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Daß die Machthaber Deutschlands, die den Krieg entfesselten, dabei unsäglich leichtfertig, kurzsichtig, kopflos gehandelt haben, darin ist alle Welt seit dem Erscheinen der österreichischen Dokumente einig. Bloß über die moralischen Qualitäten der Schuldigen wird noch gestritten. Die Frage darüber ist wichtig für die Beurteilung der Personen, die in Frage kommen, nicht der Institutionen. Wie immer das moralische Urteil ausfallen mag – es dürfte nach der Kenntnisnahme der deutschen Akten nicht sehr strittig sein, – das politische war schon längst möglich. Es lautete auf Verurteilung der Unterwerfung der Zivilgewalt unter die Militärgewalt und auf Verurteilung der Monarchie.
Wir haben schon vorher bei der Behandlung des Falls Szögyeny bemerkt, daß ein Idiot als leitender Staatsmann für das Gemeinwesen gefährlicher ist als ein Schurke.
Daß Schurken an die Spitze des Staats kommen, kann keine Verfassung verhindern, mag sie noch so fein ausgetüftelt sein, keine Demokratie, kein Rätesystem, aber auch keine Aristokratie und wäre sie eine von Philosophen nach platonischem Muster. Aber bei jeder Verfassung eines Staates ebenso wie einer Partei, einer Gemeinde, einer Kirche, einer sonstigen Organisation, deren Leitung nur solchen anvertraut wird, die sich das allgemeine Vertrauen der Beteiligten erworben haben, wird ein Hallunke an die Spitze nur gelangen können durch große Dienste, die er dem Gemeinwesen erweist, durch eine überlegene Intelligenz, durch die er imponiert. Daß gelegentlich nicht bloß Hallunken, sondern auch Trottel oder Verrückte den Staat beherrschen, das wird nur möglich in der Erbmonarchie, die die Persönlichkeit des Staatsoberhaupts abhängig macht nicht von den Diensten, die es dem Staat erweist, sondern den Zufälligkeiten des landesväterlichen Ehebetts.
Indes vollständig kopflos handelte das Regime nicht, das den Krieg über uns hereinbrachte. So unfähig und unwissend sich die Reichsregierung in ihrer äußeren Politik erwies, so meisterhaft verstand sie in den entscheidenden Tagen im Innern sich das Vertrauen des deutschen Volkes in demselben Maße steigend zu gewinnen, in dem sie das der übrigen Völker verlor.
Wir halben gesehen, wie entschieden die deutsche Sozialdemokratie gegen die frivole Herausforderung des Weltkrieges auftrat, die kn österreichischen Ultimatum an Serbien lag, und wie Wilhelm Demonstrationen der „Sozi“ für den Frieden übel vermerkte und Gewaltmaßregeln gegen sie in Aussicht stellte.
Hätte die deutsche Sozialdemokratie gewußt, daß ihre Regierung von dem österreichischen Ultimatum nicht überrascht wurde, daß sie seine praktische Tendenz, wenn auch vielleicht nicht seinen Wortlaut schon vor seiner Überreichung in Belgrad wohl kannte und daß sie nicht der friedliche Dritte war, der zwischen dem Bundesgenossen und dessen Gegner zu vermitteln suchte, sondern der Mitverschworene Österreichs, dann hätte unsere Partei – das konnte man bei ihrer damaligen Haltung bestimmt erwarten – sich mit derselben Schärfe gegen die deutsche wie gegen die österreichische Regierung gewendet. Dann mußte Wilhelm entweder auf den Krieg verzichten oder ihn damit beginnen, daß er sämtliche Führer der Sozialdemokratie hinter Schloß und Riegel steckte, das beißt, daß er gleichzeitig der Entente und dem deutschen Proletariat den Krieg erklärte. Das herrschende System wäre dann von vornherein verloren, freilich aber das deutsche Volk gerettet gewesen. Diese Gefahr für die Regenten des Reichs erkannte denn auch Bethmann Hollweg von vornherein und sein Bestreben ging viel weniger darauf aus, den Krieg zu verhindern, als eine günstige moralische Basis für ihn im deutschen Volke zu schaffen. Dem galt sein vornehmstes Interesse, sein ganzer Scharfsinn. Und diese Aufgabe ist ihm gelungen. Zu diesem Zwecke durfte das deutsche Volk nichts von alledem erfahren, was sich seit der Tat von Serajewo zwischen Österreich und Deutschland tatsächlich abgespielt hat. Wohl konnte man es nicht verhindern, daß sich starke Entrüstung gegen das österreichische Vorgehen entwickelte, aber man verstand es, den eigenen Nimbus des Friedensfreundes zu bewahren, dessen Aufgabe nur erschwert wurde durch eine zweite Eigentümlichkeit des „deutschen Gemüts“, die ebenso preiswert war, wie die Friedlichkeit, durch die Treue gegen den Freund, die sich auch dort bewährt, wo er stolpert.
Das Ausland freilich war sofort mißtrauisch gewesen. Wir haben Proben davon schon bei französischen und englischen Staatsmännern gesehen. Der belgische Baron Beyens schrieb am 26, Juli von Berlin nach Brüssel:
„Das Bestehen eines zwischen Berlin und Wien abgekarteten Planes wird in den Augen meiner Kollegen und den eigenen bewiesen durch die Hartnäckigkeit, mit der man sich in der Wilhelmstraße bemüht, zu leugnen, man habe vor dem letzten Donnerstag (dem 23. Juli) von dem Inhalt der österreichischen Note Kenntnis gehabt.“
Indes auch die mißtrauischsten Elemente ahnten nicht, wie weit dieser „abgekartete Plan“ ging. Im deutschen Volke selbst war man weniger kritisch. Wohl wurden auch in seinen Reihen Zweifel wach, doch im allgemeinen glaubten selbst nicht diejenigen, die der Regierung Wilhelm jede Schlechtigkeit zutrauten, sie könnte so unendlich dumm sein, um Österreichs serbischer Schmerzen willen den Weltfrieden und Deutschlands Zukunft aufs Spiel zu setzen.
Und während im Auslande das Mißtrauen gegen Deustchland durch seine befremdliche Haltung wuchs, erstand im deutschen Volke eine rasch steigende Errefting gegen Rußland. Denn die deutsche Regierung wußte ihren Nachrichtenapparat auf das geschickteste zu handhaben, der in jenen Tagen der beginnenden Absperrung vom Auslande für die Masse des deutschen Volkes die einzige Quelle der Erkenntnis in der äußeren Politik wurde. Wer nur diese Nachrichten kannte, der mußte steif und fest glauben, Deutschland arbeite fieberhaft daran, den Frieden zu erhalten, es gelinge ihm, auch Österreich dafür zu gewinnen, aber Rußland sei entschlossen, die Gelegenheit zu einem Kriege zu benutzen. So stand in den Augen des deutschen Volkes schließlich Rußland als der Friedensstörer dar, als der Angreifer, und Frankreich sowie schließlich England als seine verbrecherischen Komplizen.
Wie tief sich diese Auffassung eingewurzelt hat, bezeugt die Tatsache, daß am 7. Juni 1915 der König von Bayern den schon zitierten Ausspruch wagen durfte:
„Auf die Kriegserklärung Rußlands folgte die Frankreichs!“
Und in unseren Tagen noch haben im Weißbuch vom Juni dieses Jahres die vier „unabhängigen Deutschen“ nach vollzogener Einsicht in die Akten bezeugt, daß der Krieg für Deutschland ein „unvermeidlicher Abwehrkrieg“ gegen Rußland war. (S.44.)
Da schien nun jener Moment einzutreten, den die deutsche Sozialdemokratie schon öfters ins Auge gefaßt hatte, und für den auch die internationalsten ihrer Mitglieder keinen Zweifel darüber gelassen hatten, daß sie es für unerläßlich hielten, sich gegen Rußland zu wenden, und wenn dieses durch Frankreich unterstützt werde, auch gegen dieses.
Um das Jahr 1900 erklärte Bebel, wenn es zum Kriege mit Rußland käme, dwn „Feind aller Kultur und aller Unterdrückten, nicht nur im eigenen Lande, sondern auch dem gefährlichsten Feind von Europa und speziell für uns Deutsche“, dann würde er „die Flinte auf den Buckel nehmen.“ Er zitierte und bekräftigte dieses Wort 1907 auf dem Parteitag in Essen (Protokoll, S.255.)
Schon viel früher hatte Friedrich Engels sich zu der Frage geäußert, im Jahre 1891, als der „Champagnerrausch von Kronstadt die Köpfe der französischen Bourgeoisie erhitzt hielt“, die französisch-russische Allianz angebahnt wurde und Frankreich ihm „reif für ziemlich ungemessene Dummheiten im Dienste Rußlands“ schien.
Damals hielt er es für notwendig, damit im Falle eines Krieges „kein Mißverständnis im letzten Moment zwischen die französischen und die deutschen Sozialisten trete, den ersteren klarzumachen, welches nach meiner Überzeugung die notwendige Haltung der letzteren sein würde gegenüber einem solchen Kriege.“
Diesem Zweck diente ein Artikel, den er im Almanach du parti ouvrier pour 1892 veröffentlichte.
Er ging dort von der Ansicht aus, weder Deutschland noch Frankreich würden den Krieg provozieren, denn er würde beide verwüsten, ohne jeglichen Nutzen.
„Rußland dagegen, durch seine geographische und ökonomische Lage gedeckt gegen die vernichtendsten Folgen einer Niederlage, Rußland, das offizielle Rußland allein kann bei einem so furchtbaren Kriege sein Interesse finden und direkt darauf hinarbeiten ... Aber in jedem Fall, wie die politischen Dinge heute liegen, ist zehn gegen eins zu wetten, daß beim ersten Kanonenschuß an der Weichsel die französiscen Armeen an den Rhein marschieren.
Und dann kämpft Deutschland einfach um seine Existenz ...
Was würde unter solchen Umständen (wenn Deutschland besiegt würde) aus der deutschen sozialdemokratischen Partei? Soviel ist sicher: weder der Zar, noch die französischen Bourgeoisrepublikaner, noch die deutsche Regierung selbst würden eine so schöne Gelegenheit vorübergehen lassen zur Erdrückung der einzigen Partei, die für sie alle drei ‚der Feind‘ ist ...
Wenn aber der Sieg der Russen über Deutschland die Erdrückung des deutschen Sozialismus bedeutet, was wird dann gegenüber einer solchen Aussicht, die Pflicht der deutschen Sozialisten sein? Sollen sie die Ereignisse passiv über sich ergehen lassen, die ihnen Vernichtung drohen? ...
Keineswegs. Im Interesse der europäischen Revolution sind sie verbunden, alle eroberten Stellungen zu behaupten, nicht zu kapitulieren, ebensowenig vor dem äußeren, wie vor dem inneren Feind. Und das können sie nur, indem sie bis aufs äußerste Rußland bekämpfen und alle seine Bundesgenossen, wer sie auch seien. Sollte die französische Republik sich in den Dienst Seiner Majestät des Zaren und Selbstherrschers aller Reußen stellen, so würden die deutschen Sozialisten sie mit Leidwesen bekämpfen, aber bekämpfen würden wir sie.“ (Deutsch unter dem Titel: Der Sozialismus in Deutschland, Neue Zeit, X, 2. S.585, 586.)
Diese Gedankengänge wirkten noch 1914 in der deutschen Sorialdemokratie nach. Sie gingen von der Anschauung aus, nur von Rußland könne der Anstoß zum Kriege kommen, nicht von Deutschland. Noch zehn Jahre nach dem Engelsschen Artikel hatte ich Rußland unter den europäischen Friedensstörern genannt, nicht Deutschland. Später hatte ich diese Bemerkung allerdings nicht wiederholt. Seitdem hatten sich auf der einen Seite in Rußland die Niederlage im Krieg gegen Japan und die Revolution, und hatte sich auf der andern Seite Deutschlands Flottenrüsten und seine aktive Politik in der mohammedanischen Welt eingestellt.
Rußland, mit der Revolution im Leibe, war jetzt der Demokratie Europas weniger gefährlich geworden als die noch imerschütterte, übermächtige deutsche Militärmonarchie.
Und schon gar nicht konnte man die deutsche sowie die österreichische Regierung, die 1914 ohne Parlament regierte, was damals der Zar nicht mehr zu tun wagte, als Vorkämpfer gegen den zarischen Absolutismus betrachten.
Ein revolutionäres Rußland wäre ihnen weit gefährlicher erschienen als ein zaristisches, ebenso wie ein freies Serbien ihnen als schlimmster Gegner galt.
Bezeichnend in dieser Beziehung sind die Randnoten Wilhelms zu einem Bericht, den Pourtalès aus Petersburg am 25. Juli über eine Besprechung mit Sasonow machte. Pourtalès schreibt:
„Mein Hinweis auf das monarchische Prinzip (das durch die Serben verletzt sei, K.) machte auf den Minister wenig Eindruck. Rußland wisse, was es dem monarchischen Prinzip schulde.“
Wozu Wilhelm hinzufügt:
„Nach seiner Verbrüderung mit der französischen Sozialrepublift nicht mehr.“
Außer dieser strengen Zensur, die der Deutsche Kaiser dem russischen wegen übermäßiger republikanischer und sogar „ sozialrepublikanischer“ Sympathien ausspricht, ist in den Randglossen zu dem Pourtalès’schen Bericht noch eine bemerkenswert, die bezeugt, mit welcher Sorglosigkeit Wilhelm noch am 25. dem Kriege mit Rußland entgegensah. Pourtalès meldet:
„Sasonow rief aus: Wenn Österreich-Ungarn Serbien verschlingt, werden wir mit ihm Krieg führen.“
Was Wilhelm mit dem Ausruf quittiert:
„Na, dann zu!“
Durch die Revolution in Rußland und durch Deutschlands Weltpolitik war eine gegen 1891 ganz veränderte Situation geschaffen. Aber die alte Auffassung, der Krieg gegen Rußland sei der „heilige Krieg“ der deutschen Sozialdemokratie war in ihr noch stark lebendig, und sie hat im Verein mjt der deutschen Nachrichtenfärbung gar manchen guten Sozialisten und Internationalisten bewogen, am 4. August für die Kriegskredite zu stimmen, nicht unter Verleugnung seiner Grundsätze, sondern in dem Glauben, sie dadurch am besten zu betätigen.
Es wäre freilich übertrieben, zu glauben, alle unter den deutschen Sozialdemokraten wären durch solche Erwägungen bestimmt worden. Gar mancher unter ihnen hatte schon vor dem Kriege stark nationalistisch gedacht – nationalistisch im Unterschied zu national. Unter letzterem kann man eine Verfechtung der Selbstbestimmung des eigenen Volkes verstehen, die Respekt hat vor der Selbstbestimmung jedes andern und die das nationale Interesse ebenso wie das private Interesse unterordnet dem Gesamtinteresse des internationalen Proletariats und der Menschheit. Ein Nationalist dagegen ist Jener, dem die eigene Nation höher steht, als die anderen, dem die Interessen der Klassengegner der eigenen Nation mehr am Herzen liegen als die der eigenen Klasse in den anderen Nationen.
Solche Elemente gab es in der deuschen Sozialdemokratie schon vor dem Kriege, wie wohl fast in jeder sozialistischen Partei. Der Krieg und schon die beginnende Kriegsstimmung haben mit einem Schlag den Nationalismus mächtig in den sozialistischen Reihen anschwellen lassen – auch das wieder nicht in Deutschland allein.
Der Nationalismus wurde um so stärker, je mehr eine sozialistische Partei Massenpartei, je rascher ihr Anwachsen vor dem Kriege gewesen, je weniger daher die Möglichkeit für sie, ihren Anhang zu schulen.
Nirgends war sie so sprunghaft angewachsen, wie in Deutschland, wo die Zahl der sozialdemokratischen Wähler von 1907–1912 um eine Million zunahm. Wir stark das nationale Denken allenthalben ist, das haben der Krieg und seine Folgen aufs deutlichste gezeigt. Für die große ungeschulte Masse schlägt es aber leicht ins nationalistische um, namentlich bei starker Gefährdung des Landes, wenn dieses Denken nicht paralysiert wird durch andere naheliegende und kräftig wirkende Momente, zum Beispiel eme rücksichtslose Politik der Verfolgung der Sozialisten durch ihre Regierung.
Wilhelm war zu einer solchen Politik gewillt. Daß dieser Wille nicht zur Tat wurde, ist wohl Bethmann zuzuschreiben. Es dürfte seine einzige kluge Handlung in jener Zeit gewesen sein.
Zu alledem kam, daß die Menge der Gedankenlosen, und die rekrutierten sich aus allen Kreisen und nicht zum wenigsten aus denen der Dichter und Denker, dem Kriege zujubelten, weil sie erwsü-tetcn, er werde kurz sein und sie den Sieg schon in der Tasche zu haben glaubten, während aus Petersburg bei Ausbruch des Krieges „Katerstimmung“ gemeldet wird und die Franzosen mit düsterem Schweigen und zusammengebissenen Zälmen ins Feld zogen.
Über Nacht loderte die Stimmung des deutschen Volkes auf in kriegerischem Enthusiasmus zur Abwehr des Landesfeindes, von dem man sich schnsde überfallen und mit Vernichtung bedroht wähnte.
Allen diesen Einflüssen erlag der größte Teil der deutschen Sozialdemokratie und erst recht des übrigen Volkes. Hatte Wilhelm am 28. Juli noch den „Sozis“ mit Verhaftung gedroht, so konnte er am 1. August schon verkünden, daß er keine Parteien mehr kenne, das heißt, daß sie sämtlich vor ihm kapituliert hätten.
So ist der Bethmannschen Taktik die große Tat gelimgen, das deutsche Volk zum Mitschuldigen an der Kriegspolitik der Regierung zu machen in dem Sinne, daß es ihr zustimmte und sie stützte bis zum militärischen Zusammenbruch.
Aber es war nicht die wirkliche Politik Wilhelms und seiner Regierung, für die es enthusiastisch Gut und Blut einsetzte, sondern eine Politik, die tatsächlich gar nicht bestand, die dem deutschen Volke bloß vorgeschwindelt und mit allen Mitteln der Lüge bis zum schmählichen Ende plausibel gemacht wurde.
Gerade das geht aus den Akten des Auswärtigen Amtes mit der größten Deutlichkeit hervor. Sie zeigen, daß unter den Völkern, die der wilhelminischen Kriegspolitik als Opfer dargebracht wurden, das deutsche in erster Linie steht. Je mehr sie das wilhelminische Regime belasten, desto mehr entlasten sie das deutsche Volk, denn sie bezeugen auf das deutlichste, daß es vom tatsächlichen Verlauf der Dinge, die zum Kriege führten, keine Ahnung hatte, weit weniger, als die anderen Völker, weil jede Möglichkeit der Kritik der Vorgänge und der Auflclärung der Massen dtirch jene Politiker, die aus einreinen Anzeichen auf die Wahrheit schlössen, im Deutschen Reiche während des Krieges abgeschnitten war.
Haben aber die anderen Regierungen nicht auch über den Kriegsausbruch ireführende Behauptungen aufgestellt?
Das ist nicht ausgeschlossen. Nach dem bekannten Worte Bismarcks wird nie so viel gelogen, wie vor einem Kriege, während einer Wahl und nach einer Jagd. Und gerade das zaristische Regime hat nie als Fanatiker der Wahrheit gegolten. Aber die Regierungen der Entente hatten 1914 keinen Grund, die Völker derartig hinters Licht zu führen, wie die der beiden Mittelmächte. Denn weder Frankreich, noch England oder Rußland wollten damals den Krieg, den sie fürchteten, und mit Recht, angesichts ihrer inneren Schwierigkeiten und unzureichenden Rüstungen.
Außerdem begann die Periode der Kriegsvorbereitungen, die Unwahrheiten und Verschleierungen notwendig machen konnten, für Deutschlands Gegner erst mit dem 24. Juli, als sie von dem österreichischen Ultimatum erfuhren, das zuerst die Kriegsgefahr auftauchen ließ. Für die Mittelmächte begann die Zeit des Verschleierns, Verschweigens, Irreführens schen mit dem 5. Juli. In der Zeit vom 5. bis zum 23. Juli schufen sie völlig ungestört vom Auslande und ohne jeden zwingenden Grund jenes Fundament von Verlogenheit, auf dem die ganze Kriegführung aufgebaut wurde.
Man kann dem deutschen Volke keinen größeren Dienst erweisen, als indem man die Lügen aufdeckt, die es irreführten. Es wird dadurch moralisch vor aller Welt in jeder Weise entlastet.
Doch die moralische Entlastung bleibt unvollkommen ohne die politische.
Irregeführt durch die Staatsmänner der Hohcnzollern und der Habsburger, wurde das deutsche Volk zum willigen Werkzeug ihrer Pläne gemacht und dadurch in eine falsche Position versetzt. Die große Mehrheit des deutschen Volkes fühlte sich fast bis zum Ende des Krieges und vielfach noch bis in unsere Tage solidarisch mit denjenigen, die es betrogen und es mit ganz Europa dem Ruin entgegenführten. Es wurde blind für ihre Verbrechen und Vergehen, es deckte sie und verfocht leidenschaftlich ihre Unschuld.
So wurde es trotz seiner moralischen Schuldlosigkeit doch belastet mit der politischen Schuld seiner Dynasten und ihrer Handlanger, wurde es zum Objekt des wildesten Hasses und Abscheus der ganzen Welt, der ihm nach seiner Niederlage die furchtbarsten Friedensbedingungen aufzwang und es wie eine Rasse von Aussätzigen behandelte.
Wer das deutsche Volk liebt, nicht nur der nationale Deutsche, sondern auch der internationale Sozialist und Demokrat, dem jede Nation gleich teuer ist, muß danach trachten, es von diesem furchtbaren Banne zu erlösen, es von der grauenvollen Last zu befreien, die ihm das alte Regime aufgebürdet hat.
Dieser Prozeß der Wiedererhebung des deutschen Volkes in der internationalen Achtung wird immer wieder gehindert, nicht bloß von jenen, die dem gestürzten Regime nach wie vor anhangen oder gar seine wirklichen Mitschuldigen sind, sondern auch von Politikern, die jetzt seine Verderblichkeit erkannt haben, die sich aber trotzdem immer noch nicht entschließen können, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich waren.
Sie glauben damit dem deutschen Volke zu dienen, seine eigene Schuldlosigkeit durch die Entschuldigung seiner früheren Herren zu erweisen. Aber sie konservieren dadurch nur den Anschein seiner Schuld, da die seiner ehemaligen Regenten von Tag zu Tag immer offenkundiger wird.
Hoffentlich machen die jetzt mitgeteilten deutschen und österreichischen Akten die Fortführung dieser verkehrten Politik ebenso unmöglich, wie sie im Innern eine Wiederkehr der Militärmonarchien der Hohenzollern und Habsburger unmöglich machen müssen.
Was einzelne tapfere und klarsehende deutsche Sozialisten und Pazifisten schon während des Krieges erkannten und offen proklamierten, daß das deutsche Volk von seiner Regierung aufs schmählichste betrogen und belogen worden ist und daß es nur dadurch in den Krieg hineingetrieben werden konnte, das sollte doch endlich einmal rückhaltlos, ohne jegliches Wenn und Aber und beschönigendes Suchen nach Schuldigen im Auslande, von allen ehrlichen Elementen in Deutschland zugestanden werden, die nicht auf die Gottähnlichkeit der Hohenzollern eingeschworen sind.
Das wird das beste Mittel sein, das Vertrauen der Völker für Deutschland wieder zu gewinnen und dadurch den Einfluß der militaristischen Gewaltpolitik bei den Siegern zurückzudrängen, die jetzt die größte Gefahr für den Frieden und die Freiheit der Welt geworden ist.
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Zuletzt aktualisiert am: 26.11.2008