gesamten Boden vorantreiben.
8. Die Erfahrungen der bürgerlichen und gutsherrlichen Regierungen der ganzen Welt haben zwei Methoden der Niederhaltung des Volks gezeitigt. Die erste ist die der Gewalt. Nikolaus Romanow I., auch Nikolaus der Knüppelheld genannt, und Nikolaus II., der Blutige, haben dem russischen Volke, was diese, die Henkermethode betrifft, das Höchstmaß an Möglichem und Unmöglichem gezeigt. Aber es gibt noch eine andere Methode, eine Methode, die die durch eine Reihe großer Revolutionen und revolutionärer Massenbewegungen „klug gewordene“ englische und französische Bourgeoisie zur höchsten Vollkommenheit gebracht hat. Es ist das die Methode des Betrugs, der Schmeichelei, der Phrase, der millionenfachen Versprechungen, der lumpigen Bettelgaben, der Zugeständnisse im Unwichtigen, der Erhaltung des Wichtigen.
Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Rußland liegt in dem schwindelerregend schnellen Übergang von der ersten Methode zur zweiten, von der gewaltsamen Niederhaltung des Volkes zur Umschmeichelung des Volkes, zu seiner Betörung durch Versprechungen. Der Kater Waska hört zu und – frißt. [1*] Miljukow und Gutschkow haben die Macht, sie schützen die Profite des Kapitals, sie führen den imperialistischen Krieg im Interesse des russischen und des englisch-französischen Kapitals und haben als Antwort auf die Reden solcher „Köche“ wie Tschcheïdse, Zereteli, Steklow, die ihnen drohen, ihnen ins Gewissen reden, sie beschwören, die flehen, fordern und proklamieren, nichts als Verheißungen, Deklamationen und effektvolle Erklärungen ... Der Kater Waska hört zu und frißt.
Doch die vertrauensselige Blindheit und blinde Vertrauensseligkeit wird mit jedem Tag mehr schwinden, besonders bei den Proletariern und den armen Bauern, die das Leben (ihre sozialökonomische Lage) lehrt, den Kapitalisten nicht zu glauben.
Die Führer des Kleinbürgertums „müssen“ das Volk lehren,
der Bourgeoisie zu vertrauen. Die Proletarier müssen das Volk
lehren, ihr zu mißtrauen.
9. Der bedeutendste und prägnanteste Ausdruck der kleinbürgerlichen Woge, die „fast alles“ überflutet hat, ist unzweifelhaft die revolutionäre Vaterlandsverteidigung. Gerade sie ist der schlimmste Feind der weiteren Entwicklung und des Erfolgs der russischen Revolution.
Wer in diesem Punkte erlegen ist und sich nicht frei zu machen vermochte der ist für die Revolution verloren. Doch erliegen die Massen auf andere Weise als die Führer und machen sich anders, auf anderem Entwicklungswege, auf andere Weise frei.
Die revolutionäre Vaterlandsverteidigung ist einerseits die Frucht des Betrugs der Bourgeoisie an den Massen, die Frucht der blinden Vertrauensseligkeit der Bauern und eines Teils der Arbeiter, anderseits ist sie ein Ausdruck der Interessen und Anschauungen des Kleineigentümers, der bis zu einem gewissen Grade an Annexionen und Bankprofiten interessiert ist und die Traditionen des Zarismus „heilig“ hält, des Zarismus, der die Großrussen durch die Henkerrolle gegenüber den anderen Völkern korrumpierte.
Die Bourgeoisie betrügt das Volk, indem sie sich den edlen Stolz auf die Revolution zunutze macht und den Eindruck zu erwecken sucht, als habe sich mit dieser Etappe der Revolution, seitdem an die Stelle der Zarenmonarchie die Gutschkow-Miljukowsche Beinahe-Republik getreten ist, auf Seiten Rußlands der sozial-politische Charakter des Krieges geändert. Und das Volk schenkte dem eine Zeitlang Glauben, zum großen Teil dank den althergebrachten Vorurteilen, die es in den anderen Völkern Rußlands außer dem großrussischen eine Art Eigentum oder Stammgut der Großrussen sehen ließen. Die niederträchtige Korrumpierung des großrussischen Volkes durch den Zarismus, der es daran gewöhnte, in den anderen Völkern etwas Niedereres, etwas „von Rechts wegen“ Großrußland Gehörendes zu sehen, konnte nicht mit einemmal verschwinden.
Wir müssen es verstehen, die Massen darüber aufzuklären, daß der sozial-politische Charakter des Krieges nicht durch den „guten Willen“ von Personen und Gruppen oder selbst Völkern bestimmt wird, sondern durch die Stellung der Klasse, die den Krieg führt, durch ihre Politik, deren Fortsetzung der Krieg ist, durch die Verbindungen des Kapitals als der herrschenden ökonomischen Macht in der modernen Gesellschaft, durch den imperialistischen Charakter des internationalen Kapitals, durch die finanzielle, bankmäßige und diplomatische – Abhängigkeit Rußlands von England und Frankreich usw. Dies geschickt und für die Massen verständlich klarzumachen ist nicht leicht, keiner von uns würde es mit einemmal zustande bringen, ohne Fehler zu machen.
Doch muß die Richtung oder, besser gesagt, der Inhalt unserer Propaganda so und nur so sein. Das geringste Zugeständnis an die revolutionäre Vaterlandsverteidigung ist Verrat am Sozialismus, ist völige Preisgabe des Internationalismus, mit welch schönen Phrasen, mit welch „praktischen“ Erwägungen man dies auch rechtfertigen mag.
Die Losung „Nieder mit dem Krieg“ ist natürlich richtig, aber sie wird den spezifischen Aufgaben des gegenwärtigen Zeitpunkts, wird der Notwendigkeit, auf andere Weise an die breite Masse heranzutreten, nicht gerecht. Sie erinnert meines Erachtens an die Losung „Nieder mit dem Zaren“, mit der der ungeschickte Agitator der „guten alten Zeit“ ohne viel Federlesens aufs Land hinausging und Prügel einsteckte. Die revolutionären Vaterlandsverteidiger aus der Masse sind ehrlich, nicht im persönlichen, sondern im Klassensinne, d. h., sie gehören jenen Klassen an (Arbeiter und arme Bauern), denen Annexionen und Erdrosselung fremder Völker tatsächlich keine Vorteile bringen. Es sind das nicht die Bourgeois und die Herren „Intellektuellen“, die sehr gut verstehen, daß es unmöglich ist, auf Annexionen zu verzichten, ohne zugleich auf die Herrschaft des Kapitals zu verzichten, und die die Massen mit schönen Redensarten, maßlosen Versprechungen und zahllosen Verheißungen gewissenlos betrügen.
Der Vaterlandsverteidiger aus der Masse sieht die Dinge einfach,
auf Spießbürgerart: „Ich will keine Annexionen, der Deutsche will
mir ‚an den Kragen‘, folglich verteidige ich eine gerechte
Sache und durchaus nicht irgendwelche imperialistischen Interessen.“
Einem solchen Menschen muß immer wieder klargemacht werden, daß es
nicht auf seine persönlichen Wünsche ankommt, daß es sich vielmehr
um politische Verhältnisse und Beziehungen der Massen, der Klassen,
um den Zusammenhang des Krieges mit den Interessen des Kapitals und
dem internationalen Bankennetz usw. handelt. Nur ein solcher Kampf
gegen die Vaterlandsverteidigung ist ein ernster Kampf, der
vielleicht keinen sehr schnellen, aber doch einen sicheren und
dauerhaften Erfolg verspricht.
10. Den Krieg kann man nicht „auf Wunsch“ beenden. Man kann ihn nicht auf Beschluß nur der einen Seite beenden. Man kann ihn nicht dadurch beenden, daß man „die Bajonette in die Erde stößt“, wie ein Soldat, ein Anhänger der Vaterlandsverteidigung, sich ausdrückte.
Den Krieg kann man nicht beenden durch „Vereinbarungen“ der Sozialisten verschiedener Länder, nicht durch eine „Kundgebung“ der Proletarier aller Länder, nicht durch den „Willen“ der Völker usw. Alle derartigen Phrasen, von denen die Zeitungsartikel in der ganz auf dem Standpunkt der Vaterlandsverteidigung stehenden Presse sowie in der halb auf dem Vaterlandsverteidigungs-, halb auf dem internationalistischen Standpunkt stehenden Presse strotzen, wie auch die zahllosen Resolutionen, Aufrufe, Manifeste, die Resolutionen des Sowjets der Soldaten- und Arbeiterdeputierten alle diese Phrasen sind nichts als leere, naive, fromme Wünsche von Kleinbürgem. Es gibt nichts Schädlicheres als die Phrasen vom „Kundtun des Friedenswillens der Völker“, von der Reihenfolge der revolutionären Aktionen des Proletariats (nach dem russischen Proletariat sei das deutsche „an der Reihe“) usw. Das alles ist Louis-Blanc-Politik, süßliche Träumerei, Spielerei mit „politischen Kampagnen“, ist faktisch eine Wiederholung der Fabel vom Kater Waska.
Der Krieg ist nicht durch den bösen Willen der kapitalistischen Räuber hervorgerufen worden, obwohl er zweifellos nur in ihrem Interesse geführt wird, nur sie bereichert. Der Krieg ist durch die Entwicklung des Weltkapitals in einem halben Jahrhundert, durch dessen milliardenfache Fäden und Verbindungen hervorgerufen worden. Man kann nicht aus dem imperialistischen Krieg herausspringen, man kann einen demokratischen, nicht auf Gewalt basierenden Frieden nicht erzielen ohne den Sturz der Herrschaft des Kapitals, ohne den Übergang der Staatsmacht an eine andere Klasse, an das Proletariat.
Die russische Revolution vom Februar/März 1917 war der Beginn der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg. Diese Revolution hat den ersten Schritt zur Beendigung des Krieges getan. Erst der zweite Schritt kann seine Beendigung sicherstellen, nämlich der Übergang der Staatsmacht an das Proletariat. Das wird der Anfang des „Durchbruchs der Front“, der Front der Interessen des Kapitals im Weltmaßstab sein, und erst nachdem das Proletariat diese Front durchbrochen hat, kann es die Menschheit von den Schrecken des Krieges erlösen, ihr das Glück eines dauerhaften Friedens sichern.
Und an einen solchen „Durchbruch der Front“ des Kapitals hat
die russische Revolution das Proletariat Rußlands bereits
dicht herangeführt, indem sie die Sowjets der Arbeiterdeputierten
geschaffen hat.
11. Die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten werden nicht bloß in der Hinsicht verkannt, daß der Mehrheit ihre Klassenbedeutung, ihre Rolle in der russischen Revolution unklar ist. Verkannt werden sie auch noch insoweit, als sie eine neue Form, richtiger gesagt, einen neuen Typus des Staates darstellen.
Der vollendetste, fortgeschrittenste bürgerliche Staat ist der Typus der parlamentarischen demokratischen Republik: die Macht gehört dem Parlament; die Staatsmaschinerie, der Apparat und das Organ der Verwaltung, ist die übliche: stehendes Heer, Polizei und eine faktisch unabsetzbare, privilegierte, über dem Volke stehende Beamtenschaft.
Die revolutionären Epochen haben jedoch seit Ende des 19. Jahrhunderts den höchsten Typus des demokratischen Staates hervorgebracht, eines Staates, der, nach einem Ausdruck von Engels, in mancher Hinsicht schon aufhört, ein Staat zu sein, der „kein Staat im eigentlichen Sinne mehr“ [1] ist. Es ist dies der Staat vom Typus der Pariser Kommune, der die vom Volke getrennte Armee und Polizei durch die direkte und unmittelbare Bewaffnung des Volkes selbst ersetzt. Darin besteht das Wesen der Kommune, über die von den bürgerlichen Schriftstellern zahllose Lügen und Verleumdungen verbreitet wurden, von der man unter anderem fälschlich behauptet, sie habe sofort den Sozialismus „einführen“ wollen.
Gerade einen Staat von diesem Typus hat die russische Revolution in den Jahren 1905 und 1917 hervorzubringen begonnen. Die Republik der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten, die in der Gesamtrussischen Konstituierenden Versammlung der Volksvertreter oder im Sowjet der Sowjets u. dgl. vereinigt sind – das ist es, was bei uns jetzt, im gegenwärtigen Augenblick, bereits zur Wirklichkeit wird dank der Initiative des vielmillionenköpfigen Volkes, das aus eigener Machtvollkommenheit auf seine Art, die Demokratie schafft und das weder abwartet, bis die Herren Professoren der Kadettenpartei ihre Gesetzentwürfe für eine parlamentarische bürgerliche Republik abgefaßt haben, noch auch, bis die Pedanten und Routiniers der kleinbürgerlichen „Sozialdemokratie“ vom Schlage der Herren Plechanow oder Kautsky sich von ihren Verfälschungen der marxistischen Lehre vom Staate lossagen.
Der Marxismus unterscheidet sich dadurch vom Anarchismus, daß er die Notwendigkeit des Staates und der Staatsgewalt in einer revolutionären Periode im allgemeinen und in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus im besonderen anerkennt.
Der Marxismus unterscheidet sich von dem kleinbürgerlichen, opportunistischen „Sozialdemokratismus“ der Herren Plechanow, Kautsky und Co. dadurch, daß er für die erwähnten Perioden nicht einen Staat wie die gewöhnliche parlamentarische bürgerliche Republik für notwendig erachtet, sondern einen Staat wie die Pariser Kommune.
Die Hauptunterschiede zwischen diesem letzteren Staatstypus und dem alten bestehen in folgendem:
Von der parlamentarischen bürgerlichen Republik ist die Rückkehr zur Monarchie (wie die Geschichte auch bewiesen hat) überaus leicht, denn die ganze Unterdrückungsmaschine: das Heer, die Polizei, die Beamtenschaft, bleibt unangetastet. Die Kommune und die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten zerschlagen und beseitigen diese Maschine.
Die parlamentarische bürgerliche Republik beengt und drosselt das selbständige politische Leben der Massen sowie deren unmittelbare Teilnahme am demokratischen Aufbau des ganzen Staatslebens von unten bis oben. Das Gegenteil ist bei den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten der Fall.
Diese letzteren reproduzieren jenen Staatstypus, der von der Pariser Kommune hervorgebracht worden ist und den Marx „die endlich entdeckte politische Form“ genannt hat, „unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“. [2]
Gewöhnlich wird eingewendet: Das russische Volk ist für die „Einführung“ der Kommune noch nicht reif. Das ist das Argument der Fronherren, die behauptet hatten, die Bauern seien für die Freiheit noch nicht reif. Irgendwelche Umgestaltungen, die nicht sowohl in der ökonomischen Wirklichkeit als auch im Bewußtsein der erdrückenden Mehrheit des Volkes vollständig herangereift sind, werden von der Kommune, d. h. von den Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten, keineswegs „eingeführt“, sie beabsichtigt nicht, sie „einzuführen“, und soll sie auch nicht einführen. Je größer der ökonomische Zusammenbruch und die durch den Krieg erzeugte Krise sind, desto dringender erforderlich ist eine möglichst vollkommene politische Form, die die Heilung der furchtbaren Wunden erleichtert, die der Krieg der Menschheit geschlagen hat. Je weniger organisatorische Erfahrung das russische Volk hat, desto entschiedener muß die organisatorische Aufbauarbeit vom Volke selbst und nicht allein von bürgerlichen Politikastern und Beamten auf „einträglichen Pöstchen“ in Angriff genommen werden.
Je schneller wir uns der alten Vorurteile des von den Herren Plechanow, Kautsky und Co. entstellten Marxismus, des Pseudomarxismus, entledigen, je eifriger wir an die Arbeit gehen, um dem Volk zu helfen, sofort und überall Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten zu schaffen und diesen wiederum zu helfen, das ganze Leben in ihre Hand zu nehmen, je länger die Herren Lwow und Co. die Einberufung der Konstituierenden Versammlung hinausschieben werden, um so leichter wird es dem Volke fallen, sich für die Republik der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten zu entscheiden (durch Vermittlung der Konstituierenden Versammlung oder ohne sie, wenn Lwow noch sehr lange zögert, sie einzuberufen). Fehler sind bei der neuen organisatorischen Aufbauarbeit durch das Volk selbst zunächst unvermeidlich, aber es ist besser, Fehler zu machen und vorwärtszuschreiten, als abzuwarten, bis die von Herrn Lwow berufenen Professoren der Rechtskunde Gesetze verfaßt haben über die Einberufung der Konstituierenden Versammlung, über die Verewigung der parlamentarischen bürgerlichen Republik und über die Erdrosselung der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten.
Wenn wir uns organisieren und unsere Propaganda geschickt betreiben, so werden nicht nur die Proletarier, sondern auch neun Zehntel der Bauernschaft gegen die Wiederherstellung der Polizei, gegen die unabsetzbare und privilegierte Beamtenschaft, gegen das vom Volke getrennte Heer sein. Und hierin allein besteht ja der neue Staatstypus.
12. Die Ersetzung der Polizei durch die Volksmiliz das ist eine Umgestaltung, die sich aus dem ganzen Verlauf der Revolution ergeben hat und die jetzt in den meisten Orten Rußlands durchgeführt wird. Wir müssen den Massen klarmachen, daß in den meisten bürgerlichen Revolutionen vom gewöhnlichen Typus eine solche Umgestaltung äußerst kurzlebig war und die Bourgeoisie selbst die allerdemokratischste und allerrepublikanischste die vom Volke getrennte, der Befehlsgewalt von Bourgeois unterstellte alte Polizei vom zaristischen Typus wieder eingesetzt hat, die dazu geeignet ist, das Volk in jeder Weise zu unterdrücken.
Es gibt nur ein Mittel, die Wiederherstellung der Polizei zu verhindern: die Schaffung einer allgemeinen Volksmiliz, ihre Verschmelzung mit dem Heer (Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung). An der Tätigkeit dieser Miliz müssen ausnahmslos alle Bürger und Bürgerinnen vom 15. bis zum 65. Lebensjahr teilnehmen, wenn es statthaft ist, durch diese ungefähren Altersgrenzen die Beteiligung der Halbwüchsigen und der alten Leute festzulegen. Die Kapitalisten müssen den Lohnarbeitern, den Dienstboten usw. die Tage bezahlen, die diese im öffentlichen Dienst bei der Miliz verbringen. Ohne die Heranziehung der Frauen zur selbständigen Teilnahme nicht allein am politischen Leben schlechthin, sondern auch am ständigen, von allen zu leistenden öffentlichen Dienst kann von Sozialismus keine Rede sein, ja nicht einmal von einer vollständigen und dauerhaften Demokratie.
Solche Funktionen der „Polizei“ aber wie die Fürsorge für Kranke, die Sorge um verwahrloste Kinder, um gesunde Ernährung usw. sind ohne die tatsächliche, nicht nur auf dem Papier bestehende Gleichberechtigung der Frauen überhaupt nicht befriedigend durchzuführen.
Die Wiederherstellung der Polizei nicht zuzulassen, die
organisatorischen Kräfte des ganzen Volkes zur Schaffung einer
allgemeinen Miliz heranzuziehen das sind die Aufgaben, die das
Proletariat im Interesse der Verteidigung, Festigung und
Weiterentwicklung der Revolution in die Massen tragen muß.
13. Wir können im gegenwärtigen Augenblick nicht mit Sicherheit wissen, ob sich in der nächsten Zukunft eine machtvolle Agrarrevolution im russischen Dorfe entfalten wird. Wir können nicht wissen, wie tiefgehend die Klassenscheidung der Bauernschaft in Knechte, Lohnarbeiter und arme Bauern („Halbproletarier“) einerseits und wohlhabende und mittlere Bauern (Kapitalisten und Kleinkapitalisten) anderseits ist, die in letzter Zeit zweifellos Fortschritte gemacht hat. Nur die Erfahrung kann und wird eine Antwort auf solche Fragen geben.
Als Partei des Proletariats aber sind wir unbedingt verpflichtet, sofort nicht nur mit einem Agrarprogramm (Bodenprogramm) hervorzutreten, sondern auch unverzüglich durchführbare praktische Maßnahmen im Interesse der bäuerlichen Agrarrevolution in Rußland zu propagieren.
Wir müssen die Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens fordern, d. h. den Übergang des gesamten Grund und Bodens im Staate in das Eigentum der zentralen Staatsmacht. Diese Staatsmacht muß den Umfang usw. des Umsiedlungsfonds festsetzen, sie muß die Gesetze über Forstschutz, Meliorationen usw. erlassen, sie muß unbedingt jede Art Vermittlertätigkeit zwischen dem Eigentümer des Bodens, d. h. dem Staate, und seinem Pächter, d. h. dem Landwirt, verbieten (Verbot jeder Weiterverpachtung des Bodens). Aber die gesamte Verfügungsgewalt über den Grund und Boden sowie die Festsetzung der örtlichen Bedingungen des Besitz- und Nutzungsrechts darf keinesfalls in bürokratischen, in Beamtenhänden liegen, sondern muß restlos und ausschließlich den Gebiets- und Ortssowjets der Bauerndeputierten zustehen.
Um die Getreideproduktion in ihrer Technik zu verbessern und ihren Umfang zu vergrößern, um ferner eine rationelle Großwirtschaft zu entwickeln und die gesellschaftliche Kontrolle über diese sicherzustellen, müssen wir innerhalb der Bauernkomitees darauf hinarbeiten, daß jede konfiszierte Gutswirtschaft in einen Mustergroßbetrieb verwandelt wird, der unter der Kontrolle der Sowjets der Landarbeiterdeputierten steht.
Im Gegensatz zur kleinbürgerlichen Phrase und Politik, wie sie bei den Sozialrevolutionären herrscht, besonders in ihrem leeren Gerede von der „Verbrauchs“oder „Arbeits“norm, von der „Sozialisierung des Grund und Bodens“ usw., muß die Partei des Proletariats mit aller Klarheit auseinandersetzen, daß das System der Kleinwirtschaft beim Bestehen der Warenproduktion nicht imstande ist, die Menschheit von Massenelend und Massenunterdrückung zu erlösen.
Ohne sofort und unbedingt die Sowjets der Bauerndeputierten zu spalten, muß die Partei des Proletariats erläutern, daß es notwendig ist, besondere Sowjets der Landarbeiterdeputierten und besondere Sowjets der Deputierten der armen (halbproletarischen) Bauern zu schaffen oder zumindest besondere ständige Beratungen der Deputierten dieser Klassenlage in Form besonderer Fraktionen oder Parteien innerhalb der allgemeinen Sowjets der Bauerndeputierten. Andernfalls werden all die süßlichen kleinbürgerlichen Phrasen der Volkstümler von der Bauernschaft schlechthin nur den Betrag verschleiern, den die wohlhabenden Bauern, die nur eine Abart der Kapitalisten sind, an der besitzlosen Masse begehen.
Im Gegensatz zu den bürgerlich-liberalen oder rein bürokratischen Predigten vieler Sozialrevolutionäre und Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, die den Bauern empfehlen, sich der Ländereien der Gutsbesitzer nicht zu bemächtigen und die Umgestaltung der Agrarverhältnisse nicht vor der Einberufung der Konstituierenden Versammlung zu beginnen, muß die Partei des Proletariats die Bauern auffordern, die Umgestaltung der Agrarverhältnisse sofort und selbständig in Angriff zu nehmen und die Ländereien der Gutsbesitzer unverzüglich auf Beschluß der örtlichen Bauerndeputierten zu konfiszieren.
Besonders wichtig ist es hierbei, Nachdruck darauf zu legen, daß die Lebensmittelproduktion für die Soldaten an der Front und für die Städte unbedingt gesteigert werden muß, daß jede Schädigung des Viehbestands, jede Beschädigung oder Zerstörung der Geräte, Maschinen, Gebäude usw. usf. absolut unzulässig ist.
14. In der nationalen Frage muß die proletarische Partei sich vor allem einsetzen für die Proklamierung und sofortige Verwirklichung der vollen Freiheit der Lostrennung von Rußland für alle vom Zarismus unterdrückten, gewaltsam dem Staat einverleibten bzw. zwangsweise in den Staatsgrenzen festgehaltenen, d. h. annektierten Nationen und Völkerschaften.
Alle Erklärungen, Deklarationen und Manifeste über den Verzicht auf Annexionen, die nicht mit der tatsächlichen Verwirklichung der Freiheit der Lostrennung Hand in Hand gehen, sind nichts als bürgerlicher Volksbetrug oder kleinbürgerliche fromme Wünsche.
Die proletarische Partei erstrebt die Schaffung eines möglichst großen Staates, denn dies ist für die Werktätigen vorteilhaft; sie erstrebt die Annäherung und weitere Verschmelzung der Nationen, aber sie will dieses Ziel nicht mittels Gewalt erreichen, sondern ausschließlich auf dem Wege eines freien, brüderlichen Bündnisses der Arbeiter und der werktätigen Massen aller Nationen.
Je demokratischer die Republik Rußland sein wird, je erfolgreicher, sie sich als Republik der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten organisiert, desto stärker werden sich die werktätigen Massen aller Nationen freiwillig zu einer solchen Republik hingezogen fühlen.
Volle Freiheit der Lostrennung, weitestgehende lokale (und
nationale) Autonomie, bis ins einzelne ausgearbeitete Garantien der
Rechte der nationalen Minderheit das ist das Programm des
revolutionären Proletariats.
15. Die Partei des Proletariats darf sich unter keinen Umständen das Ziel setzen, in einem Lande der Kleinbauernschaft den Sozialismus „einzuführen“, bevor nicht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution erkannt hat.
Doch nur bürgerliche, sich hinter „beinahe-marxistische“ Schlagworte versteckende Sophisten können aus dieser Wahrheit folgern, daß eine Politik gerechtfertigt sei, die die sofortige Durchführung praktisch völlig ausgereifter revolutionärer Maßnahmen hinausschiebt, wie sie während des Krieges von einer Reihe bürgerlicher Staaten nicht selten getroffen wurden, Maßnahmen, die zur Bekämpfung der nahenden vollständigen wirtschaftlichen Zerrüttung und der Hungersnot dringend notwendig sind.
Solche Maßnahmen wie die Nationalisierung des Grund und Bodens,
sämtlicher Banken und Syndikate der Kapitalisten oder zumindest die
Errichtung der sofortigen Kontrolle über sie durch die
Sowjets der Arbeiterdeputierten usw., Maßnahmen, die durchaus nicht
die „Einführung“ des Sozialismus bedeuten, müssen unbedingt
verfochten und, nach Maßgabe des Möglichen, auf revolutionärem
Wege verwirklicht werden. Auf anderem Wege als durch diese Maßnahmen,
die nur Schritte zum Sozialismus und ökonomisch durchaus
durchführbar sind, ist die Heilung der Wunden, die der Krieg
geschlagen hat, und die Verhütung des drohenden Zusammenbruchs
unmöglich, und die Partei des revolutionären Proletariats wird vor
einem Angriff auf die unerhört hohen Profite der Kapitalisten und
Bankiers, die sich gerade „am Kriege“ in besonders skandalöser
Weise bereichern, niemals haltmachen.
16. Die internationalen Pflichten der Arbeiterklasse Rußlands treten gerade jetzt mit besonderem Nachdruck in den Vordergrund.
Alles schwört heutzutage auf den Internationalismus, selbst die chauvinistischen Vaterlandsverteidiger, selbst die Herren Plechanow und Potressow; ja selbst Kerenski nennt sich Internationalist. Um so dringendere Pflicht der proletarischen Partei ist es, mit aller Deutlichkeit, Schärfe und Bestimmtheit dem Internationalismus in Worten den Internationalismus der Tat entgegenzustellen.
Bloße Aufrufe an die Arbeiter aller Länder, nichtssagende Beteuerungen der Ergebenheit für den Internationalismus, Versuche, direkt oder indirekt eine „Reihenfolge“ der Aktionen des revolutionären Proletariats in den verschiedenen kriegführenden Ländern festzusetzen, krampfhafte Anstrengungen, zwischen den Sozialisten der kriegführenden Länder „Vereinbarungen“ über den revolutionären Kampf zu treffen, Bemühungen, sozialistische Kongresse für eine Friedenskampagne zustande zu bringen usw. usf. alles das ist, wie aufrichtig die Urheber solcher Ideen, solcher Versuche oder solcher Pläne auch sein mögen, seiner objektiven Bedeutung nach nur Phrasendrescherei, im besten Falle sind es naive, fromme Wünsche, nur geeignet, den Betrug der Chauvinisten an den Massen zu verschleiern. Und die geschicktesten, in den Schlichen und Kniffen des parlamentarischen Schwindels am meisten geübten französischen Sozialchauvinisten haben seit langem jeden Rekord geschlagen in puncto unglaublich geschwollener, wohltönender pazifistischer und internationalistischer Phrasen, die verbunden sind mit einem unerhört schamlosen Verrat am Sozialismus und an der Internationale, mit dem Eintritt in die den imperialistischen Krieg führenden Regierungen, mit der Stimmabgabe für die Kredite oder für die Anleihen (wie es Tschcheïdse, Skobelew, Zereteli, Steklow in den letzten Tagen in Rußland getan haben), mit Maßnahmen gegen den revolutionären Kampf im eigenen Lande usw. usf.
Die guten Leute vergessen oft die harte, grausame Wirklichkeit des imperialistischen Weltkriegs. Diese Wirklichkeit duldet keine Phrasen, sie spottet aller naiven, frommen Wünsche.
Es gibt nur einen wirklichen Internationalismus: die hingebungsvolle Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eben eines solchen Kampfes, eben einer solchen Linie und nur einer solchen allein in ausnahmslos allen Ländern.
Alles andere ist Betrug und Manilowerei. [2*]
Die internationale sozialistische und Arbeiterbewegung hat in über zwei Kriegsjahren in allen Ländern drei Strömungen hervorgebracht, und wer den realen Boden der Anerkennung der Existenz dieser drei Strömungen, ihrer Analyse und des konsequenten Kampfes für die wirklich internationalistische Strömung verläßt, der verurteilt sich selbst zur Ohnmacht, zur Hilflosigkeit und zu Fehlern.
Die drei Strömungen sind folgende:
1. Die Sozialchauvinisten, d. h. Sozialisten in Worten, Chauvinisten in der Tat das sind Leute, die für die „Verteidigung des Vaterlands“ im imperialistischen Krieg (und vor allen Dingen im gegenwärtigen imperialistischen Krieg) eintreten.
Diese Leute sind unsere Klassengegner. Sie sind auf die Seite der Bourgeoisie übergegangen.
Zu ihnen gehört die Mehrheit der offiziellen Führer der offiziellen Sozialdemokratie in allen Ländern: die Herren Plechanow und Co. in Rußland, die Scheidemänner in Deutschland, Renaudel, Guesde, Sembat in Frankreich, Bissolati und Co. in Italien, Hyndman, die Fabier [3] und die „Labouristen“ (die Führer der „Arbeiterpartei“) [4] in England, Branting und Co. in Schweden, Troelstra und seine Partei in Holland, Stauning und seine Partei in Dänemark, Victor Berger und andere „Vaterlandsverteidiger“ in Amerika usw.
2. Die zweite Strömung – das sogenannte „Zentrum“ – besteht aus Leuten, die zwischen den Sozialchauvinisten und den wirklichen Internationalisten schwanken.
Alle Anhänger des „Zentrums“ beteuern hoch und heilig, sie seien Marxisten, Internationalisten, sie seien für den Frieden, für jederlei “ „Druck“ auf die Regierungen, für jederlei „Forderungen“ an die eigene Regierung, sie solle „den Friedenswillen des Volkes kundtun“, sie seien für alle möglichen Kampagnen zugunsten des Friedens, für einen Frieden ohne Annexionen usw. usf. – und für den Frieden mit den Sozialchauvinisten. Das „Zentrum“ ist für die „Einheit“, das „Zentrum“ ist ein Gegner der Spaltung.
Das „Zentrum“ ist das Reich der gefälligen kleinbürgerlichen Phrase, des Internationalismus in Worten, des feigen Opportunismus und der Liebedienerei gegenüber den Sozialchauvinisten in der Tat.
Der Kern der Sache ist, daß das „Zentrum“ von der Notwendigkeit der Revolution gegen die eigenen Regierungen nicht überzeugt ist, sie nicht propagiert, daß es keinen rückhaltlosen revolutionären Kampf führt, daß es gegen ihn die allerplattesten – und erz„marxistisch“ klingenden – Ausflüchte erfindet.
Die Sozialchauvinisten sind unsere Klassengegner, sie sind die Bourgeois innerhalb der Arbeiterbewegung. Sie vertreten jene Schichten, Zwischenschichten und Gruppen der Arbeiterschaft, die von der Bourgeoisie objektiv bestochen sind (bessere Löhne, Ehrenämter usw.) und die der eigenen Bourgeoisie behilflich sind, kleine und schwache Völker auszuplündern und zu unterdrücken und den Kampf um der Teilung der kapitalistischen Beute willen zu führen.
Das „Zentrum“ das sind Leute der Routine, zerfressen von der faulen Legalität, korrumpiert durch die Atmosphäre des Parlamentarismus usw., Beamte, gewöhnt an warme Pöstchen und an „ruhige“ Arbeit.
Historisch und ökonomisch gesehen, vertreten sie keine besondere Schicht, sie sind lediglich eine Erscheinung des Übergangs von der hinter uns liegenden Periode der Arbeiterbewegung, der Periode von 1871 bis 1914 – einer Periode, die viel Wertvolles geschaffen hat, besonders in der für das Proletariat notwendigen Kunst der langsamen, beharrlichen, systematischen Organisationsarbeit auf breiter und breitester Grundlage –, zu einer neuen Periode, die seit dem ersten imperialistischen Weltkrieg, der die Ära der sozialen Revolution eingeleitet hat, objektiv unumgänglich geworden ist.
Der wichtigste Führer und Repräsentant des „Zentrums“ ist Karl Kautsky, die bedeutendste Autorität der II. Internationale (1889–1914), das Musterbeispiel einer vollständigen Aufgabe des Marxismus, ein Musterbeispiel unerhörter Charakterlosigkeit, jämmerlichster Schwankungen und Verrätereien seit August 1914. Der „Zentrum“strömung gehören an Kautsky, Haase, Ledebour, die sogenannte „Arbeitsgemeinschaft“ [5] im Reichstag; in Frankreich Longuet, Pressemane und die sogenannten „Minoritaires“ [6] (Minderheitler) überhaupt; in England Philip Snowden, Ramsay MacDonald und viele andere Führer der „Unabhängigen Arbeiterpartei“ [7] und zum Teil der „Britischen Sozialistischen Partei“ [8]; Morris Hillquit und viele andere in Amerika; Turati, Treves, Modigliani usw. in Italien; Robert Grimm u. a. in der Schweiz; Victor Adler und Co. in Österreich; die Partei des Organisationskomitees, Axelrod, Martow, Tschcheïdse, Zereteli u. a. in Rußland usw.
Selbstverständlich gehen mitunter einzelne Personen, ohne es selbst zu merken, von der Position des Sozialchauvinismus zur Position des „Zentrums“ über und umgekehrt. Jeder Marxist weiß, daß die Klassen sich voneinander unterscheiden, unbeschadet des freien Hinüberwechselns einzelner Personen von einer Klasse zur andern; genauso unterscheiden sich die Strömungen des politischen Lebens voneinander, unbeschadet des freien Hinüberwechselns einzelner Personen von der einen Strömung zur anderen, unbeschadet der Versuche und Anstrengungen, die Strömungen zu vereinigen.
3. Die dritte Strömung sind die wirklichen Internationalisten, denen die „Zimmerwalder Linke“ [9] am nächsten kommt (im Anhang drucken wir ihr Manifest vom September 1915 ab, damit der Leser sich über die Entstehung dieser Strömung an Hand von authentischem Material unterrichten kann).
Ihr wichtigstes Unterscheidungsmerkmal: der völlige Bruch sowohl mit dem Sozialchauvinismus als auch mit dem „Zentrum“, der rückhaltlose revolutionäre Kampf gegen die eigene imperialistische Regierung und die eigene imperialistische Bourgeoisie. Ihr Prinzip: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“ Schonungsloser Kampf gegen die süßliche sozialpazifistische Phrase (der Sozialpazifist ist Sozialist in Worten, bürgerlicher Pazifist in der Tat; die bürgerlichen Pazifisten träumen vom ewigen Frieden ohne die Abschüttelung des Jochs und der Herrschaft des Kapitals) sowie gegen alle Ausflüchte, die den Zweck haben, in Abrede zu stellen, daß der revolutionäre Kampf des Proletariats und die proletarische, sozialistische Revolution in Verbindung mit dem gegenwärtigen Krieg möglich, angebracht oder aktuell sind.
Die bedeutendsten Vertreter dieser Strömung: In Deutschland die „Spartakusgruppe“ oder „Gruppe Internationale“ [10], der Karl Liebknecht angehört. Karl Liebknecht ist der berühmteste Repräsentant dieser Strömung und der neuen, wirklichen, proletarischen Internationale.
Karl Liebknecht hat die Arbeiter und Soldaten Deutschlands aufgerufen, die Waffen gegen die eigene Regierung zu kehren. Karl Liebknecht tat das offen von der Tribüne des Parlaments (des Reichstags) herab. Er ging dann zu einer Kundgebung auf den Potsdamer Platz, einen der größten Plätze Berlins, wobei er illegal gedruckte Flugschriften mit der Forderung „Nieder mit der Regierung“ verteilte. Er wurde verhaftet und zu Zuchthaus verurteilt. Er sitzt jetzt in Deutschland im Zuchthaus, wie überhaupt Hunderte, wenn nicht Tausende wirklicher Sozialisten in Deutschland für ihren Kampf gegen den Krieg eingekerkert sind.
Karl Liebknecht führte in Reden und Briefen einen schonungslosen Kampf nicht nur gegen die eigenen Plechanow und Potressow (die Scheidemänner, Legien, David und Co.), sondern auch gegen die eigenen Zentristen, gegen die eigenen Tschcheïdse, Zereteli (die Kautsky, Haase, Ledebour und Co.).
Karl Liebknecht und sein Freund Otto Rühle sind unter 110 Reichstagsabgeordneten die einzigen gewesen, die die Disziplin durchbrochen und die „Einheit“ mit dem „Zentrum“ und den Chauvinisten zerstört haben, die sich gegen alle gestellt haben. Liebknecht allein vertritt den Sozialismus, die Sache des Proletariats, die proletarische Revolution. Die ganze übrige deutsche Sozialdemokratie ist nach dem treffenden Ausdruck Rosa Luxemburgs (ebenfalls Mitglied und eine Führerin der „Spartakusgruppe“) ein stinkender Leichnam.
Eine andere Gruppe der wirklichen Internationalisten in Deutschland wird durch die Bremer Zeitung Arbeiterpolitik vertreten.
In Frankreich stehen den wirklichen Internationalisten am nächsten: Loriot und seine Freunde (Bourderon und Merrheim sind zum Sozialpazifismus hinabgesunken) sowie der Franzose Henri Guilbeaux, der in Genf die Zeitschrift Demain herausgibt; in England die Zeitung The Trade Unionist und ein Teil der Mitglieder der „Britischen Sozialistischen Partei“ und der „Unabhängigen Arbeiterpartei“ (z. B. Russell Williams, der offen zum Bruch mit den zu Verrätern am Sozialismus gewordenen Führern aufgerufen hat), der schottische Volksschullehrer und Sozialist Maclean, der von der bürgerlichen Regierung Englands für seinen revolutionären Kampf gegen den Krieg zu Zuchthaus verurteilt wurde; Hunderte englische Sozialisten sind wegen derartiger Verbrechen eingekerkert. Sie und nur sie allein sind wirkliche Internationalisten; in Amerika die „Sozialistische Arbeiterpartei“ [11] und jene Elemente innerhalb der opportunistischen „Sozialistischen Partei“ [12], die seit Januar 1917 die Zeitung The Internationalist herausgeben; in Holland die Partei der „Tribunisten“ [13], die die Zeitung De Tribune herausgibt (Pannekoek, Herman Gorter, Wijnkoop, Henriette Roland-Holst, die in Zimmerwald zum Zentrum gehörte, jetzt aber zu uns übergegangen ist); in Schweden die Partei der Jungen oder Linken [14] mit Führern wie Lindhagen, Türe Nerman, Karlson, Ström, S. Höglund, der in Zimmerwald an der Gründung der „Zimmerwalder Linken“ persönlich beteiligt war und jetzt für seinen revolutionären Kampf gegen den Krieg zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde; in Dänemark Trier und seine Freunde, die der vollkommen verbürgerlichten „Sozialdemokratischen“ Partei Dänemarks, an deren Spitze Minister Stauning steht, den Rücken gekehrt haben; in Bulgarien die „Tesnjaki“ [15]; in Italien stehen den wirklichen Internationalisten Konstantin Lazzari, der Sekretär der Partei, und Serrati, der Redakteur des Zentralorgans Avanti! [16] am nächsten; in Polen Radek, Hanecki und andere Führer der durch den „Landesvorstand“ vereinigten Sozialdemokratie; Rosa Luxemburg, Tyszka und andere Führer der durch den „Hauptvorstand“ vereinigten Sozialdemokratie; in der Schweiz jene Linken, die das „Referendum“ (Januar 1917) für den Kampf gegen die Sozialchauvinisten und gegen das „Zentrum“ des eigenen Landes motivierten und auf dem Züricher sozialistischen Kantonalparteitag in Töß am 11. Februar 1917 eine revolutionäre prinzipielle Resolution gegen den Krieg [17] einbrachten; in Österreich die jungen linken Freunde Friedrich Adlers, die teilweise in dem „Karl-Marx-Klub“ in Wien wirkten; dieser Klub ist jetzt von der stockreaktionären österreichischen Regierung, die Friedrich Adler wegen seines heldenhaften, wenn auch wenig überlegten Schusses auf einen Minister nach dem Leben trachtet, aufgelöst worden. Usw., usw.
Es kommt nicht auf die Schattierungen an, die es auch unter den Linken gibt. Es kommt auf die Richtung an. Der ganze Kern der Sache ist, daß es nicht leicht ist, in der Epoche des furchtbaren imperialistischen Krieges wirklicher Internationalist zu sein. Solche Menschen gibt es nur wenige, aber nur sie sind die ganze Zukunft des Sozialismus, nur sie sind Führer der Massen und nicht Verführer der Massen.
Die Unterschiede zwischen den Reformisten und den Revolutionären, unter den Sozialdemokraten, unter den Sozialisten überhaupt, mußten unter den Verhältnissen des imperialistischen Krieges mit objektiver Zwangsläufigkeit eine Änderung erfahren. Wer sich darauf beschränkt, von den bürgerlichen Regierungen zu „fordern“, sie sollten Frieden schließen oder sie sollten den „Friedenswillen der Völker kundtun“ usw., der gleitet in Wirklichkeit zu Reformen ab. Denn die Frage des Krieges kann, objektiv gesehen, nur revolutionär gestellt werden.
Es gibt keinen anderen Ausweg, der aus dem Krieg zu einem demokratischen, nicht auf Gewalt basierenden Frieden führt, zur Befreiung der Völker von der Schuldknechtschaft der Milliardenzinsen für die Herren Kapitalisten, welche sich „am Kriege“ bereichert haben es gibt keinen anderen Ausweg als die Revolution des Proletariats.
Von den bürgerlichen Regierungen kann und muß man die verschiedensten Reformen fordern, man kann aber nicht, ohne in Manilowerei, in Reformismus zu verfallen, von diesen tausendfach in die Fäden des imperialistischen Kapitals verstrickten Leuten und Klassen verlangen, sie sollten diese Fäden zerreißen; werden sie aber nicht zerrissen, so ist alles Gerede vom Krieg gegen den Krieg hohle, betrügerische Phrase.
Die „Kautskyaner“, das „Zentrum“, sind Revolutionäre in
Worten, Reformisten in der Tat – Internationalisten in Worten,
Helfershelfer des Sozialchauvinismus in der Tat.
17. Die Zimmerwalder Internationale nahm von Anbeginn an eine schwankende, „kautskyanische“, „zentristische“ Position ein, was denn auch die Zimmerwalder Linke zwang, sich sofort von ihr abzugrenzen, sich abzusondern, mit einem eigenen (in der Schweiz in russischer, deutscher und französischer Sprache gedruckten) Manifest hervorzutreten.
Der Hauptmangel der Zimmerwalder Internationale, die Ursache ihres Zusammenbruchs (denn sie ist ideologisch-politisch bereits zusammengebrochen) sind die Schwankungen, die Unentschlossenheit in der wichtigsten, praktisch alles bestimmenden Frage des völligen Bruchs mit dem Sozialchauvinismus und der von Vandervelde, von Huysmans im Haag (Holland) und anderen geführten sozialchauvinistischen alten Internationale.
Bei uns weiß man noch nicht, daß die Zimmerwalder Mehrheit gerade aus Kautskyanern besteht. Dabei ist das aber eine grundlegende Tatsache, die man nicht unberücksichtigt lassen darf und die in Westeuropa heute allgemein bekannt ist. Sogar ein Chauvinist wie der extreme deutsche Chauvinist Heilmann, Redakteur der erzchauvinistischen Chemnitzer Volksstimme und Mitarbeiter der erzchauvinistischen Parvusschen Glocke [18] (der natürlich „Sozialdemokrat“ und eifriger Verfechter der „Einheit“ der Sozialdemokratie ist), mußte in der Presse zugeben, daß das Zentrum bzw. das „Kautskyanertum“ und die Zimmerwalder Mehrheit ein und dasselbe sind.
Das Ende des Jahres 1916 und der Anfang des Jahres 1917 haben diese Tatsache endgültig bestätigt. Obwohl das Kienthaler Manifest [19] den Sozialpazifismus verurteilt hat, ist die ganze Zimmerwalder Rechte, die ganze Zimmerwalder Mehrheit zum Sozialpazifismus hinabgeglitten: Kautsky und Co. in einer Reihe von Stellungnahmen im Januar und Februar 1917; Bourderon und Merrheim in Frankreich, indem sie einmütig mit den Sozialchauvinisten für die pazifistischen Resolutionen der Sozialistischen Partei (Dezember 1916) und des „Allgemeinen Gewerkschaftsbunds“ (Spitzenorganisation der französischen Gewerkschaften, gleichfalls im Dezember 1916) stimmten,Turati und Co. in Italien, wo die ganze Partei einen sozialpazifistischen Standpunkt einnahm und Turati persönlich sich in seiner Rede vom 17. Dezember 1916 (und natürlich nicht zufällig) zu nationalistischen, den imperialistischen Krieg beschönigenden Phrasen „hinreißen“ ließ.
Der Vorsitzende von Zimmerwald und Kienthal, Robert Grimm, ging im Januar 1917 ein Bündnis mit den Sozialchauvinisten der eigenen Partei (Greulich, Pflüger, Gustav Müller u. a.) gegen die wirklichen Internationalisten ein.
Auf zwei von Zimmerwaldern verschiedener Länder beschickten Beratungen im Januar und Februar 1917 wurde diese zwiespältige und heuchlerische Haltung der Zimmerwalder Mehrheit von linken Internationalisten mehrerer Länder in aller Form gebrandmarkt: von Münzenberg, dem Sekretär der internationalen Jugendorganisation und Redakteur der ausgezeichneten internationalistischen Zeitung Jugend-Internationale [20]; von Sinowjew, dem Vertreter des ZK unserer Partei; von K. Radek aus der Polnischen Sozialdemokratischen Partei („Landesvorstand“) und von Hartstein, einem deutschen Sozialdemokraten, einem Mitglied der „Spartakusgruppe“.
Dem russischen Proletariat ist viel gegeben; nirgends in der Welt ist es der Arbeiterklasse bisher gelungen, eine solche revolutionäre Energie zu entfalten wie in Rußland. Aber wem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern.
Der Zimmerwalder Sumpf darf nicht länger geduldet werden. Es geht nicht an, der Zimmerwalder „Kautskyaner“ wegen die halbe Verbindung mit der chauvinistischen Internationale der Plechanow und Scheidemänner länger aufrechtzuerhalten. Man muß unverzüglich mit dieser Internationale brechen. Man soll nur zur Information in Zimmerwald bleiben.
Gerade wir müssen, gerade jetzt, ohne Zeit zu verlieren, eine neue, revolutionäre, proletarische Internationale gründen, oder richtiger gesagt, wir dürfen uns nicht fürchten, vor aller Welt zu erklären, daß sie schon gegründet ist und wirkt.
Das ist die Internationale jener „wirklichen Internationalisten“, die ich oben genau aufgezählt habe. Sie und nur sie sind die Vertreter der revolutionären, internationalistischen Massen, und nicht die Verführer der Massen.
Wenn die Zahl solcher Sozialisten auch klein ist, so möge sich doch jeder russische Arbeiter fragen, ob es in Rußland am Vorabend der Februar–März-Revolution 1917 viele bewußte Revolutionäre gegeben hat.
Es kommt nicht auf die Zahl an, sondern auf den richtigen Ausdruck der Ideen und der Politik des wirklich revolutionären Proletariats. Das Wesentliche ist nicht die „Proklamierung“ des Internationalismus, sondern die Fähigkeit, selbst in den schwierigsten Zeiten wirklicher Internationalist zu sein.
Wir wollen uns keinen trügerischen Hoffnungen auf Vereinbarungen und internationale Kongresse hingeben. Solange der imperialistische Krieg fortdauert, werden die internationalen Beziehungen in den eisernen Schraubstock der imperialistisch-bürgerlichen Militärdiktatur eingezwängt sein. Wenn sogar der „Republikaner“ Miljukow, der gezwungen ist, die Nebenregierung des Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dulden, dem Schweizer Sozialisten Fritz Platten, dem Sekretär der Partei, einem Internationalisten und Teilnehmer an der Zimmerwalder und Kienthaler Konferenz, im April 1917 die Einreise nach Rußland verweigerte, obwohl dieser mit einer Russin verheiratet ist und zu den Verwandten seiner Frau reiste, obwohl er in Riga an der Revolution von 1905 teilgenommen, deshalb in einem russischen Gefängnis gesessen und bei der zaristischen Regierung eine Kaution für seine Freilassung hinterlegt hatte, die er zurückbekommen wollte – wenn der „Republikaner“ Miljukow in Rußland im April 1917 derartiges tun konnte, so kann man danach beurteilen, was alle Versprechungen und Verheißungen, Phrasen und Deklarationen der Bourgeoisie über einen Frieden ohne Annexionen usw. wert sind.
Und die Verhaftung Trotzkis durch die englische Regierung? Und die Festhaltung Martows in der Schweiz und die Hoffnung, ihn nach England zu locken, wo ihn das Schicksal Trotzkis erwartet?
Wir wollen uns keinen Illusionen hingeben. Wir brauchen keinen Selbstbetrug.
Auf internationale Kongresse oder Konferenzen „warten“ heißt Verräter am Internationalismus sein, zumal erwiesen ist, daß man selbst aus Stockholm keine dem Internationalismus treu gebliebenen Sozialisten zu uns läßt, ja nicht einmal Briefe von ihnen durchläßt, trotz der durchaus gegebenen Kontrollmöglichkeit und der grenzenlosen Strenge der Militärzensur.
Unsere Partei darf nicht „warten“, sondern muß sofort die dritte Internationale gründen, und Hunderte von Sozialisten in den Kerkern Deutschlands und Englands werden erleichtert aufatmen, Tausende und aber Tausende deutscher Arbeiter, die heute zum Entsetzen des Halunken und Räubers Wilhelm Streiks und Demonstrationen veranstalten, werden in illegalen Flugblättern von unserem Entschluß lesen, von unserem brüderlichen Vertrauen zu Karl Liebknecht und nur zu ihm, von unserem Entschluß, auch jetzt gegen die „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“ zu kämpfen, sie werden das lesen und in ihrem revolutionären Internationalismus gestärkt werden.
Wem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern. Es gibt in der Welt kein Land, in dem jetzt eine solche Freiheit herrscht wie in Rußland. Benutzen wir diese Freiheit, nicht um die Unterstützung der Bourgeoisie oder der bürgerlichen „revolutionären Vaterlandsverteidigung“ zu predigen, sondern zur kühnen und ehrlichen, proletarischen, Liebknechtschen Gründung der dritten Internationale, einer sowohl den Verrätern, den Sozialchauvinisten, als auch den schwankenden Gestalten des „Zentrums“ unwiderruflich feindlich gegenüberstehenden Internationale.
18. Daß von einer Vereinigung der Sozialdemokraten in Rußland keine Rede sein kann, darüber bedarf es nach dem oben Gesagten nicht vieler Worte.
Lieber zu zweit bleiben, wie Liebknecht – und das heißt beim revolutionären Proletariat bleiben –, als auch nur einen Augenblick den Gedanken einer Vereinigung mit der Partei des Organisationskomitees, mit den Tschcheïdse und Zereteli zulassen, die den Block mit Potressow in der Rabotschaja Gaseta dulden, die im Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiterdeputierten für die Anleihe stimmen [21], die zur „Vaterlandsverteidigung“ hinabgesunken sind.
Laßt die Toten ihre Toten begraben.
Wer den Schwankenden helfen will, muß damit beginnen, daß
er selbst aufhört zu schwanken.
19. Ich komme zum letzten, zum Namen unserer Partei. Wir müssen uns Kommunistische Partei nennen, so wie Marx und Engels sich Kommunisten nannten.
Wir müssen wiederholen, daß wir Marxisten sind und auf dem Boden des Kommunistischen Manifests stehen, das von der Sozialdemokratie in zwei Hauptpunkten entstellt und verraten wurde:
Der Name „Sozialdemokratie“ ist wissenschaftlich unrichtig, wie Marx mehrfach, unter anderem in der Kritik des Gothaer Programms von 1875, gezeigt und wie Engels es 1894 in populärerer Weise wiederholt hat. [22] Vom Kapitalismus kann die Menschheit unmittelbar nur zum Sozialismus übergehen, d. h. zum Gemeinbesitz an den Produktionsmitteln und zur Verteilung der Produkte nach dem Maße der Arbeitsleistung jedes einzelnen. Unsere Partei blickt weiter: der Sozialismus muß unvermeidlich allmählich in den Kommunismus hinüberwachsen, auf dessen Banner geschrieben steht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“
Das ist mein erstes Argument.
Das zweite: Wissenschaftlich unrichtig ist auch der zweite Teil des Namens unserer Partei (Sozialdemokraten). Die Demokratie ist eine der Formen des Staates. Indes sind wir Marxisten Gegner jedes Staates.
Die Führer der II. Internationale (1889–1914), die Herren Plechanow, Kautsky und ihresgleichen, haben den Marxismus verflacht und entstellt.
Der Marxismus unterscheidet sich dadurch vom Anarchismus, daß er die Notwendigkeit des Staates für den Übergang zum Sozialismus anerkennt, aber (und das unterscheidet ihn von Kautsky und Co.) nicht eines Staates in der Art der gewöhnlichen parlamentarischen bürgerlichen demokratischen Republik, sondern eines Staates wie die Pariser Kommune von 1871, wie die Sowjets der Arbeiterdeputierten von 1905 und 1917.
Mein drittes Argument: Das Leben, die Revolution hat bei uns schon praktisch, wenn auch nur in schwach entwickelter Form, in Keimform eben diesen neuen „Staat“ geschaffen, der kein Staat im eigentlichen Sinne des Wortes ist.
Es ist das bereits eine Frage der Praxis der Massen und nicht nur eine Theorie der Führer.
Der Staat im eigentlichen Sinne ist die Machtausübung über die Massen durch Formationen bewaffneter Menschen, die vom Volke getrennt sind.
Unser im Werden begriffener, neuer Staat ist auch ein Staat, denn wir brauchen Formationen bewaffneter Menschen, brauchen die strengste Ordnung, brauchen die schonungslose gewaltsame Unterdrückung aller Anschläge der Konterrevolution, sowohl der zaristischen als auch der bürgerlich-Gutschkowschen.
Aber unser im Werden begriffener, neuer Staat ist schon kein Staat mehr im eigentlichen Sinne des Wortes, denn in verschiedenen Orten Rußlands sind diese Formationen bewaffneter Menschen die Masse selbst, das ganze Volk und nicht irgendwelche über das Volk gestellte, von ihm getrennte, privilegierte, praktisch unabsetzbare Leute.
Nicht rückwärtszublicken gilt es, sondern vorwärts, nicht auf die Demokratie von gewöhnlichem bürgerlichem Typus, die die Herrschaft der Bourgeoisie mit Hilfe der alten, monarchistischen Verwaltungsorgane, der Polizei, des Heeres, der Beamtenschaft festigte.
Es gilt vorwärtszublicken auf die im Werden begriffene neue Demokratie, die schon aufhört, eine Demokratie zu sein, denn Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes, das bewaffnete Volk selbst aber kann nicht über sich herrschen.
Das Wort Demokratie, angewandt auf die kommunistische Partei, ist nicht nur wissenschaftlich unrichtig. Es ist jetzt, nach dem März 1917, eine Scheuklappe, die man dem revolutionären Volk anlegt und die es hindert, frei, kühn, nach eigenem Ermessen das Neue aufzubauen: die Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und aller anderen Deputierten, als einzige Macht im „Staate“, als Vorboten des „Absterbens“ jedes Staates.
Mein viertes Argument: Man muß mit der objektiven Lage des Sozialismus in der ganzen Welt rechnen.
Diese Lage ist nicht mehr dieselbe wie in der Zeit von 1871 bis 1914, in der Marx und Engels sich bewußt mit der unrichtigen, opportunistischen Bezeichnung „Sozialdemokratie“ abfanden. Denn damals, nach der Niederlage der Pariser Kommune, hatte die Geschichte die langsame Organisations- und Aufklärungsarbeit auf die Tagesordnung gesetzt.
Eine andere Arbeit gab es nicht. Die Anarchisten waren (und bleiben) nicht nur theoretisch, sondern auch ökonomisch und politisch vollständig im Unrecht. Die Anarchisten beurteilten die Lage falsch, da sie die internationale Situation nicht begriffen: der durch die imperialistischen Profite korrumpierte Arbeiter Englands, die niedergeschlagene Kommune in Paris, die eben (1871) Sieger gewordene bürgerlich-nationale Bewegung in Deutschland, das einen jahrhundertelangen Schlaf schlafende, halb in Leibeigenschaft steckende Rußland.
Marx und Engels beurteilten die Lage richtig, sie verstanden die internationale Situation, sie erkannten die Aufgabe: das langsame Vorwärtsschreiten zum Beginn der sozialen Revolution.
Begreifen denn auch wir die Aufgaben und Besonderheiten der neuen Epoche. Wir wollen nicht jene Jammermarxisten nachahmen, von denen Marx sagte: „Ich habe Drachen gesäet und habe Flöhe geerntet.“ [23]
Der Kapitalismus, der in den Imperialismus übergegangen ist, hat mit objektiver Notwendigkeit den imperialistischen Krieg erzeugt. Der Krieg hat die ganze Menschheit an den Rand des Abgrunds gebracht, er droht, zum Untergang aller Kultur, zur Barbarei, zur Vernichtung weiterer Millionen und aber Millionen Menschen zu führen.
Es gibt keinen Ausweg außer der Revolution des Proletariats.
Und in einem solchen Augenblick, wo diese Revolution beginnt, wo sie ihre ersten, zaghaften, unsicheren, unbewußten, der Bourgeoisie gegenüber allzu vertrauensseligen Schritte macht in einem solchen Augenblick ist die Mehrheit (das ist wahr, das ist Tatsache) der „sozialdemokratischen“ Führer, der „sozialdemokratischen“ Parlamentarier, der „sozialdemokratischen“ Zeitungen – und das sind ja gerade die Organe zur Beeinflussung der Massen –, ist ihre Mehrheit dem Sozialismus untreu geworden, hat den Sozialismus verraten, hat sich auf die Seite der „eigenen“ nationalen Bourgeoisie geschlagen.
Diese Führer haben die Massen verwirrt, irregemacht, betrogen. Und wir sollen diesem Betrug Vorschub leisten, ihn erleichtern, indem wir uns an jenen alten und veralteten Namen klammern, der ebenso verfault ist wie die II. Internationale!
Mag sein, daß „viele“ Arbeiter die Bezeichnung Sozialdemokratie ehrlich auffassen. Es ist aber an der Zeit, zu lernen, das Subjektive vom Objektiven zu unterscheiden.
Subjektiv sind diese sozialdemokratischen Arbeiter treueste Führer der proletarischen Massen.
Die objektive Lage, die Lage in der ganzen Welt ist aber so, daß der alte Name unserer Partei den Betrug an den Massen erleichtert und die Vorwärtsbewegung hemmt, denn auf Schritt und Tritt, in jeder Zeitung, in jeder Parlamentsfraktion sieht die Masse die Führer, d. h. Leute, deren Worte weithin hörbar, deren Taten weithin sichtbar sind und sie alle sind „Auch-Sozialdemokraten“, sind „für die Einheit“ mit den Verrätern am Sozialismus, mit den Sozialchauvinisten, sie alle weisen von der „Sozialdemokratie“ ausgestellte alte Wechsel zur Einlösung vor ...
Und die Gegenargumente? ... „Man wird uns mit den Anarcho-Kommunisten verwechseln“ ...
Warum fürchten wir denn nicht die Verwechslung mit den Sozialnationalen und Sozialliberalen, mit den Radikalsozialisten, dieser im bürgerlichen Massenbetrug fortgeschrittensten und geschicktesten bürgerlichen Partei der französischen Republik? ... „Die Massen haben sich daran gewöhnt, die Arbeiter haben ihre sozialdemokratische Partei ‚liebgewonnen‘“ ...
Das ist das einzige Argument, aber das ist doch ein Argument, das sowohl die Wissenschaft des Marxismus ignoriert als auch die Zukunftsaufgaben in der Revolution, die objektive Lage des Weltsozialismus, den schmachvollen Zusammenbruch der II. Internationale und die Schädigung der praktischen Arbeit durch die das Proletariat in Scharen umgebenden „Auch-Sozialdemokraten“.
Das ist ein Argument des Festhaltens am Gewohnten, ein Argument der Lethargie, ein Argument der Trägheit.
Wir aber wollen die Welt umgestalten. Wir wollen Schluß machen mit dem imperialistischen Weltkrieg, in den Hunderte Millionen von Menschen hineingezogen, mit dem die Interessen von Hunderten und aber Hunderten Milliarden Kapital verstrickt sind, der ohne die gewaltigste Umwälzung in der Geschichte der Menschheit ohne die proletarische Revolution nicht durch einen wirklich demokratischen Frieden beendet werden kann.
Und wir fürchten uns vor uns selber. Wir wollen das „gewohnte“, „liebgewordene“, schmutzige Hemd anbehalten ...
Es ist an der Zeit, sich des schmutzigen Hemdes zu entledigen, es ist an der Zeit, saubere Wäsche anzuziehen.
Petrograd, den 10. April 1917
Infolge der wirtschaftlichen Zerrüttung und der Arbeitsunfähigkeit der Petersburger Druckereien ist meine Broschüre veraltet. Die Broschüre wurde am 10. April 1917 geschrieben, heute aber ist der 28. Mai, und sie ist noch immer nicht heraus!
Die Broschüre wurde als Entwurf einer Plattform geschrieben und sollte der Propagierung meiner Ansichten vor der Gesamtrussischen Konferenz unserer Partei, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, Bolschewiki, dienen. Auf der Schreibmaschine abgeschrieben, wurde sie vor und während der Konferenz in einigen Exemplaren an die Parteimitglieder verteilt und hat somit immerhin einen gewissen Teil ihrer Aufgabe erfüllt. Jetzt aber hat die Konferenz – vom 24.–29. April 1917 – bereits stattgefunden, ihre Resolutionen sind längst herausgegeben (siehe Beilagen zu Nr. 13 der Soldatskaja Prawda [24]), und der aufmerksame Leser wird leicht feststellen können, daß meine Broschüre oftmals den ersten Entwurf dieser Resolutionen darstellt.
Mir bleibt nur übrig, der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß die Broschüre im Zusammenhang mit diesen Resolutionen, als Kommentar dazu, dennoch einigen Nutzen bringen wird, und schließlich noch auf zwei Punkte einzugehen.
Auf S. 27 schlage ich vor, in Zimmerwald nur zur Information zu bleiben. [3*] Die Konferenz stimmte mir in diesem Punkt nicht zu, und ich war gezwungen, gegen die Resolution über die Internationale zu stimmen. Schon jetzt wird klar erkennbar, daß die Konferenz einen Fehler begangen hat und daß der Gang der Ereignisse diesen Fehler rasch korrigieren wird. Durch unser Verbleiben in Zimmerwald machen wir uns (wenn auch gegen unseren Willen) an der Verzögerung der Gründung der III. Internationale mitschuldig; wir hemmen indirekt ihre Gründung, weil wir uns mit dem toten Ballast des ideologisch und politisch schon toten Zimmerwald belasten.
Die Lage unserer Partei gegenüber allen Arbeiterparteien der ganzen Welt ist jetzt so, daß es unsere Pflicht ist, unverzüglich die III. Internationale zu gründen. Außer uns gibt es niemand, der das jetzt tun könnte, und jeder Aufschub ist schädlich. Wären wir in Zimmerwald nur zur Information geblieben, dann hätten wir zu einer solchen Gründung sofort freie Hand erhalten (und wären zu gleicher Zeit imstande gewesen, Zimmerwald auszunutzen, wenn die Situation das erlaubt hätte).
Jetzt aber sind wir infolge des von der Konferenz begangenen Fehlers gezwungen, mindestens bis zum 5. Juli 1917 untätig zu warten (dem Termin, zu dem die Konferenz der Zimmerwalder einberufen ist; dabei müssen wir noch froh sein, wenn sie nicht noch einmal vertagt wird! Einmal wurde sie schon vertagt ...).
Doch der Beschluß, den das ZK unserer Partei nach der Konferenz einstimmig angenommen hat und der in Nr. 55 der Prawda vom 12. Mai abgedruckt wurde, hat den Fehler zur Hälfte korrigiert: es wurde beschlossen, daß wir Zimmerwald verlassen, wenn es sich auf Beratungen mit den Ministern einlassen sollte. [4*] Ich erlaube mir, der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß der Fehler auch zur anderen Hälfte rasch korrigiert wird, sobald wir die erste internationale Beratung der „Linken“ (die „dritte Strömung“, die „wirklichen Internationalisten“, vgl. oben, S. 23 bis 25 [5*]) einberufen.
Der zweite Punkt, auf den man eingehen muß, ist die Bildung des „Koalitionskabinetts“ am 6. Mai 1917. In diesem Punkt scheint die Broschüre besonders veraltet zu sein.
In Wirklichkeit aber ist sie gerade in diesem Punkt absolut nicht veraltet. Sie baut alles auf der Klassenanalyse auf, die die Menschewiki und die Volkstümler, die den zehn kapitalistischen Ministern sechs Minister als Geiseln gegeben haben, wie das Feuer fürchten. Und eben weil die Broschüre alles auf der Klassenanalyse aufbaut, ist sie nicht veraltet, denn der Eintritt von Zereteli, Tschernow und Co. in das Kabinett hat in geringfügigem Maße nur die Form des Abkommens des Petrograder Sowjets mit der Regierung der Kapitalisten verändert, ich habe aber auf S. 8 der Broschüre absichtlich betont, daß „ich nicht so sehr das formelle Abkommen als vielmehr die tatsächliche Unterstützung im Auge habe“. [6*]
Mit jedem Tage wird es klarer, daß Zereteli, Tschernow und Co. eben nur Geiseln der Kapitalisten sind, daß die „erneuerte“ Regierung sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik von ihren pompösen Versprechungen nicht das geringste einlösen will und kann. Tschernow, Zereteli und Co. haben sich politisch erledigt, haben sich als Helfershelfer der Kapitalisten erwiesen, die in Wahrheit die Revolution zu erwürgen suchen; Kerenski ist gesunken bis zur Gewaltanwendung gegen die Massen (vgl. S. 9 der Broschüre: „Gutschkow droht einstweilen nur mit Gewaltanwendung gegen die Massen“ [7*], Kerenski aber mußte diese Drohungen verwirklichen ...). Tschernow, Zereteli und Co. haben sich und ihre Parteien, die Partei der Menschewiki und die der Sozialrevolutionäre, politisch erledigt. Mit jedem Tag wird das Volk das immer klarer erkennen.
Das Koalitionskabinett ist nur ein Übergangsmoment in der Entwicklung der grundlegenden, in meiner Broschüre kurz analysierten Klassengegensätze unserer Revolution. Das kann nicht lange so weitergehen.
Entweder zurück zur Konterrevolution auf der ganzen Linie, oder vorwärts zum Übergang der Macht in die Hände anderer Klassen. Auf dem Fleck stehenbleiben kann man in einer revolutionären Zeit, in der Situation des imperialistischen Weltkrieges, nicht.
Petersburg, den 28. Mai 1917
1*. Anspielung auf die Krylowsche Fabel Der Kater und der Koch. – Der Übers.
2*. Manilow Gestalt aus Gogols Roman Die toten Seelen. – Der Übers.
3*. Siehe hier im vorliegenden Text. – Die Red.
4*. Siehe W. I. Lenin, Über die Einberufung einer internationalen „sozialistischen“ Konferenz unter Teilnahme der Sozialchauvinisten, Werke, Bd. 24, S. 385. – Die Red.
5*. Siehe hier im vorliegenden Text. – Die Red.
6*. Siehe hier im vorliegenden Text. – Die Red.
7*. Siehe hier im vorliegenden Text. – Die Red.
1. Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, Berlin 1958, S. 34.
2. Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1959, S. 494.
3. Fabier – Mitglieder der reformistischen, extrem-opportunistischen „Gesellschaft der Fabier“, die 1884 in England von einer Gruppe bürgerlicher Intellektueller gegründet worden war. Sie nannte sich nach dem römischen Feldherrn Fabius Cunctator („der Zauderer“), bekannt durch seine abwartende Taktik und sein Ausweichen vor Entscheidungsschlachten. Lenin bezeichnete die Gesellschaft der Fabier als den „vollendeten Ausdruck des Opportunismus und einer liberalen Arbeiterpolitik“. Die Fabier lenkten das Proletariat vom Klassenkampf ab und predigten den friedlichen, allmählichen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus mittels Reformen. Im imperialistischen Weltkrieg 1914–1918 waren die Fabier Sozialchauvinisten. Eine Charakteristik der Fabier findet sich in folgenden Schriften Lenins: Vorwort zur russischen Übersetzung des Buches Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere (Werke, Bd. 12, S. 368/369); das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der russischen Revolution (Werke, 4. Ausgabe, Bd. 15, S. 154, russ.); Der englische Pazifismus und die englische Abneigung gegen die Theorie (Werke, 4. Ausgabe, Bd. 21, S. 234, russ.) u. a.
4. „Labouristen“ – die Mitglieder der englischen Arbeiterpartei (Labour Party). Die Labour Party wurde 1900 als Vereinigung von Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften, sozialistischer Parteien und Gruppen) mit dem Ziel gegründet, eine Arbeitervertretung im Parlament zu schaffen. Diese Vereinigung hieß zunächst „Komitee für Arbeitervertretung“ und nannte sich 1906 in Labour Party um. Die Labour Party ist ihrer Ideologie und Taktik nach eine opportunistische Organisation, und ihre Politik ist die der Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie. Während des imperialistischen Weltkriegs 1914–1918 bezogen die Führer der Labour Party eine sozialchauvinistische Position.
5. „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ – Organisation der deutschen Zentristen, die im März 1916 von Reichstagsabgeordneten, die sich von der offiziellen sozialdemokratischen Reichstagsfraktion abgespalten hatten, gebildet wurde. Diese Gruppe wurde zum Kern der 1917 gegründeten zentristischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die die offenen Sozialchauvinisten rechtfertigte und für die Aufrechterhaltung der Einheit mit ihnen eintrat.
6. Minoritaires oder Longuetisten – 1915 entstandene Minderheit in der Sozialistischen Partei Frankreichs. Die Longuetisten (Anhänger des Sozialreformisten Longuet) vertraten zentristische Anschauungen und betrieben gegenüber den Sozialchauvinisten eine paktiererische Politik.
Während des ersten Weltkriegs vertraten die Longuetisten einen sozialpazifistischen Standpunkt. Nach dem Sieg der Oktoberrevolution in Rußland bekannten sie sich zwar in Worten zur Diktatur des Proletariats, blieben ihr aber in Wirklichkeit feindlich gesinnt. Sie setzten die Politik der Versöhnung mit den Sozialchauvinisten fort und billigten den Raubfrieden von Versailles. Nachdem die Longuetisten auf dem Parteitag der Sozialistischen Partei Frankreichs, der im Dezember 1920 in Tours stattfand und bei dem der linke Flügel siegte, in der Minderheit geblieben waren, spalteten sie sich nebst den offenen Reformisten von der Partei ab und schlossen sich der sogenannten zweieinhalbten Internationale an. Nach deren Zerfall kehrten sie in die II. Internationale zurück.
7. Die „Unabhängige Arbeiterpartei Englands“ (Independent Labour Party) wurde 1893 gegründet. An der Spitze der Partei standen James Keir Hardie, R. MacDonald und andere. Sie erhob Anspruch auf politische Unabhängigkeit von den bürgerlichen Parteien, war jedoch in Wirklichkeit, wie Lenin sich ausdrückte, „unabhängig vom Sozialismus, aber abhängig vom Liberalismus“. Während des imperialistischen Weltkriegs 1914–1918 trat die Unabhängige Arbeiterpartei zunächst mit einem Manifest gegen den Krieg hervor (13. August 1914), später hingegen, in der Londoner Konferenz der Sozialisten der Ententeländer im Februar 1915, stimmten die Unabhängigen der in dieser Konferenz angenommenen sozialchauvinistischen Resolution zu. Seitdem standen die sich mit pazifistischen Phrasen tarnenden Führer der Unabhängigen auf den Positionen des Sozialchauvinismus. Nach der Gründung der Kommunistischen Internationale im Jahre 1919 beschlossen die Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei unter dem Druck der nach links geschwenkten Massen der Parteimitglieder den Austritt aus der II. Internationale. 1921 traten die Unabhängigen der sogenannten zweieinhalbten Internationale bei und schlossen sich nach deren Zerfall von neuem der II. Internationale an.
8. Die Britische Sozialistische Partei (BSP – British Socialist Party) wurde 1911 in Manchester gegründet. Ihr Kern war die im Jahre 1884 entstandene Sozialdemokratische Föderation (mit Hyndman, Harry Quelch, Tom Mann u. a. an der Spitze), die sich später in Sozialdemokratische Partei umbenannte. Die Britische Sozialistische Partei trieb Propaganda und Agitation im Geiste des Marxismus und war eine „nicht opportunistische, tatsächlich von den Liberalen unabhängige“ Partei (Lenin). Ihre zahlenmäßige Schwäche und ihre Losgelöstheit von den Massen verliehen ihr einen gewissen sektiererischen Charakter.
Während des imperialistischen Weltkriegs 1914–1918 bildeten sich in der Partei zwei Richtungen heraus: eine offen sozialchauvinistische unter der Führung von Hyndman und eine internationalistische unter der Führung von A. Inkpin, Th. Rothstein u. a. Im April 1916 spaltete sich die Partei. Hyndman und seine Anhänger blieben in der Minderheit und traten aus der Partei aus. Seitdem hatten die internationalistischen Elemente in der BSP die Führung inne, die gegen den imperialistischen Krieg kämpften. Die Britische Sozialistische Partei ergriff die Initiative zur Gründang der Kommunistischen Partei Großbritanniens im Jahre 1920.
9. Die Zimmerwalder Linke wurde von Lenin auf der ersten Sozialistischen Konferenz der Internationalisten gebildet, die Anfang September 1915 in Zmmerwald (Schweiz) stattfand. Lenin bezeichnete diese Konferenz als den „ersten Schritt“ in der Entwicklung der internationalen Bewegung gegen den Krieg. Mit Lenin an der Spitze nahmen die Bolschewiki in der Gruppe der Zimmerwalder Linken den einzig richtigen und völlig konsequenten Standpunkt ein. Der Gruppe gehörten auch inkonsequente Internationalisten an. Lenin kritisierte sie in seinen Schriften Über die Junius-Broschüre, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung und Über die Losung der „Entwaffnung“. (Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 22, S. 291–305, 306–344, russ., und Bd. 23, S. 91–101.)
10. Die Gruppe „Internationale“ wurde zu Beginn des ersten Weltkriegs von den deutschen linken Sozialdemokraten Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Franz Mehring u. a. gebildet. Später nannte sich die Gruppe auch „Spartakusbund“. Die Spartakisten trieben unter den Massen revolutionäre Propaganda gegen den imperialistischen Krieg; sie entlarvten die Eroberungspolitik des deutschen Imperialismus und den Verrat der sozialdemokratischen Führer. In wichtigen theoretischen und politischen Fragen jedoch vertraten die Spartakisten und überhaupt die deutschen Linken andere Positionen als die Bolschewiki: so entwickelten sie eine andere Theorie des Imperialismus, lehnten das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen in seiner Leninschen Auffassung (d. h. bis zur Lostrennung und Bildung selbständiger Staaten) ab, verneinten die Möglichkeit nationaler Befreiungskriege in der Epoche des Imperialismus, unterspielten die Rolle der revolutionären Partei und huldigten der Spontaneität der Bewegung. Diese Positionen der deutschen Linken kritisierte Lenin in den Schriften: Über die Junius-Broschüre, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ u. a. (Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 22, S. 291–305, russ., und Bd. 23, S. 18–71.) 1917 schlossen sich die Spartakisten der zentristischen Partei der „Unabhängigen“ an, wahrten aber ihre organisatorische Selbständigkeit. Nach der deutschen Novemberrevolution von 1918 brachen die Spartakisten mit den „Unabhängigen“ und gründeten im Dezember desselben Jahres die Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund).
11. Die „Sozialistische Arbeiterpartei Amerikas“ entstand 1876 durch Verschmelzung der amerikanischen Sektionen der I. Internationale, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und einer Reihe sozialistischer Gruppen der USA. Die Mehrheit der Parteimitglieder waren Emigranten. Die Sozialistische Arbeiterpartei Amerikas war ihrem Charakter nach oft sektiererisch. In den Jahren des ersten Weltkriegs neigte die Sozialistische Arbeiterpartei Amerikas zum Internationalismus.
12. Lenin meint die revolutionäre Minderheit der 1901 gegründeten Sozialistischen Partei Amerikas (einer reformistischen Partei). Die revolutionäre Minderheit stand auf den Positionen des Internationalismus und trat gegen den imperialistischen Krieg (1914–1918) auf. Unter dem Einfluß der Oktoberrevolution in Rußland bildete sie einen linken Flügel, der 1921 zum Initiator der Gründung der Kommunistischen Partei der USA und deren leitender Kern wurde.
Die rechte Mehrheit der Sozialistischen Partei Amerikas rechtfertigte während des ersten Weltkriegs (1914–1918) den imperialistischen Krieg und unterstützte die Politik des amerikanischen Imperialismus.
13. Partei der „Tribunisten“ nennt Lenin die Sozialdemokratische Partei Hollands, die 1909 entstand. Ursprünglich bildeten die Tribunisten in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Hollands den linken Flügel, der 1907 die Zeitung De Tribune gründete und sich um sie zusammenschloß. 1909 wurden die Tribunisten aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ausgeschlossen und gründeten eine selbständige Partei. Die Tribunisten bildeten zwar den linken Flügel der holländischen Arbeiterbewegung, waren aber keine konsequent revolutionäre Partei. 1918 beteiligten sie sich an der Gründung der Kommunistischen Partei Hollands.
Die Zeitung De Tribune war seit 1909 Organ der Sozialdemokratischen Partei Hollands und von 1918 bis 1937 Organ der Kommunistischen Partei.
14. Partei der Jungen oder Linken in Schweden nannte Lenin die linke Strömung in der schwedischen Sozialdemokratie. Während des imperialistischen Weltkriegs standen die „Jungen“ auf den Positionen des Internationalismus und schlossen sich der Zimmerwalder Linken an. Im Mai 1917 gründeten sie die Linke Sozialdemokratische Partei Schwedens. 1919 beschloß der Parteitag dieser Partei den Anschluß an die Kommunistische Internationale. Der revolutionäre Flügel der Partei bildete 1921 die Kommunistische Partei Schwedens, die der Kommunistischen Internationale beitrat.
15. „Tesnjaki“ („Engherzige“) – revolutionäre sozialdemokratische Arbeiterpartei Bulgariens, die 1903 nach der Spaltung der Sozialdemokratischen Partei gegründet wurde. Begründer und Führer der Partei der „Tesnjaki“ war D. Blagojeff; später traten seine Schüler – G. Dimitroff, W . Kolaroff und andere – an ihre Spitze. In den Jahren 1914–1918 kämpften die „Tesnjaki“ gegen den imperialistischen Krieg. Im Jahre 1919 traten sie der Kommunistischen Internationale bei und gründeten die Kommunistische Partei Bulgariens.
16. Avanti! (Vorwärts!) – Tageszeitung, Zentralorgan der Italienischen Sozialistischen Partei; gegründet im Dezember 1896. Während des imperialistischen Weltkriegs 1914–1918 vertrat die Zeitung einen inkonsequenten internationalistischen Standpunkt; sie brach nicht mit den Reformisten.
17. Die erwähnte Resolution wurde von Lenin verfaßt und auf dem Parteitag der sozialdemokratischen Organisation des Kantons Zürich im Namen der Schweizer linken Sozialdemokraten eingebracht. (Siehe Werke, Bd. 23, S. 296.)
18. Die Glocke – Halbmonatsschrift; wurde in München und später in Berlin von 1915 bis 1925 von dem Mitglied der deutschen Sozialdemokratischen Partei Parvus (Helphand), einem Sozialchauvinisten und Agenten des deutschen Imperialismus, herausgegeben.
19. Gemeint ist der Aufruf An die getretenen und hingemordeten Völker, der von der zweiten Internationalen Konferenz der „Zimmerwalder“ beschlossen wurde. Die Konferenz fand vom 24. bis 30. April 1916 in Kienthal (Schweiz) statt.
20. Jugend-Internationale – Organ der internationalen Verbindung sozialistischer Jugendorganisationen, die sich der Zimmerwalder Linken angeschlossen hatte. Die Zeitschrift erschien von September 1915 bis Mai 1918 in Zürich.
21. Lenin bezieht sich darauf, daß die Menschewiki in der Sitzung des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets am 7. (20.) April 1917 für die Unterstützung der „Freiheitsanleihe“ stimmten, die die Provisorische Regierung zur Finanzierung der Kriegsausgaben ausgeschrieben hatte.
22. Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, Berlin 1958, S. 11–29, und Friedrich Engels, Internationales aus dem Volksstaat, Berlin 1957, S. 4/5.
23. Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 3 , Berlin 1958, S.498, sowie den Brief von Friedrich Engels an Paul Lafargue vom 27. Oktober 1890 (Die Neue Zeit, Jahrgang XIX, 1900/1901, Bd. I, Nr. 14, S. 427).
24. Soldatskaja Prawda (Soldatenprawda) – bolschewistische Tageszeitung; erschien zunächst (ab 15. [28.] April 1917) als Organ der Militärorganisation beim Petrograder Komitee der SDAPR(B); vom 19. Mai (1. Juni) 1917 an war sie das Organ der Militärorganisation beim Zentralkomitee der SDAPR(B). In den Julitagen 1917 wurde die Redaktion der Soldatskaja Prawda, gleichzeitig mit der der Prawda, demoliert und die Zeitung von der Provisorischen Regierung verboten. Nach der Oktoberrevolution wurde die Zeitung wieder unter dem alten Titel herausgegeben, sie erschien bis März 1918.
Zuletzt aktualisiert am 11. April 2017