Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


16. Die Mobilisierungen


Vom Beginn der Krise an hatte bei den meisten Regierungen ein gewisses Mißtrauen nicht bloß gegen Österreich, sondern auch gegen Deutschland bestanden, trotz der lebhaften Beteuerungen Berlins, man sei durch das Wiener Ultimatum ebenso überrascht worden wie die übrige Welt.

Die Sabotierung aller Vermittlungsversuche durch Österreich und Deutschland bis zum 29. Juli, die dann durch Österreich fortgesetzt wurde, nun im Gegensatz zu Deutschland, der aber offen nicht zutagetrat – alles dies ließ die Friedensliebe der Mittelmächte immer zweifelhafter erscheinen und befestigte bei der Entente immer mehr die Befürchtungen, daß sie eine „allgemeine Konflagration“ wollten.

Nur wenige auswärtige Diplomaten waren am 30. Juli noch des Glaubens, Deutschland sei ernstlich bemüht, zu vermitteln. Zu diesen gehörte der belgische Gesandte in Petersburg, Herr de l’Escaille, der am 30. Juli berichtet:

„Unbestreitbar bleibt nur, daß Deutschland sich hier ebenso wie in Wien bemüht hat, irgend ein Mittel zu finden, um einen allgemeinen Konflikt zu vermeiden, daß es dabei aber einerseits auf die feste Entschlossenheit des Wiener Kabinetts gestoßen ist, keinen Schritt zurückzuweichen und anderseits auf das Mißtrauen des Petersburger Kabinetts gegenüber den Versicherungen Österreich-Ungarns, daß es nur an eine Bestrafung, nicht an eine Besitzergreifung Serbiens denke.“

Die Depesche kam auf dem Weg durch Deutschland in die Hände der deutschen Regierung, die sich beeilte, sie zu veröffentlichen, weil sie beweise, daß Deutschland mit größter Hingebung für den Frieden gewirkt habe. Die deutsche Regierung hat später noch zahlreiche andere Berichte belgischer Diplomaten aus dem Jahrzehnt vor dem Kriege veröffentlicht, die alle sehr günstig von der Friedensliebe Deutschlands sprachen. Was sie bezeugen, ist das eine, daß gerade unter den belgischen Diplomaten das Zutrauen zur deutschen Politik sehr stark war. Um so sonderbarer berührt es, daß die deutsche Regierung gleichzeitig mit diesen belgischen Zeugnissen andere veröffentlichte, die beweisen sollten, daß sicli Belgien schon lange vor dem Krieg mit England und Frankreich gegen Deutschland verschworen hatte.

Was das von de l’Escaille berichtete Mißtrauen des Petersburger Kabinetts gegenüber den Versicherungen Wiens anbelangt, es wolle Serbiens Integrität nicht antasten, so war diee Mißtrauen nicht auf Petersburg beschrankt. Am 29. Juli schrieb Bethmann Hollweg nach Wien an Tschirschky:

„Diese Äußerungen der österreichischen Diplomaten tragen nicht mehr den Charakter privater Äußerungen, sondern müssen als Reflexe von Wünschen und Aspirationen erscheinen. Ich betrachte die Haltung der dortigen Regierung und ihr ungleichartiges Vorgehen bei den verschiedenen Regierungen mit wachsendem Befremden. In Petersburg erklärt sie territoriales Desinteressement, uns läßt sie ganz im Unklaren über ihr Programm, Rom speist sie mit nichtssagenden Redensarten über die Kompensationsfrage ab, in London verschenkt Graf Mensdorff Teile Serbiens an Bulgarien und Albanien und setzt sich in Gegensatz zu den feierlichen Erklärungen Wiens in Petersburg. Aus diesen Widersprüchen muß ich den Schluß ziehen, daß die im Telegramm Nr.83 mitgeteilte Desavouierung des Grafen Hoyos für die Galerie bestimmt war und daß die dortige Regierung sich mit Plänen trägt, deren Geheimhaltung vor uns sie für angezeigt hält, um sich auf alle Fälle der deutschen Unterstützung zu versichern und nicht durch offene Bekanntgabe einem eventuellen Refus auszusetzen.

Vorstehende Bemerkungen sind zunächst zu Ew. Exz. persönlicher Orientierung bestimmt. Den Grafen Berchtold bitte ich nur darauf hinzuweisen, einem Mißtrauen gegen seine über die Integrität Serbiens den Mächten abgegebenen Erklärungen vorzubeugen.“

Inzwischen hatte Bethmann Hollweg selbst schon begonnen, lebhaftes Mißtrauen hervorzrurufen. Immer allgemeiner wurde die Ansicht, Deutschland wolle den Krieg, und so geriet man in das verhängnisvolle Stadium, daß jeder sich zum Kriege vorbereitete – Vorbereitungen, die zunächst verstohlen betrieben werden konnten, in einem gewissen Stadium aber in offener Mobilisierung münden mußten.

Die Gefahren dieses Stadiums hatten die deutschen Staatsmänner selbst vorausgesehen. In dem so viel besprochenen Bericht der bayerischen Gesandtschaft vom 18. Juli hieß es:

„Von einer Mobilmachung deutscher Truppen soll abgesehen werden und man will auch durch unsere militärischen Stellen dahin wirken, daß Österreich nicht die gesamte Armee und insbesondere die in Galizien stehenden Truppen mobilisiert, um nicht automatisch eine Gegenmobilisierung Rußlands auszulösen, die dann auch uns und Frankreich zu gleichen Maßnahmen zwingen und damit den europäischen Krieg heraufbeschwören würde.“

Diese Stelle hat Eisner leider weggelassen. Sie soll die deutsche Friedensliebe bescheinigen. Und sie sagt allerdings, daß Deutschland nicht den europäischen Krieg um jeden Preis sondern nur den serbischen wollte, sie sagt aber noch etwas anderes, nämlich, daß, wenn Österreich mobilisierte, dies „automatisch“ die russische Mobilisierung nach sich ziehen mußte, die dann den europäischen Krieg heraufbeschwören würde. Dies „automatisch“ mögen diejenigen beherzigen, die da behaupten, Rußland habe ganz grundlos mobilisiert und damit gezeigt, daß es den Krieg wollte.

Wem es um den Frieden unter allen Umständen zu tun war, der durfte natürlich vor allem die Kriegserklärung an Serbien nicht zugeben. Hatte man einmal diesen verhängnisvollen Schritt getan, dann war eine Atmosphäre der Beunruhigung geschaffen, die allgemeines Mobilisieren nach sich zog. Wollte man das vermeiden, dann mußte man sich zum mindesten in dem Rahmen des Programms halten, das der bayrische Bericht entwickelte; man mußte verhindern, daß Österreich in einer Weise mobilisierte, die Rußland beunruhigte.

Das geschah nicht.

Die österreichische Mobilisierung war ziemlich undurchsichtig, aber Bethmann Hollweg gestand selbst in seinen Kriegsreden am 4. August, als er von der russischen Mobilisierung sprach und diese für nicht gerechtfertigt erklärte:

„Österreich-Ungarn hatte nur seine Armeekorps, die unmittelbar gegen Serbien gerichtet waren, mobilisiert und im Norden nur zwei Armeekorps und fern von der russischen Grenze.“

Schon am 25. Juli hatte Österreich die Mobilisierung von acht Armeekorps begonnen, die „automatisch“ die russische nach sich ziehen mußte, wie der deutschen Regierung selbst bewußt war. Und sie mußte auch wissen, daß die Teilmobilisierung, mit der man begann, ebenso automatisch die allgemeine nach sich zog. Sie erfolgte in Österreich und Rußland fast gleichzeitig, am 31. Juli. Die Russen behaupteten, Österreich sei mit der Maßregel vorangegangen.

Der französische Gesandte in Petersburg, Paléologue, berichtete am 31. Juli:

„Auf Grund der allgemeinen Mobilmachung Österreichs und der von Deutschland seit sechs Tagen geheim, aber unausgesetzt betriebenen Mobilisierungsmaßnahmen ist der Befehl zur allgemeinen Mobilisierung des russischen Heeres erlassen worden,“

Am 1. August mobilisierten dann England und Frankreich, genau so, wie es der bayerische Bericht vorausgesagt.

In deutschen Regierungskreisen selbst erklärte man die russische Mobilisierung nicht aus kriegerischen Absichten der russischen Regierung. Am 30. Juli telegraphierte der deutsche Militärbevollmächtige in Petersburg:

„Ich habe den Eindruck, daß man hier aus Angst vor kommenden Ereignissen mobilisiert hat, ohne aggressive Absichten.“

Selbst nach der allgemeinen russischen Mobilisierung vom 31. Juli bemerkte Bethmann zu Lichnowsky in London:

„Ich halte es nicht für unmöglich, daß die russische Mobilmachung darauf zurückzuführen ist, daß gestern hier kursierende, absolut falsche und sofort amtlich dementierte Gerüchte über hier erfolgte Mobilmachung als Tatsache nach Petersburg gemeldet werden sind.“

Aber mochten die Mobilisierungen nur defensiven Zwecken entspringen, sie vermehrten enorm die allgemeine Spannung.

Damit wuchs gewaltig die Gefährlichkeit der Lage, Neben den Diplomaten bekamen nun die Generalstäbler deis Wort, in derselben Zeit, in der sich beim „Zivil“kanzler ein Umschwung in der Richtung zum Frieden vollzog. Für den Generalstäbler bestand die Aufgabe nicht darin, den Krieg zu verhüten, den er bereits als unvermeidlich betrachtete, als vielmehr darin, den Krieg zu gewinnen. Die Aussichten auf Sieg waren aber um so größer, je schneller man losschlug, je weniger Zeit man dem Gegner ließ, seine Kräfte zu sammeln. So stellten sich die Versuche des Kanzlers, den Frieden zu retten, erst zu einem Zeitpunkt ein, als seine frühere Kriegspolitik bereits die stärkste Triebkraft zum Krieg in den Vordergrund gebracht hatte.

Schon vom 29. Juli liegen Belege für das Eingreifen des deutschen Generalstabs in die Politik vor. An diesem Tage sandte er dem Auswärtigen Amt ein Exposé, nicht über die militärische, sondern die politische Lage, die dem Reichskanzler zu erläutern doch nicht seines Amtes war. Der Titel hieß: Zur Beurteilung der politischen Lage.

Es begann mit folgenden Ausführungen:

„Es ist ohne Frage, daß kein Staat Europas den Konflikt zwischen Österreich und Serbien mit einem andern als wie menschlichen Interesse gegenüberstehen würde, wenn in ihn nicht die Gefahr einer allgemeinen politischen Verwicklung hineingetragen wäre, die heute bereits droht, einen Weltkrieg zu entfesseln. Seit mehr als fünf Jahren ist Serbien die Ursache einer europäischen Spannung, die mit nachgerade unerträglich werdendem Druck auf dem politischen und wirtschaftlichen Leben der Völker lastet. Mit einer bis zur Schwäche gehenden Langmut hat Österreich bisher die dauernden Provokationen und die auf Zersetzung seines staatlichen Bestandes gerichtete politische Wühlarbeit eines Volkes ertragen, das vom Königsmord im eigenen zum Fürstenmord im Nachbarland geschritten ist. Erst nach dem letzten scheußlichen Verbrechen hat es zum äußersten Mittel gegriffen, um mit glühendem Eisen ein Geschwür auszubrennen, das fortwährend den Körper Europas zu vergiften drohte. Man sollte meinen, daß ganz Europa ihm hätte Dank wissen müssen. Ganz Europa würde aufgeatmet haben, wenn sein Störenfried in gebührender Weise gezüchtigt und damit Ruhe und Ordnung auf dem Balkan hergestellt worden wäre. Aber Rußland stellte sich auf die Seite des verbrecherischen Landes. Erst damit wurde die österreichisch-serbische Angelegenheit zu der Wetterwolke, die sich jeden Augenblick über Europa zu entladen drohte.“

Und so weiter. Derart waren die politischen Lektionen, die der Generalstab dem Reichslianzler erteilte und die dieser submissest entgegennahm. Über die general stäbliche Geschichtsauffassung braucht man kein Wort zu verlieren. Nur darauf sei verwiesen, daß die deutschen Generalstäbler den serbischen Königsmord zu einer Tat des serbischen Volkes machten. Sie hatten schon vergessen, daß es ihre Kollegen waren, die dieses Verfahren anwandten.

Der Bericht weist dann darauf hin, daß Rußland erklärt habe, mobilisieren zu wollen. Dadurch werde Österreich gezwungen, nicht bloß gegen Serbien, sondern auch gegen Rußland zu mobilisieren. Damit werde der Zusammenstoß beider unvermeidlich.

„Das ist aber für Deutschland der casus foederis. Nur ein Wunder könnte den Krieg noch verhindern.“

„Deutschland will diesen schrecklichen Krieg nicht herbeiführen. Die deutsche Regierung weiß aber, daß sie die tiefgewurzelten Gefühle der Bundestreue, eines der schönsten Züge des deutschen Gemütslebens, in verhängnisvoller Weise verletzen und sich in Widerspruch mit allen Empfindungen ihres Volkes setzen würde, wenn sie ihrem Bundesgenossen in einem Augenblick nicht zu Hilfe kommen wollte, der über dessen Existenz entscheiden kann.“

Deutschland will also „diesen schrecklichen Krieg nicht herbeiführen“, aber „einer der schönsten Züge des deutschen Gemüts-lebens“, das der deutsche Generalstab so hervorrajjcnd repräsentierte, rwingt es dazu, nämlich die Treue gegen den Verschwörungspakt vom 5. Juli, der auch zu den „schönsten Zügen des deutschen Gemütslebens“ gehört.

Nach diesem Appell an das deutsche Gemüt wird aber der Generalstab recht ungemütlich:

„Nach den vorliegenden Nachrichten scheint auch Frankreich vorbereitende Maßnahmen für eine eventuelle Mobilmachung zu treffen. Es ist augenscheinlich, daß Rußland und Frankreich in ihren Maßnahmen Hand in Hand gehen.

Deutschland wird also, wenn der Zusammenstoß zwischen Österreich und Rußland unvermeidlich ist, mobil machen und bereit sein, den Krieg nach zwei Fronten aufzunehmen.

Für die eintretendenfalls von uns beabsichtigten militärischen Maßnahmen ist es von größter Wichtigkeit, möglichst bald Klarheit darüber zu erhalten, ob Rußland und Frankreich gewillt sind, es auf einen Krieg mit Deutschland ankommen zu lassen. Je weiter die Vorbereitungen unserer Nachbarn fortschreiten, um so schneller werden sie ihre Mobilmachung beendigen können. Die militärische Lage wird dadurch für uns von Tag zu Tag ungünstiger und kann, wenn unsere voraussichtlichen Gegner sich weiter in aller Ruhe vorbereiten, zu verhängnisvollen Folgen für uns führen.“

Man beachte diese Sprache! Der Generalstab teilt nicht etwa der Regierung mit, daß er alle Vorbereitungen getroffen habe, um zu mobilisieren, sobald sie es anordnet, sondern er kommandiert ohne weiteres: Deutschland wird mobilmachen, sobald der Zusammenstoß zwischen Österreich und Rußland unvermeidlich wird. Dabei erklärt er mit gleicher Bestimmtheit, daß dieser Zusammenstoß nur noch durch ein Wunder zu verhindern ist.

Mobilisierung bedeutet aber nach den Grundsätzen des deutschen Generalstabs den Krieg. Er proklamiert also schon den Krieg „nach zwei Fronten“ und fordert raschestes Losschlagen, da die „militärische Lage für uns von Tag zu Tag ungünstiger wird“. Das ist der Sinn dieser Proklamation des Generalstabs an den Reichskanzler. Damit erhebt die Zentralorganisation des Militärs den Anspruch, die Entscheidung über die auswärtige Politik in ihre Hand zu nehmen und eine kriegerische Lösung zu beschleunigen, eben in dem Moment, wo diese Zivilgewalt sich anschickt, nachzugeben, einen, wenn auch kleinen Schritt zum Frieden zu machen.

Ganz ohne Kampf dankte der Reichskanzler freilich nicht ab. Unter anderem hat uns darüber noch während des Krieges ein Schriftchen imterrichtet, dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym „Junius alter“ verbarg und der den Standpunkt der Kriegspartei vertrat. Es heißt da:

„Über die amtliche Tätigkeit des Kanzlers unmittelbar vor Kriegsausbruch ... ergibt sich als Gesamteindruck die Tatsache, daß sein Streben bis zur letzten Stunde – unbekümmert um die militärischen Folgen – darauf gerichtet ist, den Ausbruch des längst unvermeidlich gewordenen Krieges um jeden Preis zu verhindern. Umsonst drängten Generalstabschef, Kriegsminister und die maßgebenden Marinestellen auf den Befehl zur Mobilmachung; es gelang ihnen zwar, den Kaiser am Donnerstag (30. Juli) von der unabweisbaren Notwendigkeit dieser Maßnahme halb und halb zu überzeugen, so daß am Nachmittage Berliner Polizeiorgane und der Lokalanzeiger die Mobilmachung bereits bekanntgaben. Aber dem Eingreifen Herrn v. Bethmanns gelang es, den entscheidenden und erlösenden (! K.) Befehl zu vereiteln. Nach wie vor und unerschütterlich hielt er an seiner Hoffnung fest, daß es ihm mit englischer Hilfe gelingen müsse, eine Einigung zwischen Wien und Petersburg herbeizuführen, und wiederum gingen zwei kostbare Tage verloren, die uns nicht nur einen Teil des Elsaß, sondern auch Ströme von Blut gekostet fwben. In gleicher Weise wäre auch der 1. August ungenützt vorübergegangen, wenn an ihm nicht schließlich die leitenden militärischen Stellen am Schlüsse erklärt hätten, daß sie bei längerer Hinauszögerung des Mobilmachungsbefehls nicht mehr imstande seien, die auf ihnen ruhende schwere Verantwortung zu tragen ... Auch nach erfolgter Mobilmachung hat Herr v. Bethmann Hollweg einen letzten Versuch unternommen, die Zurücknahme des Befehls zu erwirken, aber es war glücklicherweise zu spät: die im kleinen Finger politisch einsichtsvolleren militärischen Stellen waren in zwölfter Stunde durchgedrungen.“ (S.19, 20.)

Die Anklagen (!) des Herrn Junius alter bestätigen den Bericht des französischen Botschafters in Berlin vom 30. Juli, Herr Cambon teilt mit:

„Einer der Botschafter, mit dem ich die engsten Beziehungen habe, hat um zwei Uhr Herrn Zimmermann gesehen. Nach Aussage des Unterstaatssekretärs drängen die militärischen Behörden sehr darauf an, daß die Mobilmachung angeordnet werde, da jede Verspätung Deutschland um einige seiner Vorteile bringe. Doch bis jetzt sei es gelungen, dem Drängen des Generalstabs, der in der Mobilisierung den Krieg erblickt, zu widerstehen ... Ich habe übrigens die triftigsten Gründe zu der Annahme, daß alle Mobilmachungsmaßregeln, die vor der Veröffentlichung des allgemeinen Mobilmachungsbefehls durchgeführt werden können, hier getroffen worden sind, wo man möchte, daß wir unsere Mobilisierung zuerst bekanntgeben, um uns die Verantwortung dafür zuzuschieben.“

Bethmann Hollweg kämpfte nicht allein gegen die vorzeitige Proklamation der Mobilisierung, das heißt, nach deutschen Begriffen, des Krieges. Mit ihm kämpften auch andere Mitglieder des Auswärtigen Amtes, die sehr wohl wußten, unter welchen ungünstigen internationalen Bedingungen Deutschland in den Krieg ging und die den dünnen Friedensfaden, der in letzter Minute endlich gesponnen worden war, nicht vorzeitig zerreißen wollten.

So berichtet der belgische Baron Beyens am 1. August aus Berlin nach Brüssel;

„Um sechs Uhr abends (soll wohl heißen fünf Uhr. K.), da noch keine Antwort von Petersburg auf das Ultimatum der kaiserlichen Regierung eingelangt war, begaben sich die Herren v. Jagow und Zimmermann zum Kanzler und zum Kaiser, um zu erlangen, daß die Ordre zu allgemeiner Mobilisierung heute noch nicht ausgegeben würde. Aber sie stießen auf den unerschütterlichen Widerstand des Kriegsministers und der Häupter der Armee, die dem Kaiser die verderblichen Folgen einer Verzögerung von 24 Stunden darlegten. Die Ordre wurde sofort erteilt.“

In auffallendem Gegensatz zu diesen Berichten steht die Darstellung, die Tirpitz in seinen Erinnerungen gibt. Danach hätte Bethmann am letzten Tage selbst aufs äußerste zur Mobilmachung gedrängt und hätte, im Gegensatz zu Moltke darauf bestanden, daß mit der Mobilmachung auch sofort die Kriegserklärung erfolgte. (S.239–241.)

Diese Widersprüche bedürfen noch der Aufklärung. Doch eines steht fest: Die Ratlosigkeit in den regierenden Stellen, die seit dem 29. Juli begonnen, hatte sich von Tag zu Tag rapid gesteigert. Und ebenso die Gegensätze unter ihnen. Bethmann wurde der Geister nicht mehr Herr, die er gerufen. Er wußte selbst nicht, wie recht er hatte, als er am 30. Juli im preußischen Ministerrat erklärte: Die Direktion sei verloren und der Stein ins Rollen geraten.


Zuletzt aktualisiert am: 26.11.2008