Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


18. Die Kriegserklärung an Frankreich


Frankreichs Neutralisierung

Nach dem Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Rußland mußte der Deutschlands mit Frankreich automatisch folgen. Die Franzosen zuerst zu erledigen, um dann mit den Russen abzurechnen, war der deutsche Kriegsplan. Den deutschen Armeen schleunigst den Beginn ihrer Aktionen gegen Frankreich zu ermöglichen, also raschest die Kriegserklärung im Westen herbeizuführen, war die Aufgabe, die der Generalstab dem Auswärtigen Amt stellte. Zu diesem Zwecke hatte dieses am 31. Juli gleichzeitig mit der Ankündigung der Mobilmachung, die in Petersburg übermittelt wurde, nach Paris eine fast gleichlautende Note gesandt, deren Ton aber viel drohender war, wie wir gesehen, da sie direkt sagte: „Die Mobilmachung bedeutet unvermeidlich Krieg“, und die von der französischen Regierung kategorisch forderte, sie solle erklären, ob sie in einem deutsch-russischen Kriege neutral bleiben wolle. Antwort binnen 18 Stunden.

Die Absicht war klar: indem man Frankreich diese Frage stellt, wollte man es zwingen, sofort zu erklären, daß es auf Rußlands Seite stehe: damit wäre der Krieg ohne weiteres gegeben gewesen und schon am 2. August hätte die Aktion gegen Frankreich beginnen können.

Vertrauensvolle deutsche Untertanen haben indes auch in dieser Aktion der deutschen Regierung einen Beweis ihrer Friedensliebe gesehen.

Dr. David z.B. meinte?

„Die deutsche Regierung unternahm den Versuch, den Brand wenigstens auf den Osten zu beschränken. Das ist kein kleiner Faktor auf ihrem Verdienstkonto. Er war ernstlich gemeint. Darüber konnte kein Zweifel bestehen.“ (Die Sozialdemokratie im Weltkriege, S.80.)

Ein Mann, der weniger vertrauensvoll der deutschen Regierung gegenüberstand, hätte wohl seine Zweifel hegen dürfen, ob die Form des Ultimatums, die Deutschland in dem oben abgedruckten Telegramm nach Paris mit der Forderung sandte, sofort über die Neutralität Auskunft zu geben, diejenige war, die jemand gewählt hätte, der wirklich diese Neutralität wünschte. Aber selbst dem Vertrauensseligsten muß jeder Zweifel schwinden, wenn ihm kund wird, daß jenes Telegramm an Schön noch eine Nachschrift hatte, die die deutsche Regierung wohlweislich nicht veröffentlichte, vielmehr mit der Bemerkung „Geheim“ versah. Es lag nicht an ihr, wenn diese Nachschrift nach geraumer Zeit mitten im Kriege der französischen Regierung doch bekannt wurde. Sie lautete:

„Wenn, wie nicht anzunehmen, französische Regierung erklärt, neutral zu bleiben, wollen Ew. Exzellenz französischer Regierung erklären, daß wir als Pfand für Neutralität Überlassung der Festungen Toul und Verdun fordern müssen, die wir besetzen und nach Beendigung des Krieges mit Rußland zurückgeben würden. Antwort auf letztere Frage müßte bis morgen (1. August, K.) nachmittag 4 Uhr, hier sein.

v. Bethmann Hollweg.“

Daß keine französische Regierung, und wäre sie die friedfertigste eines Jaurès gewesen, diese Forderung bewilligen konnte, daß die Anfrage wegen der Neutralität also nicht den Zweck hatte, „den Brand auf den Osten zu beschränken“, sondern Frankreich sofort zum Kriege zu zwingen, liegt klar auf der Hand.

Um 4 Uhr nachmittag« am 1. August erwartete man, bereits im Besitze des Kriegsgrundes gegen Frankreich zu sein, um 5 Uhr sollte die Kriegserklärung an Rußland überreicht werden. So hoffte man, gleichzeitig den Krieg an beiden Fronten eröffnen zu können, und der gegen Frankreich erschien dem Generalstab noch dringender als der gegen Rußlan<!. Am 4. August erklärte Jagow dem belgischen Gesandten Baron Beyens:

„Um nicht vernichtet zu werden, muß Deutschland zuerst Frankreich vernichten und dann sich gegen Rußland wenden.“

Da wirkte es sehr störend, daß die Antwort, die Frankreich gab, eine ganz unerwartete war. Viviani lehnte nicht die Neutralität ab, wie Bethmann Hollweg voraussetzte, er versprach sie aber auch nicht, gab also keine Gelegenheit, mit der Forderung auf Auslieferung von Toul und Verdun herauszurücken, sondern Schön mußte am 1. August telegraphieren:

„Auf meine wiederholte bestimmte Frage, ob Frankreich im Falle eines deutsch-russischen Krieges neutral bleibe, erklärte der Ministerpräsident mir, daß Frankreich das tun werde, was seine Interessen ihm geböten.“

Für diese Antwort hatte Schön keine Instruktionen. Auch dem Auswärtigen Amt fiel es nicht leicht, sich durch sie zum „Kriege gezwungen“, von Frankreich „angefallen“ zu erklären, was doch notwendig war, wollte man sich eine günstige moralische Atmosphäre für den Krieg schaffen.

Gleich nach dem Einlangen der Schönschen Antwort machte man sich im Auswärtigen Amt daran, eine Kriegserklärung auszuarbeiten, und brachte folgendes, noch vom 1. August datiertes Dokument zustande:

„Die deutsche Regierung ist von Beginn der Krisis an um einen friedlichen Ausgleich bemüht gewesen. Aber während sie auf Wunsch S.M. des Kaisers von Rußland und in Fühlung mit England noch zwischen Wien und St. Petersburg vermittelte, hat Rußland sein gesamtes Heer und seine Flotte mobilisiert. Durch diese Maßregel, der keine außerordentlichen Kriegsvorbereitungen in Deutschland vorangegangen waren, ist das Deutsche Reich in seiner Sicherheit bedroht worden. Einer solchen Gefahr nicht entgegentreten, hieße um die Existenz des Reiches spielen. Die deutsche Regierung hat daher die russische Regierung zur sofortigen Einstellung der Mobilmachung gegen Deutschland und seinen Verbündeten aufgefordert. Gleichzeitig hat die deutsche Regierung die Regierung der französischen Republik hiervon in Kenntnis gesetzt und sie in Anbetracht der bekannten Beziehungen der Republik zu Rußland um eine Erklärung darüber ersucht, ob Frankreich in einem russisch-deutschen Kriege neutral bleiben will. Hierauf hat die französische Regierung zweideutige und ausweichende Antwort gegeben, Frankreich werde das tun, was seine Interessen geböten.

Mit dieser Antwort behält sich Frankreich vor, sich auf Seiten unserer Gegner zu stellen, und es ist in der Lage, uns jeden Augenblick mit seiner inzwischen mobilisierten Armee in den Rücken zu fallen. Deutschland muß in diesem Verhalten um so mehr eine Bedrohung erblicken, als auf die an Rußland gerichtete Aufforderung, die Mobilisierung seiner Streitkräfte einzustellen, nach längst verstrichener Frist keine Antwort eingegangen und daher ein russisch-deutscher Krieg ausgebrochen ist. Deutschland kann die Wahl des Zeitpunktes, in dem die Bedrohung seiner westlichen Grenze zur Tat wird, nicht Frankreich überlassen, sondern muß, von zwei Seiten bedroht, sofort seine Verteidigung ins Werk setzen.

Hiernach bin ich beauftragt, Ew. Exzellenz folgendes zu eröffnen: S.M. der Deutsche Kaiser erklärt im Namen des Reichs, daß Deutschland sich als im Kriegszustand mit Frankreich befindlich erklärt.“

Diese Kriegserklärung wurde nicht abgeschickt. Die Gründe dafür sind nicht verzeichnet. Man scheute wohl davor zurück, der unzureichend begründeten Kriegserklärung an Rußland eine zweite gleichen Kalibers an Frankreich nachzusenden. Mit welcher Verlegenheit man der eben ausgesprochenen Kriegserklärung an Rußland gegenüberstand, bezeugt schon der Umstand, daß man sie auch in dem in Rede stehenden Schriftstück gar nicht zu erwähnen wagt, sondern einfach einen „russisch-deutschen Krieg ausgebrochen“ sein läßt, als wäre das ein Elementarereignis wie ein Vulkanausbruch, unabhängig von allen menschlichen Entschließungen. Von der Triftigkeit der an Rußland ergangenen Kriegserklärung hing aber die Frankreich gegenüber ausgesprochene ah. War Deutschland von Rußland angegriffen, dann mußte es sich dagegen schützen, daß es nicht auch von Frankreich nach Belieben angefallen wurde. War die deutsche Regierung dem russischen Reich gegenüber der Angreifer, dann wurde sie der Angreifer auch gegenüber Frankreich, sobald sie diesem bloß aus dem Grunde den Krieg erklärte, weil es das tun wollte, was seine Interessen geböten.

Zu diesen Erwägungen mochte sich vielleicht auch noch die gesellen, daß man aus dem gleichen Grunde, wie Frankreich, auch England und Italien gegenüber hätte den Krieg erklären können. Auch deren Neutralität stand nicht fest, auch sie konnten mit ihren inzwischen mobilisierten Armeen und Flotten den verbündeten Zentralmächten „jeden Augenblick in den Rücken fallen.“ Es wäre doch gefährlich gewesen, dieses Motiv als ausreichenden Grund für eine Kriegserklärung gerade in den Moment auszusprechen, in dem man, in anderer Weise als Frankreich gegenüber, die Neutralität oder die Bundesgenossenschaft der beiden genannten Mächte zu erlangen trachtete.

Auf keinen Fall konnte man behaupten, daß durch die französische Erklärung allein schon Deutschland angegriffen, zum Krieg gezwungen worden sei. Und das wollte man doch der Welt einreden.

Aber welche Gründe immer maßgebend gewesen sein mögen, das Dokument nicht abzusenden, der Verzicht darauf beweist jedenfalls, daß man zur Überzeugung kam, die Antwort Frankreichs, es werde sich nur von seinen Interessen leiten lassen, biete keinen ausreichenden Grund für eine Kriegserklärung.

Die Kriegserklärung brauchte man aber dringend, nachdem der Krieg mit Rußland schon im Gange war. In der Verlegenheit griff man schließlich zu demselben Mittel, zu dem man, nachdem man Rußland den Krieg erklärt, seine Zuflucht nahm, um zu beweisen, daß es den Frieden gebrochen: man berief sich auf kriegerische Aktionen, mit denen der Gegner angefangen habe.
 

Die mysteriösen Flieger

Die schon mehrfach erwähnte Denkschrift der deutschen Regierung vom 3. August wurde, wie sie vermerkt, abgeschlossen am 2. August mittags. Die Kriegserklärung überreichte der deutsche Botschafter dem französischen Ministerpräsidenten am 3. August um 6 Uhr 45 Minuten abends. Die Denkschrift wußte aber schon zu melden:

„Am Morgen des nächsten Tages (2. August) eröffnete Frankreich die Feindseligkeiten.“

Welcher Art waren diese?

Die Kriegserklärung vom 3. August zählt sie auf:

„Französische Truppen haben schon gestern bei Altmünsterol und auf Gebirgsstraßen in den Vogesen deutsche Grenze überschritten und stehen noch auf deutschem Gebiet. Französischer Flieger, der belgisches Gebiet überflogen haben muß, wurde bei Versuch, Eisenbahn bei Wesel zu zerstören, schon gestern herabgeschossen. Mehrere andere französische Flugzeuge sind gestern über Eifelgebiet zweifelsfrei festgestellt. Auch diese müssen belgisches Gebiet überflogen haben. Gestern warfen französische Flieger Bomben auf Bahnen bei Karlsruhe und Nürnberg. Frankreich hat uns somit in Kriegszustand versetzt.“

Jetzt hatte man endlich den ersehnten Kriegszustand. Frankreich konnte freilich gleichzeitig auch mit einer Reihe von Klagen über Grenzverletzungen aufwarten und Bethmann Hollweg mußte am 4. August in seiner Kriegsrede sogar zugeben, daß sie nicht ganz ungerechtfertigt seien. Die französische Regierung hatte aber daraus keinen Anlaß zum Kriege gezogen, sie hatte sogar, um ihrerseits Grenzverletzungen zu verhüten, getan, was die deutsche Regierung nicht tat; sie hatte schon am 30. Juli angeordnet:

„Obgleich Deutschland seine Deckungsmaßnahmen einige hundert Meter von der Grenze an der ganzen Front von Luxemburg bis zu den Vogesen, getroffen und Deckungstruppen in ihre Kampfstellungen gebracht hat, haben wir unsere Truppen zehn Kilometer von der Grenze ferngehalten und ihnen verboten, näher heranzurücken.“ (Gelbbuch von 1914, Nr.106.)

Man mag sich auf den Boden deutscher Politiker stellen, die annahmen, daß Frankreich diese Maßnahmen nicht im Interesse des Friedens, sondern nur deshalb traf, weil es noch nicht gerüstet war, also aus Heimtücke, um Zeit zu gewinnen und später dem Feind „in den Rücken zu fallen.“ Aber gerade wer auf diesem Standpunkt steht, wird zugeben müssen, daß die französische Regierung ihre eigenen Intentionen durchkreuzt hätte, wenn sie die Feindseligkeiten vorzeitig begann.

Schon deshalb wird man den Behauptungen der Kriegserklärung mit äußerstem Mißtrauen gegenüberstehen müssen. Auf welche Mitteilimgen stützt sie sich?

Am 2. August, um Mitternacht, telegraphierte der Reichskanzler nach London:

„Nach absolut zuverlässigen Meldungen hat sich Frankreich heute gegen uns folgende Übergriffe erlaubt:

1. Französische Kavalleriepatrouillen haben heute am frühen Nachmittag die Grenze bei Altmünsterol im Elsaß überschritten.

2. Ein französischer Fliegeroffizier ist bei Wesel aus der Luft geschossen worden.

3. Zwei Franzosen haben versucht, Aachener Tunnel an der Moselbahn zu sprengen und sind dabei erschossen worden.

4. Französische Infanterie hat im Elsaß Grenze überschritten und geschossen.

Bitte das sofort dortiger Regierung mitteilen und Sir Edtvard Grey ernstlich vorhalten, in welche gefahrvolle Lage Deutschland durch diese wider Treu und Glauben erfolgenden Provofiationen gebracht und zu den ernstesten Beschlüssen gedrängt werde. Ew. Erzellenx wird es, wie ich hoffe, gelingen, England davon zu überzeugen, daß Deutschland, nachdem es den Friedensgedanken bis an die äußerste Grenze des Möglichen vertreten hat, durch seine Gegner in die Rolle des Provozierten gedrängt wird, der, um seine Existenz zu wahren, zu den Waffen greifen muß.“

Am 3. August wurde dann im Auswärtigen Amt um 1 Uhr 45 nachmittags folgende Zusammenstellung französischer Grenzverletzungen verzeichnet, die der Generalstab berichtete:

„1. Meldung des 15. Armeekorps (Generalkommando): Grenzverletzungen durch Franzosen am 1. August abends bei Metzeral und Schluchtpaß zweifelsfrei festgestellt. Deutsche Postierungen wurden beschossen. Keine Verluste. Ab Straßburg, 2. August, um 9 Uhr 30 abends.

2. Meldung des 15. Armeekorps (Generalkommando): In der Nacht vom L zum 2. August Grenzverletzung durch französische Infanterie gegenüber Markirch stattgefunden. Franzosen eröffneten zuerst das Feuer. Keine Verluste. Ab Straßburg, 2. August, um 5 Uhr 55 nachmittags.

3. 50. Infanterie-Brigade meldet ab Mülhausen, 2. August. 12 Uhr 10 nachmittags: Feindliche Patrouillen haben Grenze bei Altmünsterol in Gegend bei Rath überschritten, sind aber wieder zurückgegangen.

4. Meldung der Linienkommandantur Köln ab 2. August, 11 Uhr 45 abends: Reger Flugzeugverkehr des Feindes über die Grenze aus Richtung Trier nach Junkerath und aus Richtung Dahlhsim nach Rheydt und auf rechtem Rheinufer bei Köln. Bei Rheydt signalisierten sie mit weißem, rotem, grünem Licht.

5. Telephonische Meldung des Chefs des Stabes vom 21. Armeekorps, 3. August, 9 Uhr 40 vormittags: Drei Flugzeuge und ein Luftschiff (vorn breit, hinten ganz spitz) heute früh über Bahnhof Saarburg, Lothringen, von Maschinengewehren beschossen. Die Flugzeuge gaben nicht die vorgeschriebenen Erkennungszeichen.

6. Meldung der Linienkommandantur in Ludwigshafen am Rhein vom 2. August, abends: Zwei feindliche Flugzeuge heute (2. Aug.) gegen 10 Uhr abends bei Neustadt a.d. Haardt gemeldet.

7. Meldung der Linienkommandantur Wesel (eingegangen 2. Aug. abends): Bei Wesel feindliches Flugzeug abgeschossen.“

In dieser Aufstellung vom 3. August fällt uns vor allem auf, daß in ihr die Nachricht von der Sprengung des Aachener Tunnels fehlt. Aus guten Gründen. Trotzdem sie aus „absolut zuverlässigen Meldungen“ stammte, erwies sie sich eben schon tags darauf als falsch. Als eines der vielen Gerüchte, die in jenen aufgeregten Tagen die Luft durchschwirrten, aber von einem ernsten Staatsmann nicht ohne Prüfung als richtig hingenommen werden durften.

Auch die Berichte der Militärbehörden erwiesen sich nicht immer als richtig. So telegraphierte am 3. August, morgens um 10 Uhr, der luxemburgische Staatsminister Eyschen an Jagow:

„Soeben verteilt man in der Stadt Luxemburg eine Proklamation des kommandierenden Generals des 8. Armeekorps Tulff von Tscheepe, die folgenden Wortlaut enthält:

‚Nachdem Frankreich, die Neutralität Luxemburgs nicht achtend, wie zweifelsfrei festgestellt, die Feindseligkeiten von luxemburgischen Boden aus gegen Deutschland eröffnet, haben S.M. Befehl erteilt, daß auch deutsche Truppen in Luxemburg einrücken.‘

Es beruht dies auf einem Irrtum. Es befindet sich auf luxemburgischem Boden absolut kein französisches Militär, noch gibt es irgendwelche Anzeichen einer Bedrohung der Neutralität von seifen Frankreichs. Im Gegenteil, am 1. August, Samstag abend, wurden auf französischem Boden bei Mont Saint Martin Longwy die Schienen der Eisenbahn aufgerissen. Das beweist, daß bereits damals die Absicht nicht vorlag, per Bahn nach Luxemburg vorzudringen.“

Tut nichts. Die deutschen Generäle fühlten sich offenbar befugt, überall, wo es ihnen paßte, französische Feindseligkeiten „zweifelsfrei“ festzustellen. Die Proklamation des Herrn Kommandierenden Generals Tulff zeigt übrigens „zweifelsfrei“, daß deutscherseits nicht einzelne Patrouillen, sondern das achte Armeekorps bereits am 3. August, vormittags, „auf Befehl S.M.“ die Feindseligkeiten gegen Frankreich durch Eindringen auf luxemburgisches Gebiet begonnen hatte.

Daß der Herr General auf eigene Faust handelte, ist nicht anzunehmen, obwohl das Militär in jenen Tagen schon sehr selbstherrlich wurde. So wurde Jagow am 3. August vormittags folgende Aufzeichnung des Grafen Montgelas vorgelegt:

„Der Oberkommandierende in den Marken hat mitgeteilt, daß er angesichts der authentisch nachgewiesenen Grenzverletzungen genötigt sei, gegenüber der französischen Botschaft und den Franzosen die gleichen Maßregeln zu ergreifen, wie sie gegenüber der russischen Botschaft und den Russen bereits ergriffen seien.“

Also der Herr Oberkommandierende in den Marken hielt sich für befugt, auf Grund der „authentisch nachgewiesenen Grenzverletzungen“ wenigstens für Berlin gleich auf eigene Faust den Krieg an Frankreich zu erklären. Das wurde Jagow doch zu toll. Er schrieb zu der Aufzeichnung:

„Was sind das für Maßregeln? Wir sind noch nicht im Kriegszustand. Diplomaten sind daher noch akkreditiert.“

Eine Kriegserklärung an den Oberkommandierenden in den Marken folgte daraus nicht, denn wenige Stunden danach verkündete Schön in Paris, daß Deutschland sich im Kriege mit Frankreich befinde.

Am meisten wurde in seiner Kriegserklärung Gewicht gelegt auf die Flieger. Die behaupteten Grenzverletzungen durch französische Truppen wurden zumindest kompensiert durch gleichzeitig gemeldete Grenzübergriffe deutscher Truppen, über die Viviani schon am 2. August sich beschwerte. Aber die Flieger!

Nun hatte in jenen Tagen eine seltsame Manie die Masse der Bevölkerung ergriffen. Bei Nacht sah sie überall Flieger und Luftschiffe über sich und hörte sie Bomben platzen. Der Stuttgarter Polizeidirektor erließ damals eine Mahnung zur Nüchternheit und Besonnenheit, in der er sagte:

„Wolken werden für Flieger, Sterne für Luftschiffe, Fahrradlenkstangen für Bomben gehalten.“

Trotz der Geneigtheit, jede unter solchen Verhältnissen einlaufende Meldung über Flieger zu glauben, die man selbstverständlich auch in der finstersten Nacht sofort als „französische Militärflieger“ erkannte, konnte doch der Reichskanzler sich nur auf drei Fälle berufen, von denen der eine, daß „Flieger über dem Eifelgebiet gesichtet“ wurden, überhaupt keine Berücksichtigung verdient, denn Flieger gab es in Deutschland damals wohl viele, und wer hätte sagen können, daß die im Eifelgebiet, wenn sie wirklich „gesichtet“ wurden, französische waren und nicht deutsche oder etwa belgische oder holländische, die sich verirrt hatten? Aber der Fall in Wesel!

Am 2. August berichtete der Reichskanzler:

„Ein französischer Fliegeroffizier ist bei Wesel aus der Luft geschossen worden.“

Die offiizielle militärische Meldung vom 3. August, mittags, sagt unbestimmter nur:

„Bei Wesel ein feindliches Flugzeug abgeschossen.“

Nichts über den Insassen, nichts darüber, ob er eine Zivilperson oder ein Offizier war. In der Kriegserklärung aber heißt es, der Militärflieger habe versucht, „die Eisenbahn bei Wesel zu zerstören.“

Davon steht in dem Bericht der Linienkommandantur Wesel kein Wort.

Was von den im Eifelgebiet gesichteten Fliegern und dem Wese1er Attentat zu halten ist, haben wir eben gesehen. Was von den süddeutschen Militärfliegern gilt, auf deren Untaten die Kriegserklärung noch Bezug nahm, so sind sie seitdem schon längst als leere Erfindung gekennzeichnet worden.

Schon im April 1916 bestätigte der Magistrat von Nürnbergs

„Dem stellvertretenden Generalkommando des 3. bayerischen Armeekorps hier, ist nicht davon bekannt, daß auf die Bahnstrecke Nürnberg–Kissingen und Nürnberg–Ansbach vor und nach Kriegsausbruch je Bomben von feindlichen Fliegern geworfen worden sind. Alle diesbezüglichen Behauptungen und Zeitungsnachrichten haben sich als falsch herausgestellt.“

Das konnte man im Berliner Auswärtigen Amt schon früher wissen. Bereits am 2. August 1914 sandte der preußische Gesandte in München an den Reichskanzler folgende Mitteilung, deren Eingang im Auswärtigen Amt am 3. August, um 3 Uhr nachmittags, vermerkt ist:

„Die auch hier vom Süddeutschen Korrespondenzbureau verbreitete militärische Meldung, daß heute französische Flieger in der Umgebung von Nürnberg Bomben geworfen hätten, hat bisher keine Bestätigung gefunden. Es sind lediglich unbekannte Flugzeuge gesichtet worden, die augenscheinlich keine Militärfahrzeuge waren. Das Werfen von Bomben ist nicht festgestellt, noch weniger natürlich, daß die Flieger Franzosen.“

Vor allem auf diesen Fliegerbomben beruhte die Begründung der deutschen Kriegserklärung, die man in Paris übergab. Sie war in jeder Beziehung völlig aus der Luft gegriffen.


Zuletzt aktualisiert am: 27.11.2008