Karl Kautsky

Neue Programme


5. Die Diktatur in der Partei


Die eine Frage, die wir an die Verfechter der Diktatur in unseren Reihen zu richten haben, ist also die: Soll die Idee der Diktatur als Methode der Durchführung des Sozialismus bloß dem Programm der deutschen Sozialdemokratie oder dem der gesamten sozialistischen Arbeiterinternationale einverleibt werden?

Zu dieser hätten wir eine weitere Frage hinzuzufügen: Soll die Diktatur, die für unerläßlich gehalten wird, bloß eine Diktatur im Staate oder auch eine innerhalb der Partei sein?

Es gab in den Anfängen unserer Bewegung so manchen Sozialisten, der sich selbst für so sehr den Arbeitern seiner Zeit überlegen dünkte und die Proletarier, die er zum Kampfe für den Sozialismus aufrief, für politisch so unerfahren, daß er glaubte, er müsse von ihnen blinden Gehorsam fordern, also diktatorische Befugnisse für sich innerhalb der Partei verlangen. Er fürchtete, bei demokratischer Organisation der Partei würden die Arbeiter zu viele Fehler begehen, sich zu leicht nasführen lassen.

Unter den deutschen Sozialdemokraten der bedeutendste, der so dachte, war Ferdinand Lassalle. Das bildete einen der wichtigsten Gegensätze zwischen ihm und Karl Marx. Dieser war der Überzeugung, daß nur in der Demokratie die Arbeiter jene Fähigkeiten erwerben, könnten, deren sie bedürfen, um den Produktionsprozeß sowie den Staat ersprießlich leiten zu können. Der Bund der Kommunisten, dem er 1847 beitrat, war als Verschwörung diktatorisch eingerichtet, Marx veranlaßte, daß seine Organisation eine demokratische wurde. Und später in der Internationale verhinderte er, daß Mazzini aus ihr eine Verschwörergesellschaft mit diktatorischen Befugnissen der Leitung machte.

In der deutschen Sozialdemokratie versuchte nach Lassalles frühem Tod J. B. v. Schweitzer dessen Diktatur in der Partei fortzusetzen. Das führte zur Abspaltung jener Genossen, die eine demokratische Parteiorganisation forderten, wobei Marx sich auf Seite derjenigen stellte, die für die demokratische Organisation eintraten. Auch für die Gewerkschaften lehnte Marx im Gegensatz zu Schweitzer alle diktatorischen Befugnisse der Führer ab.

Diese demokratische Organisierung der Arbeiter hat die Oberhand gewonnen, in Partei und Gewerkschaft, nicht bloß in Deutschland, sondern in der Welt. Nicht zum wenigsten darauf beruhte die Einmütigkeit und Kraft dieser Organisationen bis zum Weltkrieg.

Soll sich das jetzt ändern? Soll die Partei einem Parteivorstand diktatorische Befugnisse einräumen, nicht nur für einzelne Aktionen – solche Befugnisse können zeitweilig unerläßlich werden – sondern auch für den Aufbau und die Bestimmung des Wesens der Partei? Sollen ihre Funktionäre nicht von den Genossen gewählt, sondern von einem Führer ernannt werden? Und soll dieser sich aus eigener Machtvollkommenheit zum obersten Herrn der Partei aufwerfen? Meines Wissens hat noch niemand derartiges ins Auge gefaßt. Es mußte verhängnisvoll wirken, wenn es geschähe.

Wenn aber die Demokratie in der Partei fortbesteht, wie soll sie mit der Diktatur im Staat vereinbart werden? Das ist ein ganz unmögliches Beginnen. Man sehe nur auf den russischen Bolschewismus hin! Er vertrug keine freien Gewerkschaften, vertrug keine freie Kritik der Führer durch Parteigenossen. Er hat jede Opposition in der Partei, ebenso wie im Staat schonungslos zermalmt. Man kann nicht jede freie Kritik, jede Bewegungsfreiheit der Massen im Staate unterbinden und in der Partei der großen Massen, in der Sozialdemokratie, unangetastet lassen. Wir wollen gar nicht von der Komplizierung reden, die sich dort ergibt, wo verschiedene Arbeiterparteien nebeneinander bestehen. Soll die stärkere unter ihnen die anderen diktatorisch unterdrücken oder soll die eine den anderen das demokratische Recht freier Propaganda einräumen?

Und noch eine andere Frage: Für welche Person wollen wir die Diktatur verlangen? Man könnte die Frage anders formulieren und diktatorische Befugnisse statt für eine einzige Person, für ein Komitee von Personen fordern, einen Wohlfahrtsausschuß. Aber das Wesen einer Diktatur bringt es mit sich, daß in einem solchen Komitee früher oder später stets eine einzelne Persönlichkeit sich durchsetzt, wie zur Zeit des Konvents Robespierre. Und die Antwort wird nicht vereinfacht, wenn die Partei statt einer Person 5 oder 7 ernennen soll, deren Führung wir die Partei und den Staat ganz uneingeschränkt überlassen wollen. Es müssen Persönlichkeiten sein, die alle anderen Individuen im Staat so unendlich überragen, dalä die große Mehrheit des Volkes bereit ist, ihnen blindlings zu folgen.

Solche Persönlichkeiten aus unseren Reihen sind bisher nicht genannt worden. Und ich möchte noch weiter gehen und die Prophezeihung wagen, daß wir solche nicht finden werden. Das bedeutet keineswegs ein Armutszeugnis für unsere Partei. Das bezeugt nur, daß in ihr, wie in jeder demokratisch eingerichteten Organisation die Bedingungen fehlen, die es ermöglichen, daß einzelne Persönlichkeiten eine die Masse turmhoch überragende Bedeutung erhalten.

In den demokratischen Organisationen herrscht ein steter Kampf der Meinungen. Wer seine Überzeugung durchsetzen will, muß sie erst begründen und gewandt gegen die Argumente der Kritiker vertreten. Das fördert das geistige Leben, hebt die geistige Selbständigkeit der Einzelnen, bewirkt aber, daß selbst anerkannte Führer stets auf Kritik in der Partei stoßen.

In einer ausgedehnten demokratischen Organisation, die sich hohe Ziele setzt, findet man leicht viele geistig hochstehende Mitglieder, nicht aber eines, das als ein Wesen höherer Art den ändern gegenüber erscheint.

Anders gestalten sich die Dinge in Organisationen, in denen die Funktionäre allein zu reden, die Massen zu schweigen haben. In der Kirche z. B. hat der Prediger allein das Wort, keine Gegenrede, nicht einmal ein Zwischenruf ist gestattet. Niemand hat das Recht, die Richtigkeit seiner Argumente zu bestreiten. Nur das ermöglicht es ihm, seinen Schäflein gegenüber als Stellvertreter Gottes aufzutreten.

Und als ein anderer Stellvertreter Gottes wurde einmal im deutschen Reich der Feldwebel bezeichnet. In der Tat gibt es in der Armee auch kein Diskutieren zwischen Offizieren und Mannschaften, nicht nur keines während einer Aktion, was selbstverständlich ist, sondern auch außerhalb des Dienstes – wenigstens nicht in einem stehenden Heere. Und das gleiche gilt in einer Verschwörung zwischen den Leitern und den gewöhnlichen Mitgliedern.

Verschwörung, Armee, Kirche, das sind die Brutstätten von Diktatoren, die durch ihr Ansehen als ganze oder halbe Götter die Masse ihrer Angehörigen bergeshoch überragen. Auch die Männer der Hitlerdiktatur erwuchsen in den illegalen Privatarmeen, die sich nach dem Kriege in manchen Gegenden des Deutschen Reichs bildeten. Wie klein werden oft Männer dieser Art, wenn sie nicht Untergebenen zu kommandieren oder vor solchen zu predigen, sondern auf Gleichgestellte mit Argumenten zu wirken haben! Ludendorff wurde zur Nichtigkeit herabgedrückt, als er so unvorsichtig war, sich in den Reichstag wählen zu lassen. Hitler hat recht, wenn er ein Parlament ebenso sehr scheut, wie der Teufel das Weihwasser. Er ist ein meisterhafter Komödiant, unerreicht in der Kunst der Reklame, darin der modernste der Diktatoren, Aber in einer Diskussion mit einem der führenden Politiker der Sozialdemokratie würde er schmählich versagen. Das scheint er selbst zu wissen, trotz seiner maßlosen Eitelkeit, denn er hat nie eine solche Diskussion gewagt.

Die faschistische Bewegung hat bisher keine einzige Persönlichkeit von mehr als mittelmäßiger Begabung hervorgebracht, keinen Mann, der auch nur im entferntesten an Lassalle heranreichen würde, an Bebel, an Viktor Adler, an Jaurès – von Marx und Engels gar nicht zu reden – um nur Tote zu nennen, und nur einige aus einer langen Reihe glänzender Namen. Jeder der genannten war eine kolossale Persönlichkeit, aber keinem von ihnen wäre es eingefallen, eine diktatorische Stellung in seiner Partei oder gar im Staate anzustreben. Keine Partei ist so demokratisch, so sehr auf der Gleichheit aller Mitglieder und auf der Freiheit ihres Wortes aufgebaut, wie die sozialdemokratische. Keine ist darum weniger geeignet, Diktatoren zu produzieren. Wenigstens war es bisher so. Wir wissen nicht, welche Wandlungen der Kampf gegen die Hitlerei noch bringen wird, über wir sind dessen sicher, unsere Partei wird nie einen Charakter annehmen, der die Genossen zu stummen Hunden herabdrückt, die sich schweifwedelnd um einen Führer drängen, der allein für sie die Intelligenz der Partei verkörpert. Woher soll da der Diktator kommen?

Es ist aber ein Unding, die Diktatur abstrakt zu fordern und nicht die Diktatur bestimmter Personen. Es gehört zum Wesen der Diktatur, daß an Stelle des Vertrauens zu einer Partei, zu ihren Mitgliedern, ihrem Programm, das Vertrauen zu einer einzelnen Person tritt, von der die Massen alles das erwarten, wozu sie selbst sich nicht fähig fühlen. Das Vertrauen mag durch besondere Leistungen hervorgerufen sein, wie bei Napoleon I. oder bei Lenin, oder bloß durch die riesenhafte Reklame eines gerissenen Hochstaplers, es muß stets das Vertrauen zu einer Person sein. Man kann die Demokratie oder die Aristokratie oder Erbmonarchie als Institution fordern, nicht aber die Diktatur. Man kann diese bloß verlangen für bestimmte Personen. Sonst bleibt sie ein leeres Wort.

Wer will, daß wir nach Hitlers Niederringung eine neue, sozialdemokratische Diktatur aufrichten, der muß heute schon den Mann – oder die Frau – bezeichnen, in deren Hände er diese furchtbare Macht legen will. Oder soll es etwa irgend ein Parteivorstand sein, dem diese Allmacht zu verleihen wäre, ohne Rücksicht darauf, wie seine Zusammensetzung? Das würde die Sache nicht plausibler machen.

Wer eine Diktatur im Allgemeinen fordert, nicht die einer bestimmten Person, setzt im Stillen stets voraus, daß der Diktator gerade so denken wird, wie derjenige, der nach ihm verlangt. Das Verlangen nach einer anonymen Diktatur ist der Wunsch nach der eigenen Allmacht. Ein sehr begreiflicher Wunsch. Aber keiner, auf den eine bestimmte, erfolgreiche Politik in der Wirklichkeit aufzubauen ist.

Das Wesen der Sozialdemokratie ist nun einmal mit dem Wesen der Diktatur nicht zu vereinbaren.


Zuletzt aktualisiert am: 31. März 2018