MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky
Veröffentlicht in Gewerkschaftliche Rundschau, Reichenberg (Tschechoslowakei), am 13. März und 3. April 1937.
Abgedruckt in Neue Gesellschaft, – 31 (1984), H. 2, S. 123–129.
HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Ehedem sagte man in Deutschland: „Hat der Bauer Geld, so hat s die ganze Welt!“ Das war damals vollkommen richtig, wo die ungeheuere Mehrheit der Nationen aus Bauern bestand. Es gilt heute nicht in den Industriestaaten. Da bilden die Lohnarbeiter die Mehrheit. Da ist das alte Wort dahin zu variieren: „Hat der Arbeiter Geld, so hat s die ganze Welt.“ Der Arbeiter verfügt aber über Geld nur dann, wenn er beschäftigt ist. Die Arbeitslosigkeit schädigt nicht bloß die Klasse der Lohnarbeiter, sondern die ganze Gesellschaft. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit liegt im allgemeinen Interesse.
Das ist heute bereits zu einem Gemeinplatz geworden. Nur besteht leider keine allgemeine Übereinstimmung über die Wege, die zur Aufhebung der Arbeitslosigkeit führen. Wenn man daran geht, sie zu erörtern, darf man vor allem eine entscheidende Tatsache nicht außer acht lassen: Die Arbeitslosigkeit hat zwei Quellen, jede derselben erzeugt eine besondere Art Arbeitslosigkeit und jede erheischt besondere Vorkehrungen zu ihrer Beseitigung. Die eine dieser Quellen ist die Absatzstockung, die andere der technische Fortschritt.
Gelegentliche Absatzstockungen, Krisen, sind so alt wie die kapitalistische Produktionsweise. Aber ebenso sicher wie die Krise kam ehedem die Prosperität, die ihr folgte. Ihre Aufeinanderfolge bildet einen Zyklus von etwa zehn Jahren, Marx hat ihn beobachtet. Aber gerade in der Zeit, in der er starb, nahm der zehnjährige Krisenzyklus ein Ende, ebenso wie die freie, liberale kapitalistische Wirtschaft. Die großen kapitalistischen Unternehmungen schließen sich in Truste zusammen, die Monopole zur Erzielung von Extraprofiten durch Produktionsbeschränkungen und damit zusammenhängende Preiserhöhungen bilden. Gleichzeitig kommen Hochschutzzölle auf, die den Markt beengen, damit die Monopolisten ihn beherrschen können. Die Militaristen drängen ihrerseits auf Autarkie. Jedes Land solle alles Notwendige, das es brauche, selbst erzeugen, um im Kriegsfall von Zufuhren aus dem Ausland unabhängig zu sein. Früher wurde der Markt immer mehr ausgedehnt durch internationale Arbeitsteilung. Jetzt sucht jeder Staat dasselbe zu produzieren wie der andere auch. Alles das schuf künstlich die Bedingungen für Absatzkrisen schon vor dem Weltkrieg. Er hat diese Tendenzen ungeheuer verstärkt und neue Krisenursachen hinzugefügt durch die allgemeine politische und ökonomische Unsicherheit, die ihm folgte. Er brachte zeitweise wahre Katastrophen mit sich, so besonders durch Inflation und sonstige Methoden der Geldentwertung, so wie durch das Auftauchen neuer Kriegsursachen. Das führte immer wieder zu Absatzstockungen.
Ehedem gingen diese aus den ökonomischen Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise hervor. Heute sind sie das Ergebnis künstlicher Eingriffe einzelner übermächtiger Kapitalistenorganisationen und der von ihnen beherrschten Regierungen. In der liberalen Ära folgte der Krise stets nach einigen Jahren eine Zeit der Prosperität. Heute, in der Zeit der kapitalistischen Monopole und der militaristischen Beherrschung der Produktion droht die Krise ein nur gelegentlich durch kurze Prosperitätsanläufe unterbrochener Dauerzustand zu bleiben, der so lange währen wird, wie die Gewaltherrschaft dieser Faktoren bei Fortdauer des Privateigentums an den Produktionsmitteln.
Um diesem Zustand ein Ende zu machen und allgemeine, dauernde Prosperität herbeizuführen, brauchen wir ein politisch starkes, ökonomisch gut unterrichtetes, fest organisiertes Proletariat im demokratischen Staate, das heißt, bei voller Selbstverwaltung auf allen wichtigen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, und zwar brauchen wir das zumindest in den entscheidenden Staaten der Weltwirtschaft. Ein einzelner Staat wird für sich allein nicht imstande sein, die Weltkrise zu überwinden.
Jedoch auch dann, wenn es gelingt, die Absatzstockung zu überwinden und eine neue, länger währende Ära der Prosperität herbeizuführen, dürfen wir nicht erwarten, daß damit schon die Arbeitslosigkeit ein Ende nimmt. Sie wird in diesem Falle wohl zurückgehen, aber nicht völlig verschwinden. Für die Kapitalisten allerdings wird die Ära der Prosperität zu einer Zeit wachsenden Profits werden.
Jeder industrielle Kapitalist trachtet ununterbrochen danach, seinen Profit dadurch zu erhöhen, daß er die Produktionskosten der Ware verringert, die er produziert. Das heißt, er trachtet stets danach, den Aufwand von Arbeit herabzusetzen, den sein Betrieb in Anspruch nimmt. Mit anderen Worten, er ist stets darauf erpicht, Arbeiter überflüssig zu machen, Arbeitslose zu schaffen. Das hat schon Marx in seinem Kapital nachgewiesen. Bürgerliche Ökonomen haben diese Behauptung bestritten, denn die Zahl der Arbeitslosen nahm bis zum Weltkrieg keineswegs beständig zu. Und es ist zuzugeben, daß die Tendenz zum Wachsen der Arbeitslosigkeit, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnt, durch andere Tendenzen paralysiert werden kann. Das hat Marx keineswegs übersehen, sondern er hat selbst darauf hingewiesen. Er sagte, daß die Arbeitslosigkeit dann nicht zuzunehmen braucht, wenn der Absatz der kapitalistischen Produkte und die Menge des in der Industrie angewandten Kapitals rascher wächst als die Freisetzung der Arbeiter durch die Einführung arbeitsparender Maschinen und Methoden. Das trat bis zum Weltkrieg immer wieder ein.
Seitdem hat sich das gründlich geändert. Die Ausdehnung des Absatzes der kapitalistisch produzierten Produkte wird immer mehr eingeschnürt durch die oben erwähnten Faktoren, Monopole, Hochschutzzölle, Verkehrsbeschränkungen. Gleichzeitig wurde seit 1914 immer wieder die Zunahme des industriell angewandten Kapitals gehemmt, teils durch direkte Kapitalvernichtung in Kriegshandlungen und Geldverschlechterungen, teils durch stete ökonomische und politische Unsicherheit, die zur Thesaurierung [Hortung; – Red.] großer Geldmassen drängt und sie dadurch der Produktion vorenthält.
Gleichzeitig aber haben die technischen Wissenschaften eine ungeheuere Vollkommenheit erreicht, die Mittel und Methoden der Arbeitssparung wachsen von Tag zu Tag in unerhörtem Maße. Vor hundert Jahren gab es noch nicht viele industrielle Erfinder außerhalb Englands und den damals noch wenig bewirtschafteten Oststaaten Amerikas. Wohl standen in Deutschland und Frankreich die Naturwissenschaften schon auf einer sehr hohen Stufe. Aber ihre Anwendung auf die Technik kam nur sporadisch vor. Wie gewaltig hat sich das seitdem geändert! Deutschland hat an Erfindungen seitdem England fast überflügelt, die Bevölkerung der Vereinigten Staaten ist von 18 Millionen auf 125 Millionen gestiegen. Großstaaten, wie Italien, Rußland, Japan, sind in den Bereich der kapitalistischen Industrie eingetreten und entwickeln auch Erfindergeist. Und die Grenzabschnürungen und Autarkietendenzen gelten höchstens für militärische, nicht aber für industrielle Erfindungen. Was in einem Lande erfunden wird, ahmen andere nach, wenn es profitabel ist, also Arbeit erspart.
Die Tendenzen nach Einführung arbeitssparender Mittel und Methoden erstarkten daher in den letzten Jahrzehnten rapid, in einer Weise, daß die in gegensätzlicher Richtung wirkenden Tendenzen nach Ausdehnung der Märkte und Vermehrung industrieller Kapitalien damit nicht Schritt halten können. Schon gar nicht dort, wo sie durch künstliche Eingriffe von Monopolisten und Militaristen fühlbar gehemmt werden. Jedoch auch dort, wo es gelingt, diese Hemmungen zu überwinden und eine Ära der Prosperität herbeizuführen, wird diese nicht die ganze Masse der Arbeitslosen aufzusaugen vermögen. Dazu gibt es nur ein Mittel, das unerläßlich ist unter den Anstrengungen, das Wirtschaftsleben in rascheren Gang zu bringen: eine ausgiebige Verkürzung der Arbeitszeit von Staats wegen.
Von allen staatlichen Maßnahmen, die notwendig sind, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, stößt jedoch keine auf so erbitterten Widerstand der Kapitalisten wie diese, auch Ökonomen und Politiker, die in keiner Weise persönlich am kapitalistischen Profit interessiert sind, tragen heute Bedenken, eine solche Verkürzung zu empfehlen. Man wendet dagegen ein, sie werde die Produktionskosten erhöhen, die Industrie ruinieren und damit erst recht die Arbeitslosigkeit vermehren.
Was an dieser Befürchtung berechtigt ist, bedarf einer eingehenden Untersuchung. Ihr soll ein eigener Artikel gewidmet werden.
Ohne eine weitgehende Verkürzung der Arbeitszeit ist die Arbeitslosigkeit nicht zu bannen. Für die Arbeiter ist es natürlich wichtiger, daß sie durchgesetzt wird bei gleichbleibendem Tageslohn. Droht eine derartige Verkürzung aber nicht den Kapitalprofit so sehr zu beschneiden, daß die kapitalistische Wirtschaft dabei unmöglich wird? Ohne Profit raucht bekanntlich kein Schornstein.
Kein Zweifel, eine weitgehende Verkürzung der Arbeitszeit ohne Verminderung des Tageslohnes bringt ernsthafte ökonomische Probleme mit sich, die gelöst werden müssen, soll das Wirtschaftsleben nicht Schaden leiden. Nichts irriger jedoch, als zu behaupten, sie seien unlösbar.
Zunächst ist zu erwägen, daß gerade für die technisch am höchsten entwickelten Betriebe, die für die Ökonomie des Landes die wichtigsten sind, die Lohnfrage die geringste Bedeutung hat. Denn von dem Kapital, das in solchen Betrieben investiert ist, wird nur ein kleiner Teil für Lohnzahlungen verwendet. Was sie am meisten zu befürchten haben, ist ungenügende Ausnützung ihres ungeheuer großen fixen Kapitals, das in Baulichkeiten und Maschinen besteht. Gerade in diesem Punkt bietet ihnen aber eine Verkürzung der Arbeitszeit erhöhte Profitmöglichkeiten, wenn sie Hand in Hand geht mit einer Verlängerung der Betriebszeit. Die tägliche Arbeitszeit des einzelnen Arbeiters und die tägliche Zeit des Betriebes eines Unternehmens sind keineswegs gleichbedeutend. Wenn in einer Fabrik die tägliche Arbeitszeit des einzelnen Arbeiters von 8 auf 6 Stunden herabgesetzt wird, so kann der Profit steigen, auch wenn der Tageslohn der gleiche bleibt und der Preis des einzelnen Produktes nicht erhöht wird. Das Wachsen des Profits wird hier dadurch erreicht, daß man in zwei Schichten arbeiten läßt, die Betriebszeit von bisher 8 etwa auf 12 Stunden erhöht. Der Wert der im Tag produzierten Waren steigt in diesem Falle um 50 Prozent, während das im Betrieb steckende fixe Kapital unverändert bleibt. In Unternehmungen mit bisher schon ununterbrochenem Betrieb, drei Schichten, wird andererseits der Profit unverkürzt bleiben oder sogar steigen, wenn bisher die Maschinen nur halb beschäftigt waren, seit der Verkürzung der Arbeitszeit aber voll beschäftigt werden.
Solche Methoden, der durch Kürzung der Arbeitszeit drohenden Verminderung des Profits zu entgehen, kann mancher Betrieb schon für sich allein in Anwendung bringen. Aber allerdings kommen sie nicht allgemein in Betracht. Sie versprechen nur für gewisse Betriebe unter gewissen Umständen vorteilhaft zu werden. Zum Glück sind wir keineswegs auf diese Methode allein angewiesen. Die anderen Methoden, die dafür in Betracht kommen, kann jedoch ein einzelnes Unternehmen für sich allein nicht durchführen, sie bedürfen des Eingriffs der Staatsgewalt.
Die Höhe des Profits, den ein Kapital im Jahre abwirft, hängt nicht bloß von jenem Profit ab, der in einem Tage erzielt wird, sondern auch von der Schnelligkeit des Umschlages des Kapitals im Jahre. Wenn mit einer bestimmten Kapitalsumme im Tage Waren mit drei Prozent Profit erzeugt werden, so wird das Kapital im Jahre 15 Prozent abwerfen, wenn es fünfmal im Jahr umschlägt. Belebt sich der Geschäftsgang, so daß es zehnmal im Jahre umschlägt, so wird es jährlich 30 Prozent abwerfen. Selbst wenn gleichzeitig der Profit pro Tagesproduktion von 3 auf 2 Prozent sinkt, kann es 20 Prozent im Jahre bringen.
Je weniger in einem Unternehmen das fixe Kapital bedeutet, je mehr in ihm das für Löhne verausgabte Kapital überwiegt, desto mehr wird in ihm eine Verminderung des Profits durch Verkürzung des Arbeitstages wettgemacht werden können. Durch eine Beschleunigung des Kapitalumschlages, wenn diese Verkürzung Hand in Hand geht mit einer Verbesserung des allgemeinen Geschäftsganges.
Nun muß schon eine Vermehrung der Zahl der beschäftigten Arbeiter bei gleichbleibender Lohnquote den Geschäftsgang verbessern, da dadurch die Zahl der Käufer auf dem Warenmarkt wächst. Außerdem aber muß jede Regierung, die so sehr von Arbeitern beeinflußt wird, daß sie eine einschneidende Verkürzung der Arbeitszeit vornimmt, neben dieser Maßregel auch andere ins Werk setzen, die den ökonomischen Prozeß beleben. Ich habe schon in meinem vorhergehenden Artikel „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ darauf hingewiesen.
Doch noch in anderer Weise vermag der Staat einer eventuellen Beeinträchtigung des Wirtschaftslebens durch eine Verkürzung der Arbeitszeit entgegenzutreten, wo sie eine Erhöhung der Produktionskosten herbeiführt. Es ist eine ganz absonderliche Vorstellung mancher Ökonomen, daß sie allein die Arbeitslöhne zu den Produktionskosten zählen. Wohl nimmt Marx, ebenso wie die klassische Schule der Nationalökonomie, an, daß der Wert einer Ware durch die in ihr steckende Arbeitsmenge bestimmt wird, aber diese Arbeit löst sich nicht in Arbeitslohn auf. Und schon gar nicht ist gesagt, daß der geschäftlich rechnende industrielle Kapitalist nur die von ihm gezahlten Arbeitslöhne als Produktionskosten ansieht.
Dasjenige, was Marx als Mehrwert bezeichnet, als unbezahlte Arbeit, löst sich unter seiner Betrachtung auf in Profit, Grundrente und Kapitalzins. Der einzelne industrielle Kapitalist hat vielfach an den Grundbesitzer Grundrente in Form von Miete oder Pacht und an den Geldkapitalisten von Kapitalzins von dem Mehrwert abzugeben, den er erzielt. Der Industrielle setzt aber Miete und Zins nicht als Mehrwert an – diese Kategorie existiert für ihn nicht – sondern als Produktionskosten, die der Bankier oder Grundbesitzer ihm auferlegt.
So weit die Erhöhung der Produktionskosten durch Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichbleibenden Löhnen und gleichbleibenden Preisen, für den einzelnen Unternehmer nicht wettgemacht werden kann durch verbesserte Ausnutzung des fixen Kapitals oder durch Beschleunigung des Kapitalumschlags, bieten Grundrente und Kapitalzins die Objekte, um jene Erhöhung hier durch eine Verminderung an anderer Stelle auszugleichen. Eine Gefährdung der Gesellschaft ist dabei nicht zu befürchten. Der Arbeiter (die Angestellten inbegriffen) ist nicht bloß im sozialistischen, sondern schon im kapitalistischen Betrieb die wichtigste Person für dessen Fortgang. Nach ihm kommt der Organisator des Betriebes, sein Direktor oder – in stets abnehmendem Maße – sein Besitzer in Betracht. Dagegen ganz überflüssig für ihn sind die Personen des Grundbesitzers, soweit er sein Einkommen nur aus der Vermietung oder Verpachtung seines Betriebes zieht, und des Geldbesitzers, der nur von seinen Zinsen lebt. Gelingt es, durch staatliche Maßnahmen die Grundrente und Kapitalzinsen herabzudrücken, so wird dabei die Gesellschaft in keiner Weise geschädigt, nur erleichtert. Der Industrielle, der billigeres Kapital zu leihen bekommt, wird seine Produktionskosten erheblich verringert sehen, ebenso der Landwirt, der für einen geringeren Pachtzins Boden zur Bearbeitung erhält. Dieselbe Wirkung übt es auf jene Landwirte, die auf eigenem Boden wirtschaften, wenn ihre Hypothekenzinsen verschwinden, in denen für sie die Last der Grundrente verkörpert ist.
Der einzelne Unternehmer kann auf diesem Gebiete nicht viel machen. Um Erfolge zu erzielen, dazu ist eine starke, das heißt im demokratischen Staat, eine von Vertrauen der arbeitenden Massen getragene, durch ihre energische und verständnisvolle Mitarbeit unterstützte Regierung notwendig. Sie wird dabei zu Verstaatlichungen gezwungen werden, z. B. zur Einrichtung staatlicher Kreditbanken.
Neben den eben genannten Bestandteilen der Produktionskosten gibt es noch einen, dessen Preishöhe für den Industriellen stark ins Gewicht fällt: die Rohmaterialien. Gerade deren Preise werden künstlich stark erhöht durch die großen Monopole und die von ihnen herbeigeführten hohen Schutzzölle. Was bedeutet allein der Eisenpreis für die gesamte Industrie, für die Landwirtschaft und das Verkehrswesen eines Landes! Schon durch Herabsetzung der Zölle, durch staatliche Eingriffe in die Monopole, die bis zu ihrer völligen Verstaatlichung gehen können und schließlich müssen, ist es möglich, eine eventuelle Erhöhung der Produktionskosten als Folge der Verkürzung der Arbeitszeit mehr als wettzumachen.
Also selbst dort, wo eine solche Erhöhung eintritt, beweist sie keineswegs die Schädlichkeit eines Verkürzens der Arbeitszeit. Sie bezeugt nur die Notwendigkeit, es nicht als isolierte Maßregel ins Auge zu fassen, sondern es mit einem umfassenderen System sozialer Reformen in Verbindung zu bringen.
Man kann in der Geschichte der gesetzlichen Verkürzungen des Arbeitstages zwei Phasen unterscheiden: eine primitive, die schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt, und eine spätere, der letzten Jahrzehnte. In der ersten Phase wurde der Normalarbeitstag eingeführt, um die Arbeiter der Großindustrie vor maßloser Überarbeit zu schützen und sie vor völligem Verkommen zu retten. Das ist gelungen, der gesetzliche Arbeitsschutz hat die Arbeiterschaft der kapitalistischen Staaten auf eine höhere Stufe gehoben, physisch, moralisch, intellektuell. Und nicht bloß die Arbeiterschaft wurde organisiert. Der Übergang zu dem kürzeren Arbeitstag gelang den Unternehmern um so eher, je intelligenter und gewissenhafter sie waren, je besser sie neue Methoden begriffen. Je dümmer und apathischer, liederlicher ein Unternehmer war, desto leichter ging er bei der Verkürzung der Arbeitszeit zugrunde. So vollzieht eine Verkürzung der Arbeitszeit eine Regenerierung nicht bloß der Arbeiter, sondern auch der Kapitalisten und ihrer Unternehmungen. Sie hebt das ganze Wirtschaftswesen auf eine höhere Stufe.
Dies galt für die erste Ära des Arbeitsschutzes, solange die Arbeiter durch Überarbeit degradiert und demoralisiert wurden. Ebenso wirkt eine Verkürzung der Arbeitszeit auch heute. Jedoch nicht in gleicher Weise. Nicht Überarbeit, sondern Arbeitslosigkeit bedroht jetzt ungeheure Zahlen von Arbeitern mit Degradation und Demoralisation. Gelingt es, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, so hebt man damit die schwerste moralische, psychische, intellektuelle Gefährdung der Arbeiterschaft unserer Zeit auf, erhebt man das Proletariat auf eine höhere Stufe.
Gleichzeitig damit wird aber, wie in den Anfängen des Arbeiterschutzes, auch die ganze Produktionsweise gehoben. Doch besteht dabei ein Unterschied. Damals wurde diese Hebung von den Kapitalisten selbst besorgt. Heute macht die Verkürzung der Arbeitszeit eine Reihe von Maßregeln wünschenswert oder notwendig, die man den Kapitalisten allein nicht überlassen kann; die auch vielfach ihre Kräfte übersteigen. Sie erheischen zu ihrer Durchführung starke Eingriffe der Staatsgewalt, die bereits zu einer Ausdehnung der Staatswirtschaft führen müssen.
Solche Eingriffe sind nur zu erwarten in demokratischen Staaten mit einer ebenso starken, wie intelligenten Arbeiterschaft. Die Faust allein tut’s nicht, es muß von einem denkenden, wissenden Kopf geführt werden. Und auch die Intelligenz eines Führers tut’s nicht, es muß die Masse ebenfalls intelligent sein.
Seit dem Weltkrieg macht sich nicht nur bei den Faschisten, sondern auch bei manchen Sozialisten ein engstirniger Kultus der Gewalt breit. Sie wähnen, wir brauchten nur über die nötige Gewalt und Gewalttätigkeit zu verfügen, unsere Gegner niederzuschlagen, dann kommt die sozialistische Gesellschaft von selbst. Leider liegt die Sache nicht so einfach. Wendet ein Machthaber ohne Wissen brutale Gewalt an, dann schädigt er oft nicht bloß die Gegner, die er niederkämpft, sondern auch sich selbst.
Je stärker das Proletariat, je größer seine Macht im Staat, desto gewaltiger und schwieriger seine Aufgaben, desto folgenschwerer ihre Lösungen. Nur eine arbeitende Klasse, die neben der erforderlichen Macht über das erforderliche Wissen, namentlich ökonomisches, verfügt, wird in der Lage sein, Ersprießliches zu leisten, eine dauernde höhere Gesellschaftsordnung herbeizuführen. Die Gewinnung der Macht hängt aber nicht von den Arbeitern allein ab, sondern von zahlreichen Umständen, die sie nicht nach Belieben herbeiführen können. Viel eher können sie sich des erforderlichen Wissens bemächtigen, das ist überall unter allen Umständen eine Aufgabe für sie.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012