Karl Kautsky

Kriegsmarxismus


5. Organisation und Sozialismus


a) Organisation und Staat

Nur eine Frage sei noch erörtert, und zwar deshalb, weil die Auffassung, die hier Renner vertritt, in weiten Kreisen geteilt wird.

Renner wiederholt die alte Auffassung, der Sozialismus sei das Gegenteil von „Individualismus“ . Der Kapitalismus sei „individualistisch-anarchistisch“, der Sozialismus dagegen bedeute das Prinzip der Organisation. Auf S. 8 sagt er:

„Karl Marx hat jene individualistisch-anarchistische Wirtschaftsweise erforscht und beschrieben, um sie zu verneinen ..., die kapitalistische Gesellschaft, wie sie Marx erlebt und beschrieben hat.“

Dagegen auf S. 30:

„Sozialismus in seiner rechtlichen Bestimmtheit ist Organisation und Verwaltung.“

Und auf S. 200 wird „die Arbeiterklasse die Mutter des Organisationsgedankens“ genannt.

In Wirklichkeit ist der Organisationsgedanke so alt, wie die Menschheit selbst. Die Menschen sind von Natur aus soziale Tiere, gesellschaftliches Zusammenwirken setzt aber Organisation voraus. Das heißt, dass bestimmte Mitglieder der Gesellschaft bestimmte Funktionen im Interesse der Gesamtheit übernehmen und vollziehen und dass eine Leitung da ist, die dieses Funktionieren einrichtet und überwacht. So wird eine gewisse Analogie einer Organisation von Menschen mit einem tierischen Organismus hergestellt, wobei die einzelnen tätigen Mitglieder die Glieder des Körpers und die leitenden Mitglieder sein Gehirn darstellen.

Renner drückt das etwas mystisch aus, wenn er vom Staate sagt:

„Hier nun hatte die Untersuchung einzusetzen, wie denn das Recht das Wunder vollbringt, aus Millionen Einzelmenschen gleichsam ein Individuum höherer Ordnung zu schaffen, was denn das Recht eigentlich sei und was denn der Staat, dieses sein Geschöpf und doch auch Schöpfer zugleich. Eine verjüngte und geläuterte Marxistenschule wird diese Antwort zu geben, wird uns von dem Fetisch des Rechtes zu befreien haben, der uns noch immer narrt, und die Wirklichkeit des Rechtes aufhellen. Einstweilen aber müssen wir uns mit einer Darstellung begnügen, die bloß auf einer Analogie zu beruhen scheint, aber dennoch zutrifft: Wir betrachten den Staat unter dem Bilde eines einzelnen Menschen, der, trotz seiner Vielköpfigkeit, denkt, fühlt und will wie ein physiologisches Individuum, und ebenso handelt, obschon mit unendlich gewaltigeren Mitteln.“ (S. 228)

In Ermangelung jener verjüngten und geläuterten Marxistenschule erlaube ich mir zu bemerken, dass durch den „Fetisch des Rechtes“ nur „genarrt“ wird, wer vermeint, dass es „ein Wunder“ vollbringt und den Staat als ein Individuum schafft, das ebenso denkt, fühlt, will und handelt wie ein physiologisches Individuum.

Der Staat denkt, fühlt und will ebensosehr oder ebensowenig wie irgendeine andere Organisation von Menschen, etwa eine Aktiengesellschaft oder eine Gewerkschaft. Sein Recht vollbringt kein größeres Wunder als irgendein Organisationsstatut. Wer denkt und fühlt, will und handelt, das sind immer nur die Menschen, die Mitglieder des Staates oder der Aktiengesellschaft oder der Gewerkschaft, die ihr Recht oder ihr Organisationsstatut festsetzen und ihre Leitung bestimmen oder sie schon fertig vorfinden und dann entweder sich gefallen lassen oder umändern.

Darin liegt gar nichts Geheimnisvolles, kein Fetisch und kein Wunder. Und der Staat macht keine Ausnahme unter den Organisationen.

Damit ist natürlich nicht gesagt, dass es keine Unterschiede unter ihnen gibt. Sie sind der mannigfachsten Art.

Schon ihr Alter unterscheidet sie. Die einen sind jüngsten Datums, oft unter unseren Augen, mitunter durch unsere eigene Tätigkeit entstanden. Nicht das geringste Mysterium haftet ihnen an. Andere sind aus der grauen Vorzeit überkommen, keine Zeugnisse geben uns die Umstände ihrer Begründung kund. Man kann sich diese so geheimnisvoll als möglich vorstellen. Die einen sind das bewusste Produkt der Tätigkeit einzelner Individuen, die anderen findet der Mensch der jetzigen Generation fertig vor, er wird in sie hineingeboren und durch sie von seinen frühesten Anfängen an bestimmt, ehe er noch die geringste Möglichkeit hat, auf sie bestimmend einzuwirken. So Staat, Kirche, auch Familie. Sie erscheinen nicht als sein Produkt, sondern er als das ihrige.

Die einen Organisationen werden zusammengehalten durch ausgeklügelte und schriftlich festgesetzte Regeln. Andere sind nach und nach von selbst aus den Verhältnissen erwachsen und werden durch Gefühle, Bedürfnisse, Instinkte, Gewohnheiten zusammengehalten, die meist die Form ethischer Kräfte annehmen.

Der Mensch ist eben von Natur aus, wie gesagt, ein soziales Tier. Schon seine tierischen Vorfahren müssen rudelweise zusammengelebt haben, werden, wie so viele andere Herdentiere, schon rohe Organisationen gebildet haben, in denen den einzelnen Mitgliedern gelegentlich bestimmte Funktionen der Leitung, des Wachdienstes, des Vorkampfes zufielen. Mit dem Aufkommen der Sprache erstand die Möglichkeit besserer Verständigung, die Möglichkeit, einzelne Funktionen planmäßiger auszubilden, die Organisation straffer zu gestalten und deren Erfahrungen den Nachkommen zu überliefern. Mit der Schrift wurde dann die Möglichkeit gewonnen, die organisatorischen Regelungen oder Gesetze nicht nur dauernd und genau festzulegen, sondern auch den Umkreis, für den sie galten, über den Kreis hinaus zu erweitern, der durch mündliche Verständigung erreichbar war.

Bei alledem spielen aber bis heute in jeder Organisation die gefühlsmäßigen Bindemittel, die sogenannten Imponderabilien, eine wichtige Rolle, mag auch die organisatorische Regelung durch schriftliche Gesetze und Statuten noch so sehr ausgebildet, und mag auch die Schaffung und die Anwendung der Gesetze noch so sehr besonderen Körperschaften zugewiesen sein. Das gilt nicht nur für überkommene Organisationen, wie Staat und Kirche, sondern auch für ganz neue, zu unserer Zeit begründete. Die Begeisterung für die proletarische Sache und das Vertrauen zu unseren Vorkämpfern, namentlich zu Bebel und Liebknecht, hat die Organisation der sozialdemokratischen Partei fester zusammengehalten und ihr mehr Kraft verliehen als alle Paragraphen des Parteistatuts.

Immerhin gibt es auf diesem Gebiete gewaltige Unterschiede. Die Extreme bilden auf der einen Seite Organisationen, bei denen der Buchstabe des Gesetzes oder des Statuts fast ausschließlich entscheidet, wie zum Beispiel Aktiengesellschaften, und auf der anderen Organisationen, die fast nur durch Bedürfnisse, Gefühle, Sitten und Gewohnheiten zusammengehalten werden, wie etwa eine Familie.

Die Unterschiede, die zwischen den Organisationen in Bezug auf ihre Größe, ihre Macht sowie ihre Wichtigkeit bestehen, liegen auf der Hand. Die Mitgliedschaft bei einem Kegelklub ist ohne alle Bedeutung für das Individuum. Dagegen war es im Mittel alter unmöglich, außerhalb der Kirche zu leben; die Exkommunikation, der Ausschluss aus der Kirche, bedeutete dort, wo er tatsächlich durchgeführt wurde, die Abschneidung von allen Lebensquellen. So ist heute die Organisation des Staates so umfassend und übermächtig, dass ein Leben außerhalb des Staates unmöglich ist. Man mag wohl durch Auswanderung dem einen Staat entgehen, aber das ist nicht zu erreichen, ohne dass man von einem anderen aufgenommen wird.

Indes so unendlich hoch auch an Machtfülle und Unentrinnbarkeit der Staat über einem Kegelklub steht, er ist doch, gleich diesem, nur eine Organisation von Menschen, und wenn man von ihm sagen wollte, dass er „denkt, fühlt und will wie ein physiologisches Individuum und ebenso handelt“, müsste man das gleiche auch von einem Kegelklub sagen können.

Endlich sei noch ein wichtiger Unterschied unter den Organisationen erwähnt, der auftritt, nachdem sich in der Gesellschaft Unterschiede und Gegensatze von Klassen gebildet haben.

Die einen Organisationen umfassen nur Mitglieder, die alle der gleichen Klasse angehören, die anderen umfassen Mitglieder verschiedener Klassen.

Eine Organisation der ersteren Art, in der nur eine Klasse vertreten ist, etwa nur Kaufleute oder Handwerker oder Grundbesitzer etc., dient stets dazu, die Kraft dieser Klasse zu vermehren, einerlei, ob es eine ausbeutende oder eine arbeitende Klasse ist.

Nicht so einfach liegt die Sache in einer Organisation, die Mitglieder verschiedener Klassen enthält. In manchen dieser Organisationen befindet sich die Leitung von vornherein in den Händen der Ausbeuter. Die Kraft, die aus der Organisation hervorgeht, wird dort direkt zu einer Kraft, die den Ausbeutern zugute kommt. In der Organisation und durch die Organisation wird ja die Macht der Ausbeutung verstärkt. Als ein Beispiel einer derartigen Organisation dient eine kapitalistische Fabrik. Ein anderes Beispiel bietet ein Staat, der dadurch entsteht, dass ein kriegerischer Stamm ein fremdes Gebiet erobert, dessen ebenso friedliche wie fleißige Bevölkerung unterjocht, expropriiert und in seinen Dienst zwingt.

Zu dem gleichen Resultat, aber auf einem Umweg, kommt eine aus Mitgliedern verschiedener Klassen zusammengesetzte Organisation, in der die Leitung nicht von vornherein in Händen der Ausbeuter liegt, sondern demokratisch von der Gesamtheit, also auch den Ausgebeuteten besetzt wird. Den Mitgliedern aus gesellschaftlich begünstigten Klassen, die ein Monopol entweder auf die Machtmittel des Krieges oder der Intelligenz oder der Produktion (die Produktionsmittel, vor allem Grund und Boden) besitzen, wird es in einer solchen Organisation durch ihre bevorzugte Stellung fast stets früher oder später gelingen, deren Leitung in die Hand zu bekommen und durch sie die Machtmittel der Organisation in Machtmittel der eigenen, ausbeutenden Klasse zu verwandeln, ihrer sozialen Position neue, kräftige Stützen zu geben. So wird aus der Leitung eine Herrschaft, aus der Organisation eine Herrschaftsorganisation, ein Mittel, Unterdrückung und Ausbeutung zu sichern und zu verlängern.

Gar manche in ihrem Ursprung demokratische Kirche, gar manche demokratische Produktivgenossenschaft ist so im Lauf der Entwicklung durch das Wirken von Klassenunterschieden zu einer Herrschaftsinstitution geworden. Und so auch manches Gemeinwesen primitiver Demokratie zu einem Ausbeuterstaat.

Nun ist auch der umgekehrte Fall möglich. In einer derartigen Organisation kann die ausgebeutete Klasse an Zahl, an Intelligenz, an Zusammenhang so erstarken, dass es ihr gelingt, die Leitung und die Verfügung über die Machtmittel der Organisation zu erobern.

Aber das vermag kein dauernder Zustand zu bleiben. Die ausgebeutete Klasse kann nicht die Organisation beherrschen, ohne sie nun ihrerseits zu einem Werkzeug ihrer Klasseninteressen zu gestalten, also sie zu benutzen, die Ausbeutung und die gesellschaftlich bevorzugte Stellung der Ausbeuterklasse, ihr Monopol auf Besitz, Bildung oder Waffen zu bekämpfen und ihm innerhalb, des Bereiches der Organisation ein Ende zu machen. Gelingt ihr das nicht, sind die gesellschaftlichen Bedingungen dazu nicht gegeben, die in letzter Linie in den Produktionsverhältnissen begründet sind, dann wird über kurz oder lang die gesellschaftlich bevorzugte Klasse auch wieder die Organisation beherrschen.

Organisationen, die mehrere Klassen umfassen, sind also in der Regel Herrschaftsorganisationen der durch die gesellschaftlichen Verhältnisse begünstigten Klassen.

Die machtvollste und umfassendste Organisation dieser Art ist der Staat geworden. Diese Machtstellung und Größe ist dasjenige, was ihn von anderen Organisationen unterscheidet.

Es ist ein Unterschied des Grades, nicht des Wesens. Im Mittelalter war die größte und mähtigste Organisation die Kirche. Die gewaltigsten und erbittertsten Kämpfe wurden bei seinem Ausgang daher um den Besitz der Kirchengewalt ausgekämpft, ebenso wie heute um den Besitz der Staatsgewalt gerungen wird. Es wird jedoch niemand einfallen zu behaupten:

„Die bloße Tatsache, dass, je größer das Interesse an der Reformation war, desto naher ihre Vertreter zum Papsttum getreten sind, gibt zu denken.“

Renner stellt diese Behauptung auf, nur spricht er nicht vom Verhältnis der Reformation zum Papsttum, sondern von dem der Vertreter des Proletariats zur Staatsregierung.
 

b) Organisation und Krieg

Je mehr sich die Gesellschaft entwickelt, desto zahlreicher und mannigfacher die Organisationen in ihrer Mitte, desto größer aber auch der Antrieb zur Organisation.

Es ist klar, dass die Menschen nicht für alle Zwecke und unter allen Umständen einer festen und strammen Organisation bedürfen. Sie brauchen sie am wenigsten dort, wo es sich um nichts Ernsthaftes handelt, zum Spiel, sie brauchen sie am meisten dort, wo es auf Leben und Tod geht, im Kampfe. Sie brauchen sie nicht dort, wo nur wenige Individuen zusammenwirken, die sich leicht verständigen können und wo Zeit ist, sich zu verständigen oder die Alltäglichkeit immer wieder die gleichen Verhältnisse bringt. Ganz anders dort, wo es gilt, große Massen zusammenzubringen, wo große Entscheidungen oft von der raschen Ausnutzung von Momenten abhängen, wo das Überraschende, das Unerwartete, ja nicht selten das Unerhörte auf Schritt und Tritt droht.

In solchen Situationen wurde zuerst die Notwendigkeit einer festen Organisation unter einer allgemein anerkannten Leitung empfunden. Sie wurden am frühesten geschaffen durch den Krieg. Der Krieg hat die ersten Massenorganisationen hervorgerufen. Ein großer Feldherr sein, hieß von jeher auch ein großer Organisator sein, von Alexander und Cäsar an bis auf Napoleon.

Balzac lässt in seiner Scenes de la vie privée (autre étude de la femme) einen russischen Fürsten sagen:

„Organisation ist ein Wort des (französischen) Kaiserreiches, es umfasst den ganzen Napoleon.“

Als erste Massenorganisation hat die kriegerische Organisation auch zuerst höhere Organisationsformen hervorgebracht.

In diesem Sinne ist es wohl aufzufassen, wenn in dem hinterlassenen Fragment, das ich als Einleitung in der zweiten Neuausgabe der Kritik der politischen Ökonomie veröffentlichte, Marx sagt:

„Der Krieg ist früher ausgebildet wie der Frieden: (Auszuführen wäre) die Art, wie durch den Krieg und in den Armeen u. s. w. Gewisse ökonomische Verhältnisse, wie Lohnarbeit, Maschinerie u. s. w. früher entwickelt (werden) als im Innern der bürgerlichen Gesellschaft. Auch das Verhältnis von Produktivkraft und Verkehrsverhältnissen wird besonders anschaulich in der Armee.“ (XLVI.)

Da nach dem bekannten Wort Gott stets auf Seite der stärkeren Bataillone stand, hat seit jeher in einem Kriege ein Gemeinwesen so große Massen aufzubieten gesucht, als seine Einwohnerzahl und die Verkehrsverhältnisse erlaubten. Stets waren die Massen, die im Kriege zu gemeinsamem Wirken zusammengeführt wurden, weit größer als die Massen, die man in einem Werke des Friedens vereinigte. Das gilt auch jetzt wieder. Wer hatte je im Frieden daran gedacht, eine Arbeiterarmee von zehn Millionen Mann zu gemeinsamer Arbeit zu organisieren!

Je mehr die Technik in das Kriegswesen eindringt, desto mehr hängt der Sieg aber nicht bloß von der Masse und der Organisation der Kämpfer, sondern auch von der Masse der Produkte ab, die ihnen zugeführt werden, desto tiefer die Eingriffe des Krieges in den Produktionsprozess, desto größer die Notwendigkeit der kriegführenden Staatsgewalt, auch in diesen Prozess organisierend einzugreifen.

Ware der Sozialismus nichts wie staatliche Organisation und Verwaltung der Produktion, dann würde er durch nichts mehr gefördert als durch den Krieg und die Vorbereitung auf ihn. Je ungeheurer die Kriege, je rascher sie einander folgen, je umfassender das Wettrüsten, desto rascher bauen wir dann die Grundlagen des Sozialismus auf. Unser Grundsatz hatte sonach zu lauten: durch Militarismus zum Sozialismus.

Es hat in der Tat schon im Frieden Parteigenossen gegeben, die in der großen Organisationsfähigkeit der deutschen Arbeiter und ihrer strammen Disziplin in Partei und Gewerkschaft eine Wirkung des deutschen Militarismus sahen. Darin steckt ein Körnchen Wahrheit. Allerdings waren es meist deutsche Sozialdemokraten, die gerade in dieser Disziplin die wichtigste Ursache der von allen Seiten bis zum Kriege anerkannten Überlegenheit der deutschen Partei über die auslandischen Bruderparteien suchten. Andere meinten, jene Überlegenheit sei auf die marxistische Durchbildung und das rege theoretische Interesse des deutschen Proletariats zurückzuführen und nicht auf das, was französische Genossen respektlos als „Korporalsgeist“ oder „Gesinnung des Gamaschenknopfs“ (caporalisme) bezeichneten.

Als dann der Krieg ausbrach, wurde er von deutschen Sozialdemokraten als ein Gottesgericht hingestellt, in dem die bessere Sache, die Sache des Sozialismus, siegen müsse, denn der Sieg gehöre der besseren Organisation.

Auch Renner verficht diesen Gedanken. Wir haben von ihm oben schon den Satz zitiert, in dem er sich für die „kriegerische Auslese“ begeistert, die in der Art wirkt:

„Dass diejenige Macht, die sich als die stärkste Organisation (im Kriege, K.) erweist, auch durch die Geschichte zum größten Organisationswerk berufen und von Rechts wegen die höchste Gewalt wird, die Richterin, Walterin und Rechtsschöpferin der Volker.“ (S. 278.)

So verkündet er im Namen des Sozialismus die Weltherrschaft desjenigen Staates, dessen Militarismus sich als der stärkste erweist.

Er steht nicht allein mit diesem Gedanken da. Man höre zum Beispiel Lensch, der uns auseinandersetzt, dass sich „in diesem Kriege die deutsche Revolution vollzieht“ durch den Sieg der deutschen Armeen. Denn in England und Frankreich herrscht die Bourgeoisie und mit ihr der „Individualismus“ und die „Atomisierung“ der Gesellschaft:

„Das heutige Deutschland dagegen vertritt ein geschichtlich vorgeschrittenes Gesellschaftsprinzip: das der sozialen Organisation ...“

„In Deutschland erstarkte jenes Prinzip, dessen belebende Kraft ihm jetzt die Möglichkeit gibt, den Weltkrieg gegen die größten Land- und Seemächte, die unser Planet je gesehen, siegreich durchzuhalten: das Prinzip der Organisation.“

Daher siegt mit den deutschen Armeen auch das deutsche Proletariat, denn ganz so wie Renner behauptet auch Lensch:

„Die Arbeiterklasse ist die geschichtliche Vertreterin des Organisationsprinzips.“

Dabei hat das deutsche Proletariat noch das besondere Glück, dass der preußische Militarismus der Träger des gleichen Prinzips ist:

„Es gelang in Preußen der Staatsverwaltung, im Gegensatz zu England und Frankreich, eine über den Klassen schwebende Stellung zu bewahren und das Prinzip der Organisation, das ihre besondere Eigenheit darstellte, jetzt mit voller Kraft auf eine erstarkte, kapitalistische Gesellschaft anzuwenden.“

So gab es zwischen dem Proletariat und der preußischen Regierung eine „gewisse entwicklungstechnische Verwandtschaft“, die leider von beiden Seiten nicht recht begriffen wurde, bis der Weltkrieg alle trennenden Missverständnisse beseitigte:

„Trotz aller Arbeiterfeindschaft hat in keinem Lande der Welt die Arbeiterklasse in kurzen Jahren eine derartige Stellung im öffentlichen Leben sich errungen wie in Deutschland. Hier, wo alles aufgebaut war auf der rationellen Organisation, musste auch die Klasse schnell zur Bedeutung kommen, die ihrer ganzen sozialen Struktur nach der spezifische Träger des Organisationsgedankens ist.“ (Vorwort zu Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück, datiert vom Mai 1916)

Nichts irriger als die Auffassung, dass die Arbeiterklasse „der spezifische Träger des Organisationsgedankens“ sei. Dass diese Renner-Lensch’sche Auffassung nicht original, sondern eine sehr alte Überlieferung ist, macht sie nicht richtiger.

Dass die Arbeiterklasse nicht der besondere Träger des Organisationsgedankens ist, haben wir bereits gesehen. Lensch widerspricht sich ja schon selbst, wenn er in einem Atem die preußische Staatsverwaltung zum Träger des gleichen Gedankens macht. Und er weiß auch ganz gut, woher diese „Verwandtschaft“ rührt. Er selbst unterstreicht in seinem Buche den Satz:

„Die gleiche Ursache, die aus Preußen ‚den Militärstaat‘ machte, machte ihn auch zum ‚Staat der Organisation‘.“ (S. 150)
 

c) Organisation und Kapital

Ebenso falsch wie der Satz: die Arbeiterklasse sei der besondere Träger des Organisationsgedankens, ist auch der andere Satz, dass die Kapitalistenklasse der spezifische Trager des „Individualismus“, „Atomismus“ und „Anarchismus“ sei. Für diese Auffassung spricht nichts als der äußere Schein.

Der freilich so sehr, dass sie allgemein akzeptiert wurde. Alle Welt betrachtet den Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus als einen Gegensatz zwischen Individualismus und Organisation. Marx und Engels haben den Gegensatz jedoch nie so gefasst.

Der falsche Schein rührt zum größten Teil daher, dass die Klasse der industriellen Kapitalisten nicht aufkommen konnte ohne Zerreißung der Fesseln des Feudalwesens, des Zunftzwangs, des bürokratischen Absolutismus. Hängt aber an den damals gewonnenen Freiheiten nicht heute noch das sozialistische Proletariat? Ja ist es nicht ihr eifrigster Hüter geworden, weit eifriger, als die Kapitalistenklasse selbst? Hängt es doch nicht bloß an den politischen Freiheiten, sondern auch an den ökonomischen, der Koalitionsfreiheit, der Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, dem Freihandel. Ist dadurch das Proletariat „individualistisch“ und „atomistisch“ geworden?

Die Herbeiführung dieser Freiheiten bedeutete keineswegs die „Atomisierung“ der Gesellschaft, sondern eröffnete nur die Möglichkeit, neue Organisationen an Stelle der alten zu schaffen.

Nichts verkehrter, als wenn Renner uns erzählt:

„Nach den Dekreten des 4. August, nach diesem Höhepunkt der französischen Revolution, mochten die freien Bürger auf den Platzen von Paris glückselig tanzen: sie waren frei als Personen, waren unbeschränkte Eigentümer und frei zirkulierten die Waren auf allen Märkten (oder sollten es wenigstens!) – die kapitalistische Produktionsweise möchte sich entfalten. An dem Tage aber, wo das Proletariat in diesem Staate zur Herrschaft kommt, beginnt nicht der Tanz, sondern die Arbeit.“ (S. 24)

Also der Kapitalismus kündigte sich mit Tanz an; wenn dagegen das Proletariat zur Herrschaft kommt, dann „beginnt die Arbeit“, dann wird also noch mehr geschuftet werden müssen, als unter dem Regime der Kapitalisten. Bisher meinten wir, der Kapitalismus habe über das Proletariat unendliche Arbeitsqual verhängt, der Sozialismus werde ihm Muße und Tanz bringen.

Wahrscheinlich hat sich Renner hier, wie so oft in seinem Buche, nur schief ausgedrückt. Er wollte bloß sagen: nach der bürgerlichen Revolution möchte jeder tun, was er wollte, es war nicht nötig, eine neue organisatorische Regelung einzuführen. Wenn wir ans Ruder kommen, beginnt die Arbeit der Neuorganisation.

So mag’s leidlich scheinen, aber auch so ist’s falsch.

Nach dem 4. August 1789 begann für die Gesetzgeber und Politiker des revolutionären Frankreich nicht eine Zeit des Müßigganges, die sie fröhlichem Tanz widmen konnten, sondern eine Zeit mühevoller Arbeit der völligen Neuorganisation des Staates und des bürgerlichen Verkehrs. Es begann der Kampf um die Staatsverfassung, die sich mit der Erklärung der Menschenrechte nicht erschöpfte, es begann die Neuregelung des gesamten Unterrichtswesens und des Verkehrswesens sowie des Rechtes, alles sehr mühevolle organisatorische Arbeiten, die bis heute ihre Früchte tragen. Weit entfernt, den einzelnen ganz seinem Belieben zu überlassen, wurde sogar im Interesse der Gleichheit manche Last gleich verteilt, von der bis dahin viele freigeblieben waren, also vielen Individuen Freiheiten genommen, die sie besessen. So ist der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht ein Kind der bürgerlichen Revolution. Wie verträgt sich der mit „Individualismus“ und „Atomismus“?

Aber freilich, viel wichtiger als die staatliche Organisationsarbeit wurde durch die Revolution die private Arbeit dieser Art, die der bürokratische Absolutismus gänzlich unterbunden hatte. Wenn man nur die bürokratische Organisationsarbeit des Staates als Organisation betrachtet und jede private Organisation als Individualismus und Atomismus, dann allerdings wurde das Gebiet der Organisationsarbeit durch die Revolution etwas eingeschränkt. Für die meisten Beobachter dieser wie mancher anderen Zeit existiert nur das, was in den öffentlichen Akten des Staates steht. Und die verzeichnen natürlich die private Organisationsarbeit um so weniger, je größer die Freiheit des Organisierens. Aber nichts irriger als zu schließen, dasĀ« diese Freiheit nicht benutzt wurde.

Die Zahl der Vereine wurde jetzt Legion, sowohl ökonomischer wie politischer und wissenschaftlicher, künstlerischer, geselliger. Kaum ein erwachsenes, selbständiges Individuum, das nicht einer Organisation angehört, viele sogar mehreren. Es wachsen die politischen Parteien – der Jakobinerklub war eine gewaltige Organisation und in ihr wurde nicht getanzt.

Vor allem aber wuchsen nun die ökonomischen Organisationen der Produktion, die Fabriken, die an Stelle des „Individualismus“ und „Atomismus“ des selbständigen Heimarbeiters und des nicht zünftigen Handwerkers – und deren gab es viele schon vor der Revolution – das planmäßige Zusammenarbeiten vieler Lohnarbeiter in einer gemeinsamen Arbeitsstätte setzten. Für die Lohnarbeiter bedeutete das keineswegs den Tanz freier Personen und unbeschrankter Eigentümer, sondern die Fesselung in die härteste Fronarbeit.

Nach außen hin nahm dieser Prozess aber trotzdem den Anschein der Atomisierung und Individualisierung an, weil die Leiter dieser Organisationen, die Fabrikanten, keine Störung dulden wollten und ungemessene Freiheit für sich – angeblich freilich auch für ihre Lohnsklaven – verlangten.

Die Arbeiterschutzgesetze wurden bekämpft im Namen der Freiheit des Individuums, sie bedeuteten aber in Wirklichkeit Regelungen nicht für vereinzelte Individuen, sondern für bestehende, oft sehr umfangreiche Organisationen, die Fabriken, Bergwerke, Eisenbahnen etc., deren Mitglieder dadurch erhöhte individuelle Freiheit, längere freie Zeit erhielten, über die sie nach Belieben verfügen durften, in der sie tanzen mochten, wenn es ihnen behagte.

Die „individualistischen“ Fabrikanten waren es, die mit der Organisation der Arbeiter begannen – allerdings nicht in Klassenorganisationen, sondern Herrschaftsorganisationen, die von den Kapitalisten geleitet wurden.

Es ist eine ganz verkehrte Vorstellung, zu glauben, die organisatorische Tätigkeit des Kapitals beginne erst mit der Bildung von Kapitalistengesellschaften. Der einzelne Kapitalist ist von Anfang an organisatorisch tätig, sobald er in die Industrie eingreift. Schon die Tätigkeit des Verlegers, der Heimarbeiter von sich abhängig macht, ist eine organisatorische, dann erst recht die Tätigkeit des industriellen Unternehmers in der Manufaktur oder der Fabrik. Ebenso die Tätigkeit des Bankiers, sobald er in regelmäßige Verbindung mit der Industrie gelangt. Ob es ein einzelner Kapitalist oder eine Verbindung von Kapitalisten ist, die diese Organisationstätigkeit betreibt, ist zunächst nicht entscheidend. Nicht davon hängt die organisatorische Tätigkeit ab, sondern von der Größe des Betriebes oder der Kundschaft. Der industrielle Kapitalismus beruht von vornherein auf Massenverkehr und Massenproduktion und daher auf Organisation. Nicht Kapitalisten, sondern Kleinbürger, Heimarbeiter und Intellektuelle neigen am meisten zum „Individualismus“ und zur „Atomisierung“ des „Anarchismus“. Die Form der Aktiengesellschaft hat für die industrielle Organisation nur die Bedeutung, dass sie die Ausdehnung der Betriebe und ihren Zusammenschluss erleichtert und beschleunigt und damit die organisatorische Tätigkeit des Kapitals erweitert, die in den Kartellen und Trusts und den großen Zentralbanken bisher ihren Höhepunkt fand.

Bei dieser Entwicklung gewinnt das industrielle Kapital aber auch wachsenden Einfluss auf die Staatsgewalt.

Wohl ist der Staat eine Herrschaftsorganisation ebenso wie die kapitalistische Fabrik. Aber die letztere kennt nur ein Herrschaftsverhältnis und nur einen Herrn. Ein Staat ist ein viel komplizierteres und viel umfangreicheres Gebilde als eine Fabrik. Wenn in dieser sich bloß der Fabrikant und seine Lohnarbeiter gegenüberstehen, er als Autokrat und sie als rechtlose Werkzeuge der Profiterzeugung, so findet im Staat der Fabrikant neben sich noch andere ökonomisch oder gesellschaftlich bevorzugte Klassen, Grundbesitzer, Finanzleute, Händler, Offiziere, Kleriker etc., die alle an der bestehenden Gesellschaftsordnung interessiert sind, alle vom Mehrwert leben, aber nicht direkt am industriellen Profit interessiert sein müssen und hoher als dessen momentane Größe die ungestörte Fortdauer der bestehenden Ordnung schätzen. Unter diesen Klassen gab es oft scharfe Gegensatze, die es dann auch den arbeitenden Klassen, Bauern, Handwerkern, Lohnarbeitern erlaubten, Einfluss auf die Staatsmaschinerie zu gewinnen.

Das alles nimmt dem Staat noch nicht seinen Charakter als Herrschaftsorganisation. Aber er ist eine andere Art dieser Organisation als die Fabrik. Er ist nicht eine bloße Herrschaftsorganisation der Fabrikanten allein. So vermochte das staatliche Eingreifen in die Fabrikorganisation die Allmacht des Fabrikanten zugunsten der Arbeiter etwas dort zu beschränken, wo deren Ausbeutung Formen annahm, die den Fortbestand der Arbeiterklasse und damit der ganzen Gesellschaft bedrohten.

Darüber ist der Arbeiterschutz eines bürgerlichen Staates noch nirgends hinausgegangen.

Die Gegensatze innerhalb der besitzenden Klassen, durch die ebenso wie durch den Druck der Arbeiterklasse der Arbeiterschutz gefordert wurde, haben in den letzten Jahrzehnten sich nicht verschärft, sondern vermindert. Die größten industriellen Kapitalisten sind mit den Bankmagnaten zum Finanzkapital vereinigt und mit dem grossen Grundeigentum versippt und verschwägert.

Die Folge ist wachsende Macht der großen Kapitalisten im Staate. Damit ändert sich ihre Stellung ihm gegenüber. Ehedem standen sie ihm misstrauisch, ja feindselig gegenüber, wenn er mehr sein wollte als Nachtwächter. Heute sind sie seiner sicher und benützen ihn als wirksames Werkzeug der Profitwirtschaft. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass es diese Wandlung ist, die Renner als „Durchstaatlichnng der Wirtschaft“ erscheint.

Irgendein neues Prinzip wird mit dem wachsenden Einfluss des Großkapitals im Staate und des Staates im Wirtschaftsleben in keiner Weise in die kapitalistische Wirtschaft hineingetragen, da diese, wie nochmals betont sei, von Anfang nicht auf dem Individualismus, sondern auf der Organisation von Massen beruht – ebenso wie der Militarismus. Der Staatskapitalismus bereitet dem Militarismus den Weg und umgekehrt. In diesem Sinne, aber auch nur in diesem, ist die Kriegswirtschaft allerdings die bloße Fortsetzung dessen, was die Friedenswirtschaft angebahnt hat. In jedem anderen Sinne bedeutet jedoch die eine das gerade Gegenteil der anderen.
 

d) Organisation und Klassenkampf

Organisation ist also das Prinzip nicht bloß der Arbeiterklasse und des Sozialismus, sondern auch des Militarismus und des Kapitalismus. Die große Frage, die in unserer Zeit zur Entscheidung steht, ist. nicht die, ob Individualismus oder Organisation, sondern die, ob die Gesellschaft organisiert worden soll durch Militarismus und Kapitalismus oder durch das Proletariat.

Wenn man sich als Marxist bekennt, darf man vor allem die Grundlage nicht außer acht lassen, auf der sich der Sozialismus aufbaut: den Klassenkampf.

Wir Sozialdemokraten sind die Partei des Proletariats. Einerlei, ob wir selbst alle Proletarier sind oder nicht, unser aller großes Ziel ist die Befreiung des Proletariats und damit des gesamten geknechteten Teiles der Menschheit.

Die Organisation ist uns nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zu diesem Ziele. Nicht die Organisation „an sich“, nicht jede wirtschaftliche Organisation ist von uns zu fordern, sondern nur jene Organisationen, die die ökonomische, politische, intellektuelle, moralische Kraft und Selbständigkeit des Proletariats fördern.

Organisationen gegnerischer Klassen sind zu bekämpfen. Sie mögen den „Organisationsgedanken“ noch so sehr fordern, sie stärken nur die Feinde des Proletariats, hemmen seinen Emanzipationskampf. Nichts verkehrter zum Beispiel als die oft geäußerte Ansicht, Genossenschaften von Agrariern seien ein Fortschritt zum Sozialismus, denn dieser bedeute doch „Genossenschaftlichkeit“ . Der Sozialismus bedeutet nur die Genossenschaftlichkeit von Arbeitern und nicht die von Ausbeutern.

Und was von unserer Stellung zur Organisation überhaupt gilt, trifft auch für die besondere Organisation, den Staat zu. Ebensowenig wie gegenüber der Organisation „an sich“ nehmen wir gegenüber dem „Staat an sich“ eine bestimmte Stellung ein. Wie bei der Organisation, hängt sie beim Staat davon ab, in den Händen welcher Klasse er ist, welchen Interessen er dient, welche Politik er treibt.

Ebensowenig wie jede wirtschaftliche Organisation ist uns jede Art Staatswirtschaft von vornherein „Sozialismus“.

Im Gegenteil. Der Staat ist eine Herrschaftsorganisation und von vornherein in der Regel eine Organisation in den Händen der ausbeutenden Klassen. Nur unter besonderen Verhältnissen kann er in die Hände der ausgebeuteten Klassen gelangen, und nur dort, wo dies gelungen, vermag er zum mächtigsten Werkzeug ihrer Emanzipation zu werden.

Wo dies nicht der Fall, ist die Staatsgewalt ein Werkzeug ihrer Unterdrückung und aufs schärfste zu bekämpfen.

Wohl sind die herrschenden Klassen im Staate sehr oft nicht einig, sondern stehen untereinander im Kampfe. Das Proletariat täte sehr unrecht, bei diesen Kämpfen abseits zu stehen, statt in sie einzugreifen. Es mag dabei sehr wohl einmal die eine oder die andere Seite unterstützen, aber es hüte sich davor, jemals seine Selbständigkeit aufzugeben oder Vertrauen ’zu ener der bürgerlichen Parteien zu fassen. Es muss sich stets des Marxschen Wortes bewusst sein, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur ihr eigenes Werk sein kann.

Wohl vermag eine sozialistische Partei in einem modernen Staate Einfluss schon zu gewinnen, ehe das Proletariat die ganze politische Macht erobert hat. Sie kann früher schon politische Macht üben und soll trachten, sie üben zu können. Sie darf aber nie vergessen, dass ihre Macht auf der Kraft des Proletariats beruht, seiner Geschlossenheit und dem Vertrauen, das es ihr entgegenbringt, und nicht auf dem Vertrauen bürgerlicher Parteien und Regierungen.

Das Proletariat ist heute in jedem modernen Staate so zahlreich und stark geworden, dass jede politische Partei einer Anhängerschaft aus seinen Reihen bedarf, eine jede mit der Sozialdemokratie um die Seelen der Proletarier ringen muss.

Das kann keine Partei, ohne dem Proletariat Versprechungen und auch wirkliche Konzessionen zu machen. So weit die ersteren gehen mögen, die letzteren werden stets geringfügig und ungenügend sein, weil sie das bürgerliche Interesse nicht verletzen dürfen.

Durch nichts kann die Sozialdemokratie die bürgerlichen Parteien und die Regierungen auf der Bahn der Konzessionen weiter treiben als durch rücksichtslose Kritik an diesen Konzessionen. Durch nichts wird sie das Vertrauen des Proletariats besser erringen, als durch solche Kritik, durch schärfste Opposition.

Sie arbeitet am positivsten als Oppositionspartei, fordert als solche am besten die praktischen Interessen des Proletariats und ihre eigene Machtstellung. In dem einen wie in dem anderen Sinne wirkt sie als Oppositionspartei auch dadurch, dass unter einem bürgerlichen Regime die Oppositionsstellung die einzige ist, die es ermöglicht, den gesamten kampffähigen und kampfesfrohen Teil des Proletariats in einer geschlossenen Organisation dauernd zusammenzuhalten und ihm dadurch die größte Kraft zu verleihen, die es zu entfalten imstande ist.

Ja, Organisation ist das Prinzip der Arbeiterklasse. Aber nicht Organisation überhaupt, sondern proletarische Organisation. Und die geschlossene Organisation ist seine beste Waffe – jedoch eine Waffen nur zum Kampfe. Nicht aber frommt ihm der Zusammenschluss, um einhellig einem Rattenfänger von Hameln zu folgen der im das Liedlein von der arbeiterfreundlichen Staatsgewalt vorpfeift, die immer mehr darauf bedacht sei, im Gegensatz zum Kapital dem Proletariat zu dienen, und der es durch diese schone Melodie von der „Staatsferne“ in die „Staatsnähe“ verlocken, das heißt, aus einer Partei der Opposition in eine Regierungspartei – aber noch lange nicht in eine regierende Partei – verwandeln will.

Diese Melodie hat die Deutsche Sozialdemokratie gesprengt, einen großen Teil von ihr entmannt, sie praktisch in einer Epoche gewaltigster Entscheidungen auf das höchste geschwächt. Es ist die Melodie vom 4. August.

Wie gut theoretisch begründet diese Politik ist, hat der Leser jetzt gesehen. Ich hoffe, das hier Gesagte genügt, die Rennersche Arbeit und damit die Grundlagen der Politik des 4. August zu kennzeichnen.

Wohl wäre noch viel über das Buch und seinen Inhalt zu sagen, da es fast alle grundlegenden Fragen unserer Theorie und Praxis behandelt, und alle in einer Weise, die zu lebhaftestem Widerspruch herausfordern.

Aber sie alle erledigen wollen, hieße eine Bibliothek schreiben, denn eine irrige Behauptung vorzubringen, dazu genügen oft zwei Zeilen, wahrend zu ihrer Richtigstellung vielleicht nicht einmal zwanzig Seiten ausreichen.

Eine so erschöpfende Erörterung darf man dem Leser in einer Epoche erregtester Aktualität nicht zumuten. Die Zeit des Versenkens in theoretische Studien ist noch nicht wiedergekommen.

Handelte es sich nicht um das sachliche Interesse an den hier erörterten Fragen, dann hatte ich mich sogar noch kürzer fassen können, denn lebendige Kraft wird das Rennersche Buch nicht erlangen. Es wird unfruchtbar bleiben für unsere Theorie, die nur durch Forschungen und nicht durch Entrüstung über den Mangel an Forschungen der anderen, die Hindurch gut begründete und nicht durch vorläufige Antworten gefordert werden kann. Es wird aber auch unfruchtbar bleiben für unsere Praxis und Bedeutung höchstens behalten als Kuriosum, das der Generation nach dein Kriege als eines der Exempel der Verwüstungen, die er in so vielen Köpfen und selbst höchst scharfsinnigen angerichtet hat, noch gezeigt werden, wird, wenn die noch größeren Verwüstungen dieser Art vergessen sind, die wir in so manchem Organ der Sozialistischen Tagepresse schaudernd miterlebten.

Auf die Praxis des Proletariats wird Renners Werk ohne dauernden Einfluss bleiben, weil die Voraussetzungen, von denen es ausgeht, mit dein Kriege schwinden, und nicht minder die Erwartungen, denen es Ausdruck gibt. Ja heute schon, wahrend noch der Krieg tobt, der Kriegszustand uns umfängt, die Kriegswirtschaft alle ökonomischen Gesetze in ihre Gegenteil verkehrt, beginnen die Klassengegensätze und Klassenkämpfe sich immer ungestümer geltend zu machen, Vorboten dessen, was der Abschluss des Krieges bringen wird. Die „Staatsferne“, das heißt die Opposition des Proletariats, wachst rapid und wird so lange wachsen, bis sie nicht durch „Annäherung“ an die Staatsregierung, sondern durch deren Eroberung überwunden ist.

Das war die Auffassung des Kommunistischen Manifests. Es war die Auffassung der Marxisten bis zum Kriege. Dieser hat nichts daran geändert.

Wir bleiben, was wir waren: die Partei des unversöhnlichen Klassenkampfes.


Zuletzt aktualisiert am 3. September 2016