Karl Kautsky

Die Sozialisierung der Landwirtschaft

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Vorwort zur ersten Auflage


Der wesentlichste Teil der hier vorliegenden Ausführungen wurde vor bald zehn Jahren niedergeschrieben und erschien 1910 in der Form zweier Kapitel meines Buches über die Bevölkerungsfrage, das den Titel trägt: Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft. (Stuttgart, J.H.W. Dietz) Ich sah damals schon, im Gegensatz zu vielen meiner Freunde, die soziale Revolution kommen, doch rechnete ich nicht damit, daß ich sie selbst noch erleben würde.

Erheblich näher erschien sie mir, als ich die zweite Schrift abfaßte, aus der hier ein Kapitel abgedruckt ist, die Sozialdemokratischen Bemerkungen zur Uebergangswirtschaft (Leipzig, Leipziger Buchdruckerei), doch wurde ich auch da durch die Tatsachen insofern überholt, als ich zur Zeit der Niederschrift noch nicht erwartete, daß sie bei ihrem Erscheinen die Revolution als fertige Tatsache vorfinden würde.

Ich verfaßte die Schrift im Winter 1917/18. Technische Schwierigkeiten bewirkten, daß sie erst im Juli druckfertig vorlag. Mit Rücksicht auf die Zensur hatte ich mich so vorsichtig als möglich ausgedrückt. Immerhin erklärte ich im Vorwort:

„Der Krieg kann, wenn er noch lange dauert, in einer Weise enden, die die kapitalistische Basis aufs tiefste erschüttert und dem Proletariat den Weg zur Macht eröffnet!“

Meine Vorsicht nützte nichts. Die Zensur verhinderte das Erscheinen meiner Schrift bis zum November 1918. Sie kam in die Hände der Leser erst, als meine Erwartung der Revolution bereits zur Erfüllung geworden war.

Ungeheure Wandlungen haben sich seitdem vollzogen, aber doch nicht so große, daß die Ausführungen, die ich ein Jahr vor der Revolution geschrieben, und die Forderungen, die ich dort entwickelt, gegenstandslos geworden wären. Das gilt von den Forderungen an Staat und Gemeinde und – leider! – auch von denen an das Proletariat. Ich schrieb im Juli in meinem Vorwort:

„Das Proletariat darf in der Uebergangswirtschaft wie auch sonst nicht an sich allein denken. Seine geschichtliche Bedeutung beruht darauf, daß sein Klasseninteresse zusammenfällt mit dem Gesamtinteresse der Gesellschaft. So ist es seine Pflicht, in der Uebergangswirtschaft, die so chaotisch sein, so sehr nach neuen Formen ringen wird, nicht nur seine eigenen augenblicklichen Interessen, sondern auch die der gesellschaftlichen Entwicklung aufs kräftigste zu vertreten, möglichst viel Ansätze in sozialistischem Sinne zu schaffen und jede der Fragen der Uebergangswirtschaft nicht für sich allein, sondern in ihrem Zusammenhange mit der Gesamtheit der ökonomischen und gesellschaftlichen Erscheinungen zu betrachten.“

Nie war diese Mahnung notwendiger als jetzt, denn nie war die Gefahr größer, daß, dank dem neu gewonnenen Kraftgefühl, kurzsichtiger Klassen-, ja Berufsegoismus in den kampffähigen und kampflustigen Teilen des Proletariats die allgemeinen gesellschaftlichen Rücksichten zurückgedrängt und die gesellschaftliche Entwicklung, damit aber auch den Aufstieg zu einer dem Kapitalismus überlegenen und ihn dauernd überwindenden Form des Sozialismus schädigt.

Der Gegenstand der hier abgedruckten Kapitel wird durch sie natürlich nicht erschöpft. Ausführlicher habe ich ihn in meinem Buche über die „Agrarfrage“ (Stuttgart, J.W. Dietz, 1899) behandelt. Das Werk ist längst vergriffen, ich hinderte bisher eine Neuauflage, weil ich es gänzlich umarbeiten wollte. Nicht deshalb, weil sich mein Standpunkt gewandelt hätte: er ist der gleiche geblieben. Sondern deshalb, weil die Verhältnisse der Landwirtschaft sich seit seiner Abfassung gänzlich änderten. Als ich mein Buch schrieb, befand sie sich noch im Stadium der durch die überseeische Konkurrenz gedrückten Preise von Nahrungsmitteln. Bald darauf aber setzte die Aera des Steigens der Lebensmittelpreise, die Aera wachsender Teuerung ein. Das gab der Agrarfrage in manchen Dingen ein neues Gesicht.

Andere Arbeiten hinderten mich, die Umarbeitung zu vollziehen, und nun ist durch den Krieg und die Revolution die Landwirtschaft abermals in ein neues Stadium mit neuen Aufgaben und Bedürfnissen eingetreten. Die Bearbeitung hätte da ein ganz neues Werk zu schaffen. Es ist fraglich, ob mir dazu noch Zeit und Kraft bleiben. Ich werde wohl meine „Agrarfrage“ als historisches Dokument der Zeit, in der sie verfaßt wurde, betrachten und unverändert zu neuem Abdruck gelangen lassen müssen.

In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts galt die überseeische Landwirtschaft als eine Gefahr für Europa, dessen Grundbesitz seinen Ruin fürchtete. Heute bildet jene Landwirtschaft unsere Rettung. Ohne die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Argentinien sind wir dem Hungertode ausgeliefert, und zwar nicht bloß Deutschland, sondern fast ganz Europa, seine ehemaligen Kornkammern inbegriffen, wie Rußland und Rumänien. Weit entfernt, zu versuchen, die überseeischen Nahrungsmittel durch Zollschutz fernzuhalten, müssen die Staaten unseres Kontinents alles aufbieten, recht viel von ihnen hereinzubekommen und zwar so billig wie möglich.

Dabei soll jedoch die inländische Landwirtschaft nicht geschädigt werden. Im Gegenteil, auch ihr Gedeihen ist gerade jetzt besonders unerläßlich. Das drängt aber bei starker auswärtiger Konkurrenz und Fehlen von Zollschutz zu der rationellsten Methode, einen Produktionszweig konkurrenzfähig zu gestalten: zu technischen Verbesserungen, die seine Produktivität steigern. Indes kann man das in der Landwirtschaft noch weniger als in der Industrie, und am allerwenigsten bei der heutigen Notlage, dem Zufall der privaten Initiative überlassen. Der Staat muß aufs kräftigste eingreifen durch Methoden, die eine weitgehende Sozialisierung in sich schließen.

Angesichts des vorherrschenden Kleinbetriebs wird diese allerdings zunächst mehr auf eine Regelung des Zirkulationsprozesses zwischen Stadt und Land bedacht sein müssen, als auf eine Organisierung der Produktion. Doch lassen sich auch für letztere schon Ansätze schaffen durch Förderung genossenschaftlichen und kommunalen Eingreifens in die bäuerliche Produktion und durch Uebergang der größten Güter in den Besitz des Staates oder städtischer Gemeinden und durch Anteilnahme der Landarbeiter an der Gestaltung des Betriebs.

Für die großen Betriebe, die erhalten bleiben müssen und nicht zerschlagen werden dürfen, soll nicht die Technik unserer Landwirtschaft tief herabgedrückt werden, wird diese Sozialisierung um so dringender notwendig werden, als sie das sicherste Mittel ist, die Landarbeiter an der Arbeit zu erhalten und den großen Gütern neue vermehrte Arbeitskräfte zuzuführen, deren sie in hohem Maße bedürfen, sollen sie ihre volle Produktivität entfalten.

Die Revolution in den Städten ist an den Arbeitern auf dem flachen Lande nicht spurlos vorübergegangen. Es gäbe unsägliches Unheil, würden auch sie vom Streikfieber ergriffen oder versuchten sie gar die Sozialisierung durch direkte Aktion, dadurch, daß sie die großen Güter unter sich aufteilten, was ohne Zerstörungen und Plünderungen nicht abginge.

Davor schützen nicht Handgranaten und Maschinengewehre, davor schützt bloß eine energische und planmäßige Sozialisierungsaktion der Regierung, die der wilden direkten Aktion zuvorkommt und deren sonst zerstörende Kraft in geregelte Bahnen leitet und dadurch fruchtbringend gestaltet.

Die deutsche Sozialisierungskommission war eben daran, die Bedingungen und Formen landwirtschaftlicher Sozialisierung ihrer Prüfung zu unterziehen, da wurde sie zum Rücktritt gedrängt. Glaubt die Bürokratie des Reichswirtschaftsamts die Aufgabe der Sozialisierung rascher oder zweckmäßiger lösen zu können als die Kommission: nur zu! Auf keinen Fall darf der Staat die Landwirtschaft lange sich selbst überlassen oder sich darauf beschränken, mit dem bisherigen bürokratischen Apparat der Erfassung und Verteilung von Lebensmitteln weiterzuwursteln. Die Sozialisierungsaktion darf freilich nicht nach bolschewistischem Muster geschehen. Die Bolschewiks errichteten eine straffe Diktatur in den Städten und gaben den Bauern freie Hand, auf dem Lande zu hausen, wie sie wollten. Das war bei der ökonomischen Zurückgebliebenheit Rußlands unvermeidlich, hatte aber das Resultat, daß der Versuch einer sozialistischen Revolution in den Städten zusammenfiel mit einer bürgerlichen Revolution auf dem Lande, das die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung umfaßt.

Dieser innere Widerspruch führte um so eher zu unhaltbaren Zuständen, als bei der Rückständigkeit der Masse der russischen Proletarier der Sozialismus der Städte immer mehr seinen demokratischen Charakter verlor, den er anfangs haben sollte, und immer bürokratischer wurde. Die Arbeiterräte sind heute in Rußland nur noch eine kraftlose Dekoration, hinter der sich die Allmacht einer neuen Bürokratie verbirgt.

Unter diesen Umständen nimmt das Verhältnis zwischen Stadt und Land eigenartige Formen an. Unter dem industriellen Kapitalismus entwickelt sich die ständige Flucht der Landbevölkerung in die industriellen Zentren. Zu den Aufgaben des Sozialismus gehört es, die Industrie wieder zu dezentralisieren, sie aufs flache Land zu verlegen, was freilich in großem Maßstab nur dann ökonomisch zweckmäßig wird, wenn das Verkehrswesen hoch entwickelt ist. In Rußland aber finden wir jetzt nicht die Verlegung der Industrie aufs flache Land, was bei seinen elenden Verkehrsmitteln auch höchst unzweckmäßig wäre, sondern die Flucht der Arbeiter von der Industrie weg zur Landwirtschaft, wo ihnen weniger elende Lebensbedingungen winken wie in den Städten. Während so die städtischen Arbeiter in zunehmendem Maße die sozialisierte Industrie flichen, erhebt sich gegen diese Industrie gleichzeitig aber auch die wachsende Empörung der Bauern. Sie hatten das bolschewistische Regime bei seinem Beginn 1917 freudig begrüßt, das ihnen den großen Grundbesitz auslieferte. Jetzt aber ist der aufgeteilt, und hinfort vermag ihnen die bolschewistische Regierung nichts mehr zu bieten. Gleichzeitig aber hat die Unterwerfung der Industrie unter die neue bolschewistische Staatsbürokratie die Leistungsfähigkeit der städtischen Produktion gemindert. Sie reicht kaum aus zur Deckung der Bedürfnisse der großen Armee, deren der Bolschewismus bedarf, um sich zu behaupten, und die fast alle Industrieprodukte an sich zieht. Für Bauern und Industriearbeiter – ausgenommen einige privilegierte Schichten – bleibt so gut wie nichts. Dabei aber soll der Bauer mit seinen Ueberschüssen die Städter und die Armee erhalten. Wo er das nicht gutwillig tut, wird ihm das Erforderliche mit Gewalt genommen. So finden wir wieder, wie in den Zeiten des Zarismus, Rußland erfüllt von Bauernaufständen. Diese Art Lösung der Agrarfrage kann natürlich nicht die westeuropäische sein.

Für uns ist das agrarische Problem das komplizierteste, aber auch das wichtigste der Revolution. Es erheischt das innigste Zusammenwirken von Stadt und Land, von Theoretikern und Praktikern. Aber auch das innigste Zusammenwirken der verschiedenen Länder der ganzen Welt. Denn das agrarische Problem ist ein eminent internationales geworden, seitdem der landwirtschaftliche Betrieb aufgehört hat, ein sich selbst genügender zu sein und auf den Zukauf von Rohmaterialien, wie Düngeund Futtermitteln, angewiesen ist, die aus allen Teilen der Welt zu holen sind. Ebenso wenig wie die Großindustrie vermag die moderne Landwirtschaft die Abschließung der Länder voneinander zu ertragen. Mögen die Lebensbedingungen des Bauern seinen Blick noch so sehr lokal beschränken. Seine Produktionsbedingungen weisen ihn auf die Weltwirtschaft hin.

Nicht minder wie die Industrie bedarf die Landwirtschaft vollster Internationalität. Nur in diesem Zeichen kann sie, können wir gedeihen.

Charlottenburg, Mai 1919
 

 
K. Kautsky




Zuletzt aktualisiert am 17. April 2021