Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


10. Die Verschwörung von Potsdam


Am 4, Juli kam der österreichische Legationsrat Graf Hoyos nach Berlin, um das schon erwähnte Handschreiben des Kaisers Franz Joseph an Wilhelm zu überbringen. Man fixiert nicht immer gefährliche Gedanken schriftlich mit völliger Deutlichkeit. Das Handschreiben sprach bereits von der notwendigen „Verkleinerung“ Serbiens. Graf Hoyos erläuterte diesen Ausdruck mündlich dahin, daß darunter die Aufteilung Serbiens unter seine Nachbarn zu verstehen sei. Hoyos, der Vertrauensmann Berchtolds, setzte diese Pläne dem Reichskanzler und dem Unterstaatssekretär Zimmermann auseinander. Das gab ihnen keine Veranlassung, auf die Österreicher zurückhaltend zu wirken.

Das schon erwähnte Weißbuch vom Juni 1919, das in Wirklichkeit ein Weißwaschungsbuch ist, bemerkt freilich:

„Das Ministerium des Äußern in Wien hat später darauf Wert gelegt, festzustellen, daß es die rein persönlichen Ansichten des Grafen Hoyos, die den Erwerb serbischen Gebiets und sogar eine Aufteilung Serbiens umfaßten, nicht teile.“ (S.56.)

Diese Mitteilung ist nicht ganz richtig. Das Ministerium hat wohl erklärt, daß die Ansichten des Grafen Hoyos seine persönlichen seien; es hat aber nie unzweideutig erkennen lassen, daß es andere Ansichten hege, und es konnte das auch nicht, schon aus dem Grimde, weil die Ansichten des Herrn Legationsrats ganz mit den Ansichten seines Vorgesetzten, des Ministers Berchtold, übereinstimmten. Das Ministerium des Äußern in Wien hat denn auch nie verraten, welches seine Absichten in Beziehung auf Serbien seien. Indes, selbst wenn das bloße Abrücken von Hoyos eine beruhigende Aufklärung über die österreichischen Pläne gegeben hätte, so fand es doch jedenfalls erst später statt, erst nach dem 5. Juli, an dem der österreichische Botschafter in Berlin dem Deutschen Kaiser das Handschreiben Franz Josephs überreichte und die entscheidenden Beschlüsse gefaßt wurden.

Über die Beratungen jenes Tages, die die Phantasie der Außenwelt um so lebhafter erregten, je weniger sie von ihnen wußte, ist viel gefaselt worden. Es habe ein Kronrat in Potsdam stattgefunden, an dem Erzherzog Friedrich, Graf Berchtold und Conrad von Hötzendorf teilnahmen, und in dem der Krieg gegen Serbien oder gar der Weltkrieg beschlossen wurde. Das schon zitierte Weißbuch vom Juni weist nach, daß dieser Kronrat eine Legende ist. Zum Beweis zitiert es den Sir Horace Rumboldt, bei Kriegsausbruch englischer Botschaftsrat in Berlin, der es für unwahrscheinlich hält, daß ein solcher Kronrat stattgefunden habe. Er ist dieser Meinung nicht wegen, sondern trotz der Beteuerungen der deutschen Regierung:

„Die gewohnheitsmäßige Verlogenheit der deutschen Regierung ist in der Tat so groß, daß ich unwillkürlich versucht bin, jeder von ihr geleugneten Feststellung Glauben zu schenken.“

Auf dieses ehrenvolle Zeugnis beruft sich das Weißbuch vom Juni 1919 zum Beweis der Unschuld der alten deutschen Regierung. Das Weißbuch selbst teilt dann mit, was sich an jenem 5. Juli tatsächlich in Potsdam zugetragen haben soll. Es wiederholt dabei im wesentlichen dasjenige, was schon die Wochenschrift Deutsche Politik im Mai darüber vorgebracht hatte. Diese Erzählung klingt sehr harmlos.

Danach frühstückte am 5. Juli der österreichische Botschafter Szögyeny beim Kaiser Wilhelm in Potsdam und überreichte ihm das Handschreiben seines Souveräns.

Später kamen zum Kaiser Bethmann Hollweg und Zimmermann, der den auf der Hochzeitsreise befindlichen Jagow vertrat und sie „besprachen die politische Lage“. Tags darauf trat Kaiser Wilhelm seine Nordlandsreise an. Offenbar das deutlichste Zeichen, daß er nichts Böses erwartete oder gar plante.

Das Weißbuch teilt den Tatbestand ebenso mit, nur läßt es den Hinweis auf die Nordlandsreise weg. Dafür fügt es hinzu:

„Es sind keinerlei besondere Beschlüsse gefaßt worden, da von vornherein feststand, daß es nicht möglich sei, Österreich-Ungarn die den Bundespflichten entsprechende Unterstützung bei dem Versuche, von Serbien wirkliche Garantien zu erlangen, zu versagen.“ (S.50.)

Das soll offenbar auch harmlos klingen, doch kann es nichts anderes besagen, als daß die deutsche Regierung es bei jener „Besprechung“ schon für selbstverständlich fand, daß Österreich „wirkliche Garantien“ fordern werde – man weiß, was das heißt – und daß Deutschlandl dabei „den Bundespflichten entsprechend“ mittue. Darüber „besondere Beschlüsse“ zu fassen, sollte am 5. Juli nicht mehr notwendig gewesen sein!

Das Weißbuch vom Juni 1919 scheint auf ein sehr kindliches Publikum zu rechnen. Am Eingang seiner Darstellung wendet es sich gegen die Behauptung, am 5. Juli habe ein Kronrat stattgefunden, der „den Krieg gegen Serbien, nach anderer Lesart den Weltkrieg“ beschlossen habe. Die berichtigende Darstellung tut aber bloß kund,

  1. daß kein Kronrat stattfand, sondern nur vereinzelte Besprechungen,
     
  2. 2. daß nicht der Weltkrieg beschlossen wurde. Vom Krieg gegen Serbien ist dabei nicht mehr die Rede.

Es heißt schließlich:

„Aus dem Telegramm (der deutschen Regierung) nach Wien vom 6. Juli und dem Handschreiben Kaiser Wilhelms vom 14. Juli geht klar hervor, daß man auch in Berlin die Möglichkeit einer Einmischung Rußlands und ihre Folgen mit in Betracht zog, aber mit irgendeiner Wahrscheinlichkeit eines allgemeinen Krieges nicht rechnete. Von der Absicht vollends, einen europäischen Krieg zu entfesseln, kann, wie die beigefügten Dokumente einwandfrei zeigen, keine Rede sein.“ (S.57.)

Lichnowsky berichtet darüber in seiner Denkschrift:

„Nachträglich erfuhr ich, daß bei der entscheidenden Besprechung in Potsdam am 5. Juli die Wiener Anfrage die unbedingte Zustimmung aller maßgebenden Persönlichkeiten fand und mit dem Zusatz, es werde auch nichts schaden, wenn daraus ein Krieg mit Rußland entstehen sollte. So heißt es wenigstens im österreichischen Protokoll, das Graf Mensdorff in London erhielt.“ (S.28.)

Graf Szögyeny, der österreichische Botschafter in Berlin, berichtet über sein Gespräch mit Wilhelm am 5. Juli:

„Nach seiner (Kaiser Wilhelms) Meinung muß aber mit dieser Aktion (gegen Serbien) nicht zu lange gewartet werden. Rußlands Haltung werde jedenfalls feindselig sein, doch sei er hierauf schon seit Jahren vorbereitet, und sollte es sogar zu einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Rußland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, daß Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde. Rußland sei übrigens, wie die Dinge heute ständen, noch keineswegs kriegsbereit und werde es sich gewiß noch sehr überlegen, an die Waffen zu appellieren. Doch werde es bei den anderen Mächten der Tripleentente gegen uns hetzen und am Balkan das Feuer schüren.

Er begreife sehr gut, daß es Seiner K.u.K. Apostolischen Majestät bei seiner bekannten Friedensliebe schwer fallen würde, in Serbien einzumarschieren; wenn wir aber wirklich die Notwendigkeit einer Aktion gegen Serbien erkannt hätten, so würde er (Kaiser Wilhelm) es bedauern, wenn wir den jetzigen, für uns so günstigen Moment unbenutzt ließen.“ (Rotbuch, 1919, I, S.22.)

Dr. Gooß versucht, die Zurechnungsfähigkeit des Grafen Szögyeny anzuzweifeln. In dieselbe Kerbe hauen vier Verfasser einer Denkschrift über die Schuld am Ausbruch des Krieges in dem Weißbuch vom Juni 1919, die Professoren Hans Delbrück, Mendelssohn-Bartholdy und Max Weber sowie Graf Montgelas.

Wir werden darauf noch in einem anderen Zusammenhang zu sprechen kommen, hier sei nur bemerkt, daß die Mitteilungen des österreichischen Botschafters in Berlin vollständig in Einklang stehen mit dem, was wir über Wilhelms damalige Denkweise wissen, und was schon seine Randglossen zu Tschirschkys Bericht vom 30. Juni bekunden. Der Zufall will, daß gerade aus jenen Tagen ein Zeugnis über Szögyenys Zuverlässigkeit in der Berichterstattung vorliegt. Am 6. verhandelte der Graf mit Bethmann Hollweg. Dieser berichtete darüber an Tschirschky und gleichzeitig sandte Szögyeny einen Bericht über die gleiche Unterredung an Berchthold. Am Tage darauf hatte Tschirschky Gelegenheit, beide Berichte miteinander zu vergleichen. Er telegraphierte darüber an das Auswärtige Amt am 7. Juli:

„Die Berichte des Grafen Szögyeny entsprachen durchaus dem Inhalt des mir sachgemäß zugestellten Telegramms Ew. Exz. vom 6. d.M.“

So einfach ist es also nicht, diesen unbequemen Zeugen moralisch um die Ecke zu bringen.

Richtig ist, daß in jenen Gesprächen Bethmann sich viel vorsichtiger ausdrückte als sein kaiserlicher Herr. Aber das war öfter so.

Ein Umstand ist vielleicht nicht ohne Belang. Szögyeny berichtet, Wilhelm sei vor dem Frühstück sehr zugeknöpft gewesen. Erst nach dem Frühstück habe er aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht.

Über das, was der Kaiser am 5. Juli nach dieser Besprechung mit seinen Leuten verhandelte, sind wir nicht unterrichtet. Aber man darf dem Weißbuch vom Juni, so wenig Zutrauen es verdient, doch glauben, daß die Absicht, einen europäischen Krieg zu entfesseln, damals nicht bestand. Nur verschweigt es, daß man damals schon den Österreichern freie Hand zu einem Krieg gegen Serbien gab, auf die Gefahr hin, damit einen Krieg mit Rußland hervorzurufen.

Im Grunde hat das die deutsche Regierung schon in ihrem ersten Weißbuch zugegeben, das sie bei Kriegsbeginn veröffentlichte, Sie erklärte damals:

„Österreich mußte sich sagen, daß es weder mit der Würde, noch mit der Selbsterhaltung der Monarchie vereinbar wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen. Die k.u.k. Regierung benachrichtigte uns von dieser Auffassung und erbat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unserem Bundesgenossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben und ihm versichern, daß eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, unsere Billigung finden würde. Wir waren uns hierbei wohl bewußt, daß ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Rußland auf den Plan bringen und uns hiermit unseren BundespPJchten entsprechend, in einen Krieg verwickeln könnte.“ (S.3, 4.)

Es wäre der Gipfel der Gedankenlosigkeit gewesen, wenn Bethmann und der Kaiser am 5. Juli wirklich nicht weiter gedacht und nicht die Möglichkeit eines europäischen Krieges erwogen haben sollten, die sie mit ihrem Vorgehen heraufbeschworen.

Es ist sicher auffallend, daß der Kaiser in einer so gefahrdrohenden Situation eine Nordlandreise antrat. Eines ist aber klar: Auch der leichtfertigste Souverän hätte das nicht gewagt, ohne sich vorher versichert zu haben, daß Wehr und Waffen des Staates für alle möglichen Anforderungen bereit seien. Die Tatsache, daß er nach den „Besprechungen“ in Potsdam seine Sommerreise antrat, deutet schon darauf hin, was bei ihnen beschlossen wurde.

Haben dort Wilhelm und Bethmann Hollweg, wie dieser selbst erklärte, einem „kriegerischen Vorgehen Österreich-Ungarns“ ihre Zustimmung zugesagt auf die Gefahr hin, in einen Krieg mit Rußland verwickelt zu werden, dann mußte klar zum Gefecht gemacht werden, ehe Wilhelm der Mitternachtssonne entgegenfuhr.

Es ist also durchaus nicht überraschend, daß sich eine „Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs Frhr. v.d. Bussche für Staatssekretär Zimmermann“ findet, datiert vom 30. August 1917. Dort heißt es:

„Am Tage, nachdem der Österreich-ungarische Botschafter im Juli 1914 S.M. dem Kaiser das vom Grafen Hoyos überbrachte Schreiben Kaiser Franz Josefs überreicht hatte, und der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg und Unterstaatssekretär Zimmermann in Potsdam empfangen worden waren, fand in Potsdam eine Beratung militärischer Stellen bei Seiner Majestät statt. Es nahmen teil: Exz. Capelle für Tirpitz, Kapitän Zenker für den Admiralstab, Vertreter des Kriegsministeriums und des Generalstabs. Es wurde beschlossen, auf alle Fälle vorbereitende Maßnahmen für einen Krieg zu treffen. Entsprechende Befehle sind darauf ergangen. – Quelle durchaus zuverlässig.

Bussche

In gleicher Richtung weisen die Mitteilungen, die Herr v. Tirpitz in seinen Erinnerungen macht (1919, S.209). Er berichtet, daß Wilhelm bei allem Optimismus es für notwendig fand, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein:

„Er hat aus diesem Grunde schon im Laufe des 5. den Reichskanzler v. Bethmann Hollweg, den Kriegsminister v. Falkenhayn. den Unterstaatssekretär des Auswärtigen Zimmermann, und den Chef des Militär kabinetts v. Lyncker nach Potsdam befohlen. Es wurde dabei beschlossen, daß Maßnahmen, die geeignet wären, politisches Aufsehen zu erregen oder besondere Kosten zu verursachen, vermieden werden sollten.“

Am 6. Juli habe dann der Kaiser mit Capelle für den damals abwesenden Tirpitz in Potsdam gesprochen.

Das ist, bis auf Kleinigkeiten, ganz dasselbe, was Bussche aufzeichnet. Damit ist das Dunkel noch nicht völlig erhellt, das über den Potsdamer „vereinzelten Besprechungen“ liegt. Sicher waren sie kein Kronrat zu nennen, Wilhelm entschied vielmehr allem Anschein nach selbständig in dieser Schicksalsstunde. Was sich daran anschloß, könnte man eher als Kriegsrat bezeichnen. Man kann ihn auch eine Verschwörung nennen, zum mindesten gegen Serbien und Rußland, wenn nicht gegen den Frieden der Welt.


Zuletzt aktualisiert am: 25.11.2008