Alexandra Kollontay


Bericht über die Arbeiterinnenbewegung
in Rußland

(Copenhague. August 1910)


Kollontay, A. 1910. Bericht über die Arbeiterinnenbewegung in Rußland.
In Berichte an die zweite Internationale Konferenz sozialistischer Frauen zu Kopenhagen am 26. und 27. August 1910, S. 73–76.
Transkription: Daniel Gaido.
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Zur Zeit der ersten Internationalen Konferenz der sozialistischen Frauen in Stuttgart konnte von einer proletarischen Frauenbewegung in Rußland noch nicht gesprochen werden. Die ersten bescheidenen Anfänge dazu haben sich erst im Laufe der drei vergangenen Jahre herausgebildet. Das bedeutet jedoch keineswegs, das die russischen Frauen vor dieser Zeit den politischen und sozialen Kämpfen in ihrem Vaterland und und teilnahmlos gegenübergestanden wären. Ist doch im Gegenteil ihr reger Anteil am politischen Leben, ihre Opferfreudigkeit, ihr Mut, ihre rege Betätigung für die Sache der sozialdemokratischen und sozialrevolutionären Parteien weltbekannt geworden. Allein es waren nur die gemeinschaftlichen sozialen und politischen Ziele für welche die Frauen Rußlands im Verein mit den Männern eintraten. Die besonderen Ansprüche und Bestrebungen der Frauen blieben ganz im Hintergrund.

Der revolutionäre Aufschwung beeinflußte die Proletarierinnen stark und nachhaltig, er rief ihr Selbstbewußtsein wach. So erhob die doppelt geknechtete Frau des Proletariats endlich ihre Stimme. In fast allen Gewerkschaftsblättern, in die Organen der Textil- und Tabakarbeiter, der Buchdrücker, Bäcker, Schneider usw. erschienen während der Jahre 1906 und 1907 Aufrufe und Artikel von Arbeiterinnen, die beweisen, daß die Proletarierin anfing, sich auch ihrer Lage als Frau bewußt zu werden.

Zur Zeit der ersten Duma machten die Sozialistinnen zum erstenmal den Versuch, eine spezielle Agitation unter den proletarischen Frauen zu entfalten. Im Frühjahr 1906 wurden in Petersburg mit Erfolg Arbeiterinnenklubs gegründet, die aber schon nach kurzem Bestehen polizeilich wieder aufgelöst wurden. Im Frühjahr 1907, zur Zeit der zweiten Duma, wurden diese Versuche erneuert. Die sozialdemokratischen Frauen in Petersburg veranstalteten gut besuchte öffentliche Versammlungen für Proletarierinnen. Im Oktober 1907 wurde der erste sozialdemokratische Arbeiterinnenbildungsverein gegründet, der ungefähr 200 bis 800 Mitglieder zählte. Diese Organisation hatte eine doppelte Aufgabe zu erfüllen: Sie sollte einerseits die Arbeiterinnen mit dem Organisationsgedanken vertraut machen, andererseits aber zur Aufklärung der rückständigen Frauenmassen beitragen. Leider wurde der Verein nach fünfmonatiger erfolgreicher Arbeit infolge inneren Zwiespaltes [1] in einen allgemeinen Arbeiterbildungsverein ohne Sonderziele verwandelt, welche die notwendige besondere Schulung der Arbeiterinnen berücksichtigten. Doch war damit das Bestreben der Proletarierinnen zur Entfaltung einer Frauenbewegung in Rußland nicht vernichtet.

Die Genossinnen betrieben anläßlich des bevorstehenden allrussischen Frauenkongresses im Jahre 1909 rege Propaganda. Eine spezielle Kommission, die sich aus Vertretern der verschiedensten Industriebranchen, aus Textilarbeiterinnen, Arbeiterinnen in Druckereien, Schneiderinnen, Kontoristinnen, Arbeiterinnen in Konfektionswerkstätten usw. zusammensetzte, übernahm die Vorbereitungsarbeiten zum Kongreß. Im Herbst 1908 fanden in Petersburg 40 Frauenversammlungen statt, ebenso mehrere in Moskau. Es wurden zu dem Kongreß 30 Vertreterinnen der Arbeiterinnen delegiert, die an den Arbeiten des Kongresses regen Anteil nahmen. Die Teilnahme der Arbeiterinnen am russischen Frauenkongreß war unbestreitbar von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Frauenbewegung in Rußland. Der innere Zwiespalt zwischen der bürgerlichen Frauenrechtelei und der noch im ersten Stadium ihrer Entwicklung begriffenen proletarischen Frauenbewegung trat offen zutage. Es entspann sich eine Polemik, die den Proletarierinnen Anregung und Aufklärung brachte. Nach Schluß des Kongresses wurde die Frauenfrage in Arbeiterversammlungen im Petersburg und auch in der Provinz besprochen. Einige Gewerkschaften, so der Verband der Textil- und Buchdruckereiarbeiter in Petersburg, der Textilarbeiter und Schneiderinnen in Baku und der Schneiderinnen in Moskau, faßten den Beschluß, spezielle Frauenagitationskommissionen zu bilden, um die weitere Entwicklung der proletarischen Frauenbewegung zu fördern und die Arbeiterinnen für die Partei und die Gewerkschachen zu gewinnen.

Allein die Reaktion in Rußland, die der Arbeiterbewegung unzählige Hindernisse entgegenstellt, hemmt auch die Entwicklung der proletarischen Frauenbewegung. Die fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung in Rußland zeitigt immer neue Versuche zur Förderung der Bewegung, jedoch stets von neuem macht sich die lähmende Wirkung der polizeilichen Hemmnisse und Schikanen geltend. Der Kongreß zur Bekämpfung der Prostitution, der im April 1910 in Petersburg tagte, brachte abermals reges Leben in die Kreise der Arbeiterinnen von Petersburg und Moskau. Geheime und öffentliche Versammlungen wurden abgehalten, und auch eine Vertreterin der Moskauer Arbeiterinnen ward zum Kongreß delegiert.

Infolge des Mangels an zuverlässigem statistischem Material ist es schwierig, ein richtiges Bild von der proletarischen Frauenbewegung in Rußland zu gewinnen. Doch steht fest, daß bie Zahl der auf irgend eine Weise organisierten Arbeiterinnen in Rußland sowohl absolut als auch im Verhältnis zur Zahl der männlichen Organisierten sehr gering ist, obwohl alle proletarischen Organisationen weibliche Mitglieder haben und die Frauen der geheimen sozialdemokratischen Partei, den legalen und halblegalen Gewerkschaften, Arbeiterbildungsvereinen usw. eingegliedert sind. Dies beweisen die letzten Zählungen der großen Gewerkschaften in Petersburg. Diese ergaben:

 

Männer

 

Frauen

Gewerkschaft der Textilarbeiter

  785

108

Buchdruckereiarbeiter

1878

  65

Metallarbeiter

über 3000

  12

Auch in den übrigen Gewerkschaften, in den Verbänden der Konfektionsarbeiterschaft, der Kartonnagearbeiter usw. stellen die Frauen nur einen geringen Prozentsatz der Mitglieder. Nicht günstiger sind die Verhältnisse in Moskau. Dort zählen die:

 

Männer

 

Frauen

Gewerkschaft der Textilarbeiter

900

60

Buchdruckereiarbeiter

200

30

Der Verein der im Teeverkauf beschäftigter Arbeiterschaft hat nur drei weibliche Mitglieder. Etwas günstiger ist die Zahl weiblicher Mitglieder der Arbeiterbildungsvereine in Petersburg. Dort machen die Frauen 20 bis 40 Prozent aller Mitglieder aus. Bei den Vorträgen sind bis zu 20 Prozent der Zuhörer weiblichen Geschlechts, bei den Kursen 8 bis 15 Prozent. Selbstverständlich werden die Frauen auch in den Vorstand der Arbeiterbildungsvereine und Gewerkschaften gewählt. Unter den organisierten Angehörigen der Partei befinden sich ebenfalls leider nur ausnahmsweise Frauen, nähere Angaben hierüber verbietet die geheime, illegale Existenz der Partei.

Die geringe Zahl der organisierten Arbeiterinnen, welche derjenigen der organisierten Arbeiter weit nachsteht, ist ein klarer Beweis, wie notwendig die weitere Entwicklung der besonderen Frauenagitation in Rußland geworden ist. Es ist deshalb warm zu begrüßen, daß die russischen Genossen ihre ablehnende Haltung gegenüber den Bestrebungen der proletarischen Frauenbewegung mehr und mehr aufgeben und diese nicht mehr als bloße „Frauenrechtelei“ ansehen. In den Partei- und Gewerkschaftsblättern wird die Ansprüchen der Frauen jetzt mehr Aufmerksamkeit geschenkt; auch wird ihnen zur Behandlung der sie betreffenden Fragen mehr Platz eingeräumt.

Die Förderung der sozialdemokratischen Frauenbewegung wird zur brennenden Tagesfrage, und man darf hoffen, daß zur nächsten Internationalen Frauenkonferenz der Bericht der russischen organisierten Arbeiterinnen inhaltreicher sein wird. Der unerläßliche und mutige Kampf des russischen Proletariats gegen die tobende Reaktion muß auch die Entwicklung einer geschulten und organisierten sozialdemokratischen Frauenbewegung in Rußland zur Folge haben.

* * *

Anmerkung

1. Einige Genossen und Genossinnen erachteten es für überflüssig, eine besondere Frauenagitation zu entfalten, und betrachteten die Versuche, eine besondere Frauenbewegung ins Leben zu rufen, als Frauenrechtelei.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2020