Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


8. Die belgische Neutralität


Wir haben gesehen, wie eigenartig sich in Belgien das Nationalitätenproblem und damit die innere Politik gestaltet.

Nicht minder eigenartig wurde seine äußere Politik durch seine dauernde, garantierte Neutralisierung bestimmt.

So tapfer die belgischen Proletarier 1830 gefochten hatten, sie waren nicht imstande gewesen, die Unabhängigkeit ihres kleinen Ländchens zu behaupten ohne Hilfe von außen. Die Ostmächte, Preußen, Österreich, Rußland standen der Revolution feindselig gegenüber. Hilfe kam zunächst von Frankreich. Die Macht des neugebackenen Königs Louis Philipp war noch zu abhängig von den revolutionären Schichten, als daß er es hätte wagen können eine Revolution an der Grenze Frankreichs widerstandslos niederschlagen zu lassen. Er ließ die Polen im Stich, die sich auch im gleichen Jahre für ihre Unabhängigkeit erhoben. Aber die Belgier standen den Franzosen zu nahe.

Doch hat Louis Philipp noch einen anderen Grund, für die Belgier einzutreten. Es war nicht lange her, daß Belgien französisch gewesen. Er hoffte, die Unruhen würden es abermals Frankreich zuführen. Eine starje Partei unter den Belgiern war dazu geneigt, den Anschluß direkt der wenigstens indirekt zu vollziehen durch Erwählung des Herzogs von Nemours, des Sohnes LouiS PhilippS, zu ihrem König. Bei der Königswahl im Kogreß erhielt er die meisten Stimmen, 97. Weitere 74 fielen auf den Herzog von Leuchtenberg, der als Sohn des Eugen Beauharnais, des Stiefsohns Napoleons, ebenfalls französischer Abstammung war. Endlich erhielt der österreichische Erzherzog Karl 21 Stimmen.

Doch durfte Louis Philipp nicht wagen, für sich oder seinen Sohn die Hanb nach dem belgischen Besitz auszustrecken, denn ihm stand England entgegen, das nach wie vor eifersüchtig darüber wachte, daß keine große Landmacht, England gefährlich werden konnte, sich Belgiens bemächtige. Palmerston drohte mit Krieg, wenn der Herzog von Nemours die Wahl annahm. Dieser mußte auf die Krone verzichten.

Es war vor allem Englands Werk, daß Belgien ein selbständiger Staat wurde unter einem König, der aus Keiner der großen Dynastien stammte, unter Leopold von Coburg. Preußen war dabei auf Seite Englands gestanden.

Wie aber die Selbständigkeit des kleinen Staates für die Zukunft sichern? Es war ein Preuße, der hierfür die Lösung vorschlug:

Preußens Vertreter in London v. Bülow war es, der die Lösung der Frage, wie die Selbständigkeit Belgiens mit der allgemeinen Interessen vereinigen lasse, durch den Vorschlag fand, daraus einen neutralen Staat gleich der Schweiz zu machen. Dadurch wurde ein Ersatz für das ehemalige Barrieresystem geschaffen. (Flathe, Das Zeitalter der Restauration und Revolution, Berlin 1883, S. 264)

Die „Höfe von Großbritannien, Österreich, Frankreich, Preußen und Rußland“ garantierten in dem Vertrag vom 15. November 1831 dem König der Belgier die stänbige (perpetuelle) Neutralität sowie die Integrität und Unverletzlichkeit seines Gebiets (Artikel IX).

Der Vertrag wurde erneuert und bekräftigz im Jahre 1839, als Holland die Unabhängigkeit Belgiens anerkannte.

Die Eigenart dieser Neutralität besteht einmal darin, daß sie eine dauernde, keine gelegentliche ist. Jeder Staat kann bei einem Konflikt zwischen anderen Mächten sich neutral erklären, das schließt nicht aus, daß er bei einer anderen Gelegenheit oder auch später in demselben Konflikt Partei ergreift. So waren Amerika und Rumänien im jetzigen Weltkrieg eine Zeitlang neutral, dann griffen sie in ihn ein. Griechenland, das diesmal neutral blieb, hatte kurz vorher an einem Angriffskrieg gegen die Türkei teilgenommen. Belgien dagegen wurde eine dauernde Neutralität auferlegt und garantiert.

In dem Auferlegen und Garantieren liegt die zweite Eigenart der belgischen Neutralität. Die gewöhnliche Neutralität eines Staates ist eine freiwillige und von keiner Macht gewährleistete. Es steht in seinem Belieben, soweit die Machtverhältnisse es ihm gestatten, in einem Konflikt neutral zu werden oder Partei zu ergreifen, und keine andere Macht besitzt einen Rechtsanspruch darauf, daß er neutral bleibt. Keine andere Macht gewährleistet aber auch einem solchen Staate von Rechts wegen unter allen Umständen die Achtung, ja den Schutz seiner Neutralität. Die Art der belgischen Neutralität verpflichtete Belgien zu strengster Neutralität in jedem Falle, verpflichtete dabei die Garantiemächte, die Neutralität zu achten, gab jeder von ihnen das Recht, sie zu schützen.

So eigenartig die belgische Neutralität erschien, sie hatte ihren Vorgänger. Wir haben schon auf ihn hingewiesen: die Schweiz, die bereits 1815 auf dem Wiener Kongreß in ähnlicher Weise neutralisiert worden war. Hier wie dort ergab sich der Zweck des Abkommens aus der eigenartigen geographischen Lage des Landes: ein kleines Durchgangsland, zwischen Großmächten gelegen, drohte es die Welt eine ständige Kriegsursache zu werden. Es selbst stand aber in steter Gefahr, im Falle eines Kriegsausbruchs der Schauplatz der Schlachten in einem Krieg zu bilden, der nicht um seiner Interessen willen geführt wurde. Die „ewige“ Neutralität und ihre Garantierung durch die Großmächte entsprach ebensosehr den Interessen Belgiens wie denen des Weltfriedens. Sie war die zweckmäßige Ergänzung der Anerkennung des neuen Staates durch die Mächte.

Besaß aber diese Garantierung eine innere Kraft? Versprach sie einen ernsthaften Konflikt zu überdauern?

Dieser Garantievertrag ist jüngst ein wertloser Fetzen Papier genannt worden. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so scharf hat sich Friedrich Engels schon 1859 ausgesprochen. Er meinte, „die geschichtliche Praxis muß noch beweisen, das diese Neutralität bei einem europäischen Kriege mehr ist als ein Blatt Papier“. (Po und Rhein, neu herausgegeben von Ed. Bernstein, Stuttgart 1915, Dietz, S. 43.) Engels hatte überhaupt wenig Vertrauen zu den Versprechungen bürgerlicher Regierungen.

Indessen beruhte die Garantie der belgischen Neutralität nicht bloß auf der Vertragstreue der fünf großen „Höfe“ von Europa. Sie beruhte auf derselben Macht, die anfangs des achtzehnten Jahrhunderts den Barrierevertrag ins Leben gerufen hatte, auf der Macht Englands. Nach den Traditionen der auswärtigen Politik Englands in der belgischen Frage hatte jeder Staat, der die belgische Neutralität verletzte, den Krieg mit England zu gewärtigen. und da das die Staatsmänner Europas wußten, blieb jene Neutralität fast ein Jahrhundert lang unverletzt.

Bismarck legte dieser englischen Garantie großen Wert bei. Im Jahre 1867 wäre er wegen Luxemburgs fast zum Konflikt mit Napoleon gekommen. Der König von Holland, gleichzeitig Großherzog von Luxemburg, hatte dies Ländchen an Napoleon verkauft. Dagegen erhob Bismarck energisch Einspruch, eigentlich, rein juristisch betrachtet, ungerechtfertigterweise. Er erzählte 1871 darüber:

Ich habe es öffentlich nie zugegeben, hier aber kann ich sagen: nach der Auflösung des Deutschen Bundes war der Großherzog souverän geworden und konnte mit dem Lande machen, was er wollte. Daß er’s für Geld abtreten wollte, war eine Gemeinheit, aber abtreten konnte er’s an Frankreich. Und mit unserem Besatzungsrecht stand’s auch schlecht ... Das sagte ich auch im Ministerrat, und ich hatte dann noch einen anderen Gedanken: ich wollte es Belgien geben. Da hätten wir es mit einem Lande verbunden, für dessen Neutralität England, wie man damals denken konnte, eingetreten sein würde. Und dann hätte man damit das deutsche Element dort gegen die Fransquillons gestärkt und zugleich eine gute Grenze gewonnen. Ich fand damit keinen Einklang. (M. Busch, Tagebuchblätter, Leipzig 1899, II, S. 86)

Bismarck sah also in der Beschützung der belgischen Neutralität durch England eine besondere Empfehlung, die er durch Vergrößerung Belgiens mit dem Gebiet Luxemburgs belohnen wollte.

So sprach sich Bismarck am 25. Januar 1871 aus. Noch starker hätte er früher schon, gleich bei Ausbruch des Krieges, die Wichtigkeit der Beschützung der belgischen Neutralität durch England betont. Er war verdrießlich darüber, daß die Engländer nicht sofort, ehe noch die kriegerischen Operationen zwischen Deutschland und Frankreich begonnen hatten, Maßregeln zu diesem Zwecke trafen. Busch berichtet vom 21. Juli 1870:

Abends zum Minister (Bismarck) zitiert. Er zeigte mir einen Ausschnitt aus der Nationalzeitung und bemerkte: „Hier sagen sie, die Engländer wurden einen französischen Eingriff auf Belgien nicht dulden. Gut, aber was hilft es den Belgiern, wenn man wartet mit seinem Schutz und seiner Unterstützung? Wenn – was Gott verhüte! – Deutschland erst geschlagen wäre, würden die Engländer den Belgiern gar nichts nutzen können, sondern froh sein müssen, wenn sie selbst in London sicher blieben.“ (Busch, Tagebuchblätter, I, S. 47)

Tags darauf sandte Bismarck dem belgischen Gesandten in Berlin Baron Nothomb einen Brief, in dem es hieß:

Ich beehre mich, Ihnen schriftlich die Erklärung zu geben, die freilich angesichts der Verträge überflüssig ist, daß der Norddeutsche Bund und seine Verbündeten die belgische Neutralität achten werden, solange sie von dem anderen kriegführenden Teil geachtet wird.

Gleichzeitig traf England auf den Plan als der herkömmliche besondere Beschützer der belgischen Neutralität. Die Versicherung Bismarcks wie eine gleichartige Napoleons genügten ihm nicht. Es verlangte von dem einen wie von dem anderen die ausdrückliche Zustimmung zu einem Vertrag, in dem nicht nur Frankreich wie Preußen sich verpflichteten, die belgische Neutralität zu achten, was schon durch die Verträge von 1831 und 1839 gegeben war, sondern auch England sich verpflichtete, gegen jeden die Waffen zu ergreifen, der diese Neutralität verletzte. Beide Verträge, der mit Preußen wie der mit Frankreich, wurden am 9. August 1870 in London abgeschlossen. Artikel I lautete:

Nachdem Seine Majestät der König von Preußen erklärt hat, es sei sein fester Entschluß, trotz der Feindseligkeiten, die zwischen dem Norddeutschen Bund und Frankreich ausgebrochen sind, die Neutralität Belgiens so lange zu respektieren, als sie von Frankreich respektiert wird, erklärt Ihre Majestät die Königin des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland ihrerseits, daß, wenn während dieser Feindseligkeiten die Armeen Frankreichs jene Neutralität verletzen sollten, sie bereit ist, mit seiner Preußischen Majestät zu ihrer Verteidgung nach gegenseitiger Verständigung zusammenzuwirken, indem sie zu diesem Zwecke ihre See- und Landstreitkräfte in Anwendung bringt, um die Beachtung der Neutralität zu sichern und im herein mit Seiner Preußischen Majestät jetzt und später die Unabhängigkeit und Neutralität Belgiens aufrechtzuerhalten.

Der Vertrag mit Frankreich war gleichlautend, nur der König von Preußen wurde durch den Kaiser der Franzosen und umgekehrt Preußen durch Frankreich ersetzt. Diese Verträge waren nicht bloße Fetzen Papier, sondern übten ihrre Wirkung. Ein beredter Advokat der deutschen Sache in Amerika, Herr Fuhr, schreibt:

Es is eine geschichtliche Tatsache, daß beide Verträge Englands Ziel, die Armeen der Franzosen wie der Deutschen von Belgien fernzuhalten, vollständig erreichten. Denn die französische Armee des Generals MacMahon wurde im September 1870 hart an die französisch-belgische Grenze gedrängt, und das Betreten belgischen Gebiets hätte sicher ihre Lage erbeblich gebessert. Da jedoch nach der Fassung der genannten Verträge diese Operation des französischen Feldherrn automatisch England als einen zweiten furchtbaren Feind Frankreichs ins Feld gerufen hätte, zog es MacMahon vor, mit seiner Armee in Sedan zu kapitulieren. (A. Fuhr, The neutrality of Belgium, New York 1915, S. 68. Vom belgischen Standpunkt behandelt diese Frage unter anderen Ch. de Vischer, La Belgique et les Juristes Allemands, Lausanne 1916.)

Nach 1870 erhielt die Frage der belgischen Neutralität in mancher Beziehung für England ein anderen Gesicht – und für Frankreich auch.

Dessen Lage gegenüber Belgien war schon durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses 1815 erheblich geändert worden. Preußen hatte damals im Austausch gegen seinen früheren polnischen Besitz, den sich Rußland aneignete, nicht Sachsen bekommen, wie es wünschte. Das verhinderte Österreich, das kein starkes Preußen an seiner böhmischen Grenze haben wollte. Dafür wurde ihm das Rheinland gegeben.

Die Art der damaligen Landzuteilungen an Preußen bezeichnet gut die damalige Art des „Verständigungsfriedens“ und was bei einer Verständigung herauskommt, die bloß eine Verständigung der Regierungen darstellt ohne Selbstbestimmung der Völker.

Das Preußen abgenommene Stück Polen enthielt 3.400.000 Menschen. Dafür war man ihm eine gleich große Summe Menschen anderswo schuldig. Die wurde auf folgende Weise zusammengebracht. Man gab Preußen Posen (800.000 Menschen), ein Stück des Königreichs Sachsen (780.000), Westfalen (830.000) und das linke Rheinland (1.000.000). (Seignobos, Politische Geschichte des modernen Europa, S. 4)

Man sieht, welch peinliche Ehrlichkeit bei diesem Menschenhandel obachtet wurde. Trotzdem war Preußen nicht zufrieden. Denn die Rheinlande waren durch Gebiete anderer deutscher Staaten vom Hauptkörper des preußischen Staates abgeschnitten, und sie grenzten direkt an Frankreich, schufen eine neue Reibungsfläche mit diesem. Aber gerade paßte dem damaligen Österreich. Die Rheinlande stärkten Preußen weit weniger, als es der Besitz Sachsens getan hätte – in preußischen Händen bedeuteten sie aber gleichzeitig eine Schwächung Frankreichs.

Dessen Kraft und stetes Wachstum im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert war nicht zum mindesten in dem Glücksfall begründet gewesen, daß es nur im Süden an einen großen Staat grenzte, an Spanien, vor dem es die Pyrenäen schützten und das seit dem siebzehnten Jahrhundert rapid verfiel. Im Osten grenzte es nur an Italien und das Deutsche Reich – beide ohne starke Zentralgewalt, der schlimmsten Kleinstaaterei verfallen. Und gerade im siebzehnten Jahrhundert lösten sich auch noch die Schweiz und die Niederlande vom Deutschen Reich an. Nur ohnmächtige Kleinstaaten waren im Osten und Norden Frankreichs Nachbarn.

Nun, im Jahre 1815 erhielt es zum ersten Mal seit zwei Jahrhunderten, seit Spaniens Verfall wieder eine waffengewaltige Großmacht als Nachbarn.

Preußen gegenüber aber war die französische Grenze militärisch viel schlechter als Spanien gegenüber.Hier fehlte nicht nur der Schutzwall der Pyrenäen. Noch ungünstiger wirkte die Lage von Paris. Für keinen Staat bedeutete seine Hauptstadt mehr als für den französischen. Paris liegt aber nicht im Mittelpunkt des Reiches, sondern nahe der Nordgrenze, von Belgien nur wenige Tagesmärsche entfernt. „Eine schwächere Grenze als die französische gegen Belgien ist für einen Staat nicht leicht zu denken,“ sagte Engels in seiner schon genannten Schrift Po und Rhein, in der er diese Verhältnisse meisterhaft dartut (S. 36). Und hinter Belgien lag seit 1815 Preußen. Da begann die belgische Neutralität die zunächst als Schranke gegen die französische Ausdehnungslust gedacht war, auch als Schutz für Frankreich in Betracht zu kommen.

Freilich nur so lange, als sie beachtet wurde. Um für den Fall ihrer Durchbrechung gerüstet zu sein, hatte bereits Louis Philipp die Befestigung von Paris begonnen. Auch Friedrich Engels bezeichnete dies als das beste Mittel, der schwachen Seite der französischen Nordgrenze abzuhelfen.

Noch sicherer erschien es freilich manchem französischen Politiker, Belgien selbst französisch zu machen und so die Nordgrenze um so viel weiter von Paris weg zu verschieben.

Es mag dies eines der Motive gewesen sein, die auch Napoleon III. auf der Suche nach Erfolgen, die ihn populär machen sollten, zeitweise nach dem Besitz Belgiens streben ließen. Im Jahre 1866 glaubte er den Moment ankommen, für die Anerkennung der Annexionen, die Preußen nach seinen Kriegen vornahm, „Kompensationen“ zu verlangen. Noch während der Friedensverhandlungen mit Österreich bot er Bismarck ein Schutz- und Trutzbündnis an, das Frankreich die Erwerbung Belgiens sichern sollte (20. August 1866). Es fiel Bismarck nicht ein, Napoleon in dieser Weise zu stärken, er versetzte ihn aber in den Glauben, er stehe seinem Ansinnen sympathisch gegenüber. Er verlangte die schriftliche vertragsmäßige Formulierung der Vorschläge. Inzwischen schloß Preußen mit Österreich Frieden (23. August). Schließlich hatte Bismarck den schriftlichen Vertragsentwurf Napoleons in der Hand, dieser aber nichts.

Als 1870 der Krieg ausbrach, beeilte sich Bismarck, die verschiedenen Vergrößerungsvorschläge, die ihm Napoleon gemacht, darunter auch die in bezug auf Belgien, zu veröffentlichen (29. Juli), um dadurch Napoleon in den Augen der Belgier wie der Engländer zu schaden. Dieser Umstand hat nicht wenig dazu beigetragen, daß England damals, wie mir gesehen, von beiden Seiten die ausdrückliche Anerkennung der Unabhängigkeit und der Neutralität Belgiens forderte und seine Entschlossenheit betonte, sie zu verteidigen.

Die große Schwäche der Grenze Frankreichs gegenüber Belgien wurde den Franzosen besonders fühlbar seit 1871. Für sie waren nun die Machtverhältnisse höchst ungünstig verändert, und sie gestalteten sich immer ungünstiger durch das Stocken des Bevölkerungszuwachses in Frankreich. Belgien ihrem Staat einzuverleiben, daran konnten sie jetzt gar nicht denken. So wurde die belgische Neutralität, die ehedem gegen sie gerichtet war, nun immer mehr von ihnen als Schutzwehr angesehen.

Auf der anderen Seite wurde Deutschlands Flotte jetzt weit stärker als die französische. Das Motiv, das England in bezug auf Belgien gegen Frankreich mißtrauisch gemacht hatte, fing damit an, gegen das aufstrebende Deuschland zu wirken. England begann nun, nicht bloß sich selbst, sondern auch Frankreich als den gegebenen Schützer der belgischen Neutralität zu betrachten und von Deutschland ihre Verletzung zu befürchten.

Wie es dann im August 1914 dazu gekommen ist, kann als vorausgesetzt werden. Aus naheliegenden Gründen ginge es über den Rahmen dieser Arbeit hinaus, zu untersuchen, welche völkerrechtliche und moralische Grundlage das „Notrecht“ besitzt, das in jenen Tagen als Rechtfertigung der Verletzung der Verträge von 1831 und 1839 aufgestellt wurde.

Es seien nur noch kurz folgende Tatsachen der für Belgien entscheidenden Tage bei Ausbruch des Krieges registriert.

Schon am 24. Juli, dem Tage der Überreichung des österreichischen Ultimatums an Serbien, richtete die belgische Regierung ein Rundschreiben an die Mächte, die die belgische Neutralität garantiert hatten.

Es hieß darin:

Die internationale Situation ist ernst. Die Möglichkeit eines Konflikts zwischen mehreren Mächten kann aus den Erwägungen der belgischen Regierung nicht ausgeschaltet werden.

Belgien hat mit der gewissenhaftesten Peinlichkeit die Verpflichtungen innegehalten, die ihm die Verträge vom 19. April 1839 als neutralem Staat auferlegen. Es wird daran festhalten, diesen Verpflichtungen unerschütterlich nachzukommen, welches auch die Umständen sein mögen.

Die freundschaftlichen Gesinnungen der Mächte Belgien gegenüber sind so oft betont worden, daß Belgien darauf traut, sein Gebiet jedes Angriffs enthoben zu sehen, falls Feindseligkeiten an seinen Grenzen sich einstellen sollten.

Die Regierung des Königs hat trotzdem alle Maßnahmen getroffen, die nötig sind, die Aufrechterhaltung der Neutralität des Landes zu sichern. Das belgische Heer ist mobilisiert [1] und nimmt die strategischen Stellungen ein, die dazu ausersehen sind, die Verteidigung des Landes und die Achtung seiner Neutralität sicherzustellen. Die Forts von Antwerpen und an der Maas sind in Verteidigungszustand gesetzt worden.

Ich brauche kaum, Herr Minister, näher auf den Charakter dieser Maßregeln einzugehen. Sie haben keinen anderen Zweck, als Belgien instand zu setzen, seine internationalen Pflichten zu erfüllen. Sie sind nicht von irgendeinem Plane eingegeben und können es selbstverständlich auch nicht sein, der darauf hinausliefe, an deinem Waffengang zwischen den Mächten teilzunehmen, noch von Mißtrauen gegen irgendeine von ihnen. (Belgisches Graubuch über den Krieg, I, Nr. 2)

Am 31. Juli 1914 richtete das Auswärtige Amt in London an die französische wie an die deutsche Regierung die Frage, ob sie bereit seien, sich zu verpflichten, die Neutralität Belgiens so lange zu beobachten, als keine andere Macht sie verletze. (Englisches Blaubuch, Nr. 114) Es war eine Wiederholung des englischen Vorgehens aus dem Jahre 1870.

Viviani antwortete, Frankreich werde Belgiens Neutralität respektieren, solange sie von anderer Seite nicht verletzt werde. (Französisches Gelbbuch, Nr. 122)

Jagow meinte, er müsse zuerst den Kaiser und den Kanzler sprechen, zweifle aber, ob sie eine Antwort gegen wollten, da sie einen Teil ihres Feldzugsplans enthüllen würde. (Englisches Blaubuch, S. 122)

Am 1. August spricht Sir E. Grey dem britischen Botschafter in London, dem Fürsten Lichnowsky, sein Bedauern über diese ausweichende Antwort aus und fügt hinzu: im Falle seiner Verletzung der belgischen Neutralität ließen sich die Gemüter in England kaum noch im Zaume halten. (Englisches Blaubuch, Nr. 123)

Am 2. August überreicht der deutsche Gesandte in Brüssel dem Minister des Äußern ein Ultimatum, auf das er binnen 12 Stunden Antwort fordert. Es heißt dort, die kaiserliche Regierung habe zuverlässige Nachrichten über den beabsichtigten Aufmarsch französischer Streitkräfte an der Maasstrecke Givet-Namur.

Es lassen keinen Zweifel über die Absicht Frankreichs, durch belgisches Gebiet gegen Deutschland vorzurücken.

Die deutsche Regierung besorge, Belgien sei außerstande, den französischen Durchmarsch abzuwehren. Es sei ein Gebot der Selbsterhaltung, dem Angriff zuvorzukommen. So würde Deutschland gezwungen, „zur Gegenwehr auch seinerseits belgisches Gebiet zu betreten“. Wenn Belgien den Durchzug gestatte, garantiere ihm die deutsche Regierung seine Unabhängigkeit und seinen Besitzstand. Widersetzte sich Belgien den deutschen Truppen, dann übernehme Deutschland keine Verpflichtung dem Königreich gegenüber. (Belgisches Graubuch, Nr. 20)

Die belgische Regierung antwortete, die französische Republik habe sich am 1. August ausdrücklich verpflichtet, die Neutralität Belgiens zu respektieren.

Sollte gegen unser Erwarten die Neutralität Belgiens trotzdem von Frankreich verletzt werden, so wird Belgien alle seine internationalen Verpflichtungen erfüllen, und sein Heer wird dem Eindringling kräftigen Widerstand entgegensetzen.

Aber auch jeden Angriff von anderer Seite würde Belgien abwehren. (Belgisches Graubuch, Nr. 22)

Am 3. August marschierten deutsche Truppen in Belgien ein.

Am 4. August telegraphierte Jagow an den Fürsten Lichnowsky, deutschen Botschafter in London:

Bitte zerstören Sie jedes Mißtrauen, das auf seiten der britischen Regierung hinsichtlich unserer Absichten bestehen könnte, indem Sie auf das positivste die förmliche Zusicherung wiederholen, daß selbst im Falle eines bewaffneten Konflikts mit Belgien Deutschland unter keinerlei Vorwänden belgisches Gebiet annektieren wird. Die Aufrichtigkeit dieser Erklärung wird durch die Tatsache bezeugt, daß wir Holland unser feierliches Wort gegeben haben, seine Neutralität zu respektieren. Es ist klar, daß wir nicht mit Nutzen belgisches Gebiet annektieren können, ohne gleichzeitig Gebietserwerbung auf Kosten Hollands zu machen. (Englisches Blaubuch, Nr. 157)

Zur gleichen Zeit setzte in Berlin Jagow dem britischen Botschafter die Gründe auseinander,die Deutschland zwangen in Belgien einzumarschieren. Der Botschafter berichtete:

Herr v. Jagow ging von neuem auf die Gründe ein, weshalb die Reichsregierung genötigt gewesen sei, diesen Schritt zu tun, nämlich weil sie auf dem raschesten und bequemsten Weg in Frankreich einzurücken habe, um mit ihren Truppenbewegungen schnell vorwärts zu kommen und so früh als möglich eine entscheidenden Schlag versuchen zu können. Es sei für sie eine Frage auf Leben und Tod, da sie, wenn sie den südlicheren Weg gegangen wären, im Angesicht der geringen Zahl der Straßen und der Stärke der Festungen nicht hätten hoffen können ohne furchtbare, großen Zeitverlust verursachenden Widerstand durchzubrechen. Dieser Zeitverlust würde für die Russen Zeitgewinn zur Heranbringung ihrer Truppen an die deutsche Grenze bedeutet haben. Raschheit in der Aktion sei der große Trumpf der Deutschen, während der der Russen ein unerschöpflicher Vorrat von Truppen sei. (Englisches Blaubuch, Nr. 160)

Hier wurde der deutsche Einmarsch in Belgien etwas anders motiviert als in dem Ultimatum vom 2. August an die belgische Regierung. Aber auch dieses neue Argument stimmte die britische Regierung nicht um.

Das Gespräch hatte am Vormittag stattgefunden, abends um 7 Uhr verlangte der britische Botschafter seine Pässe, der Krieg Englands wurde erklärt.

Bethmann-Hollweg scheint diesen Ausgang absolut nicht erwartet zu haben, wenigstens berichtet der englische Botschafter, Sir E. Goschen:

Ich fand den Kanzler in großer Erregung. Seine Exzellenz fing sofort an auf mich einzureden, was zwanzig Minuten dauerte. Er sagte, der von Seiner Majestät (der König von England) getane Schritt sei ganz fürchterlich. Bloß um eines Wortes – Neutralität – willen, das in Kriegszeiten so oft außer acht gesetzt worden. Bloß um eines Fetzens Papier willen gehe Großbritannien daran, eine verwandte Nation zu bekriegen, die nichts mehr gewünscht habe, als mit ihm Freund zu sein. Alles seine Bemühungen in dieser Richtung seien durch diesen letzten, fürchterlichen Schritt fruchtlos gemacht worden, und die Politik, die er sich, wie ich wisse, seit Amtsantritt gewidmet habe, sei wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. (Englisches Blaubuch, Nr. 160)

Gewiß ist England nicht wegen Belgiens allein in den Krieg gegangen. Seine Politik ist nur in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. In diesem bildet jedoch die belgische Neutralität einen sehr wesentlichen und wichtigen Bestandteil.

So wichtig und entscheidend die englischen Interessen, das heißt die Interessen der regierenden Klassen Englands für die Frage der belgischen Neutralität geworden sind, sie sind jedoch, nicht der einzige Faktor, der bei der Verletzung dieser Neutralität in Betracht kam. Sie hat auch Fragen des Völkerrechts, des Verhältnisses der Nationen zueinander und ihrer Selbstbestimmung aufgerollt und dadurch Bedeutung für die Demokratie, also für die Sozialdemokratie der ganzen Welt gewonnen.

Wohl hat diese Seite der belgischen Frage keine der Regierungen in den Krieg getrieben. Wäre kein anderes Interesse hinter Belgien gestanden als das der Demokratie, dann durfte man ruhig die Garantie der Neutralität als bloßes Wort, als „Fetzen Papier“ im Verkehr zwischen den Regierungen betrachten.

Aber derjenige, der vermeint, deshalb die demokratische öffentliche Meinung straflos mißachten zu können, dem droht eine Enttäuschung, die vielleicht noch furchtbarer ist als die des deutschen Reichskanzlers in dem Moment, als England den Krieg erklärte.


Fußnote

1. Die wirkliche Mobilmachung wurde erst am 31 Juli beschlossen.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019