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Zwischen Partei und Gewerkschaft trat also in der Massenstreikfrage ein starker Gegensatz zutage. Er minderte sich nicht in den nächsten Monaten. Gleichzeitig aber trieben auch manche der Keime von Gegensätzen innerhalb der Reihen der Massenstreikfreunde in die Halme.
In meiner Betrachtung über den Jenaer Parteitag sagte ich:
„Nur wenn wir den Massenstreik als eine möglich Waffe im politischen Kampfe anerkennen, dürfen wir ruhig und ohne Zagen unsere bisherige Taktik fortsetzen. Die Jenenser Resolution bildet also nicht den Uebergang zu einer neuen Taktik, sondern die festere Begründung der bisherigen. Sie bildet die notwendige Ergänzung der Dresdener Resolution.
Freilich geht sie nicht weiter, als daß sie den Massenstreik unter die möglichen Waffen des Proletariats einreiht. Sie sagt nichts darüber, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen diese Waffe anzuwenden sei, und auch in seinem:Referate bemerkte Bebel nichts darüber. Das wurde von verschiedenen Seiten als ein Mangel empfunden, mir erscheint diese Beschränkung sehr zweckmäßig. Hätte sich Bebel in seinem Referat auf diese Frage eingelassen. so wäre die Debatte, die so knapp und präzis sich um einen bestimmten Punkt drehte, ins Uferlose verlaufen. Und hätte er eine bestimmte Meinung darüber in die Resolution aufgenommen, so wäre dadurch die Partei auf einem Gebiete festgelegt, über das die Anschauungen in der Partei noch weit auseinandergehen und der Klärung harren.
Mit der Bebelschen Resolution ist die Diskussion über den Massenstreik in unseren Reihen nicht abgeschlossen, sondern auf eine höhere Stufe gehoben. Wir haben nicht mehr zu diskutieren, ob, wohl aber, wie der Massenstreik in Deutschland möglich ist.
Diese Diskussion ist von äußerster Wichtigkeit; kein müßiges Spintisieren über Wenn und Aber, sondern die Klärung einer Frage von höchster praktischer Bedeutung. In der Tat, es kann keine Frage geben, die mehr ihre Beantwortung erfordert, als die, ob der Massenstreik ein friedliches, ungefährliches Demonstrationsmittel ist, das man bei jeder Gelegenheit, jeder lokalen Wahlrechtsverkümmerung heute schon anwenden kann, oder ob er für uns in Deutschland ein Mittel bildet, das den Einsatz der ganzen Persönlichkeit erheischt und die Existenz der ganzen Partei aufs Spiel setzt, ein Mittel, mit dem man nicht spielen darf, dessen Anwendung nur in äußersten Fällen am Platze ist.
Sicher wird der politische Massenstreik, wie jeder Massenstreik, auch ein ökonomischer, wenn er zur Anwendung kommen sollte, das Produkt einer spontanen Erhebung der Proletariermasse sein, deren Empörung sich nicht länger zügeln läßt. Aber eine spontane Erhebung muß nicht notwendig eine unbewußte, rein instinktive sein. Der Massenstreik wird auf jeden Fall das Werk von Proletariermassen sein, zu denen wir heute sprechen, in denen das nachwirkt, in die Tat umschlägt, was wir ihnen heute sagen. Der Massenstreik wird vielleicht zu einem ganz anderen Zeitpunkt hereinbrechen und ganz anders verlaufen, wenn die Massen nur ganz unbestimmte Vorstellungen über die bisherigen Erfahrungen mit ihm, über seine Bedingungen, seine Taktik, seine Aussichten haben, als wenn alle diese Fragen vor ihnen und mit ihnen diskutiert worden sind.
Wir können, wenn es zum Massenstreik kommen sollte, weder voraussehen, wann, noch Unter welchen Umständen er ausbrechen wird. Bereit sein, ist alles. Das ist unstreitbar. Aber zu dieser Bereitschaft gehört nicht bloß die möglichst starke Entwickelung der politischen und ökonomischen Organisationen, die möglichst große Begeisterung der Proletariermassen für das Kampfobjekt, sondern auch die möglichst große Aufklärung über das Wesen und die Taktik des politischen Massenstreiks, soweit aus den Erfahrungen anderer Länder und der Erforschung des sozialen und politischen Aufbaues Deutschlands Schlüsse darüber gezogen werden können.
Diese Aufklärung ist jetzt, nach der Annahme der Bebelschen Resolution, zur dringenden Pflicht der Parteigenossen geworden. Es ist ihre Aufgabe, diese Fragen selbst zu studieren und zu diskutieren, dann aber auch die errungene Klarheit in den Proletariermassen zu verbreiten.
Der Jenenser Parteitag hat dem deutschen Proletariat eine neue, wuchtige Waffe gegeben. Damit hat er uns aber auch die Pflicht auferlegt, es in dem Gebrauch der neuen Waffe zu unterweisen, daß es sie zu handhaben wisse in einer Weise, die möglichst geringe Opfer erheischt und möglichst große Wirksamkeit erzielt – wann immer der Moment eintreten mag, der ihm diese furchtbare Waffe in die Hand drückt.“ (Neue Zeit, XXIV., 1, S. 9, 10)
Nun, an Diskussionen über den Massenstreik sollte es nicht fehlen. Eine Reihe von Genossen hatten den Jenaer Beschluß tatsächlich dahin aufgefaßt, als sollte es nun an die sofortige Vorbereitung eines Massenstreiks gehen. Die Gewerkschafter hatten insofern recht gehabt, als sie diese Auffassung voraussahen und fürchteten. Sie hatten aber selbst dazu beigetragen, sie zu fördern, indem sie zwischen dm verschiedenen Auffassungen des Massenstreiks keinen Unterschied machten und die Jenaer Resolution ebenso auffaßten, wie jene ungeduldigen Genossen. Diese empfanden es als Verrat, oder doch als Unschlüssigkeit und Unsicherheit, als der Parteivorstand mit der Generalkommission der Gewerkschaften eine vertrauliche Besprechung abhielt, wobei der Vorstand, und speziell Bebel versicherte, sie hätten nicht die Absicht, in der sächsischen und preußischen Wahlrechtsbewegung zur Propagierung eines Massenstreiks zu schreiten. Die Besprechung war eine vertrauliche, wurde aber, und noch dazu in entstellter Weise, in einem Organ der Lokalisten, der Einigkeit, durch eine Indiskretion an die Oeffentlichkeit gebracht.
Wir können hier natürlich nicht eine Geschichte der sächsischen und preußischen Wahlrechtskampfes geben. Es genüge hier der Hinweis darauf, daß er gerade zu jener Zeit besonders heiß entbrannt war. Unser Wahlsieg von 1903 hatte blassen Schrecken in den besitzenden Klassen verbreitet. An das Reichstagswahlrecht wagten sie sich nicht heran. Aber das städtische bzw. staatliche Wahlrecht wurde in Dresden, Hamburg und Lübeck verschlechtert. Andererseits wurden in den süddeutschen Staaten Gesetze zur Erweiterung des Wahlrechts beraten, teilweise auch durchgesetzt. In Oesterreich wurde unter dem Eindruck der russischen Revolution und der ungarischen Unruhen sowie eines drohenden Massenstreiks endlich das gleiche Wahlrecht zum Reichsrat durchgesetzt. Da bekam auch der Kampf gegen das 1897 in Sachsen anstelle des gleichen Wahlrechts gesetzte Dreiklassensystem und gegen das gleiche System in Preußen einen starken Anstoß.
Unter solchen Umständen mußten die Differenzen zwischen den beiden schon gekennzeichneten Richtungen innerhalb der Befürworter des Massenstreiks schärfer noch als bisher zutage treten.
Im August 1906 schrieb Henriette Roland-Holst in der Neuen Zeit in einem Artikel Zur Massenstreikdebatte:
Bei der neuen Massenstreitdebatte, die vor kurzem durch die bekannte Veröffentlichung der Einigkeit eingeleitet wurde, kamen wiederum die verschiedenen Meinungen, die in der Partei über den Massenstreik bestehen, in der Parteipresse zum Vorschein.
Diesmal aber wurde nicht wie im vorigen Jahre über die Anwendbarkeit dieses Kampfmittels „an sich“ diskutiert: vielmehr war gerade das Neue und Wichtige an der Debatte, daß sie sich um die Frage drehte, ob der Massenstreik in einem bestimmten Falle, nämlich in der preußischen und sächsischen Wahlrechtsbewegung dieses Frühjahrs, möglich und nützlich gewesen wäre.
Wenn wir von der Generalkommission der Gewerkschaften absehen, die die Anwendung dieses Kampfmittels als ein zu gefährliches Experiment betrachtet, dessen Fehlschlagen die Arbeiterorganisationen so schwer schädigen würde, daß die Klugheit verbietet, es zu wagen – so standen sich bei der Debatte zwei verschiedene Anschauungen gegenüber. Die eine, die, nach der Parteipresse zu urteilen, von der großen Mehrheit der Partei geteilt wird, sah in der Jenaer Resolution keineswegs einen Beschluss zur baldigen Proklamierung des Massenstreiks auch hielt sie den Wahlrechtskampf des letzten Winters und Frühjahrs nicht für den geeigneten Ausgangspunkt eines Entscheidungskampfes der Arbeiterklasse gegen den preußischen Junkerstaat – denn dazu würde sich ein Pressionsstreik gestalten. Der Beschluß der Parteileitung, bei dieser Gelegenheit den Massenstreik nicht zu propagieren (das heißt nicht darauf hinzuarbeiten, daß er proklamiert wird), stand nach Ansicht der Mehrheit im vollkommenen Einklang mit dem Willen der Partei.
Die andere Anschauung sieht dagegen in diesem Beschluß der Parteileitung nicht nur einen gewissen Gegensatz zur Jenaer Resolution, sondern auch zu der Art und Weise, in der die Wahlrechtsbewegung anfänglich betrieben wurde, zum Ton der Presse und der Referenten auf den Massenversammlungen des 21. Januar und des 18. März dieses Jahres wie zu der kampflustigen, vorwärtsdrängenden Stimmung der Massen selbst. Diese von einigen bekannten Parteijournalisten vertretene Richtung wirft der Parteileitung vor, daß sie trotz des starken Anlasses, den die Massenversammlungen nahmen, die Bewegung im Sande verlaufen ließ. Sie erblickten in der „kühnen Sprache“ des Jenaer Kongresses eine „große Ankündigung“, zu der das spätere tatsächliche Verhalten der Partei im Verlauf der Wahlrechtsbewegung im schrofssten Widerspruch stand. Kurz gesagt: die Genossen, die diese Meinung vertreten, finden einen Gegensatz zwischen dem Jenaer theoretischen Bekenntnis zum Massenstreik, als einem gegebenenfalls anwendbaren Mittel ihn proletarischen Klassenkampf, und seiner Nichtanwendung bei der ersten großen politischen Aktion der Partei nach dem Jenaer Kongreß.
Es sind dies gewichtige Vorwürfe, die von diesen Genossen gegen die Parteileitung und die Partei selbst: erholten werden. Wären sie berechtigt, bedeutete das Zurückhalten mit dem Massenstreik im letzten Frühjahr tatsächlich einen Gegensatz zwischen Worten und Taten, einen Rückzug nach kaum gefaßtem Beschluß, so wäre das gewiß sehr bedauerlich. Die Brutalität der herrschenden Klassen in Preußen-Deutschland würde sich nur verstärken, wenn sich zeigte, daß der Beschluß der Sozialdemokratie, im Falle eines reaktionären Streiches die organisierte Arbeitsverweigerung als stärkstes proletarisches Kampfmittel anzuwenden, nur eine leere Drohung war. Ja, es müßte die Partei selber an ihrer Kraft zweifeln lassen, wenn sie genötigt wäre, sich einzugestehen, daß sie den Mund zu voll genommen und versucht habe, mit großen Worten den Gegner über ihre Kraft zu täuschen, da es ihr an der nötigen revolutionären Energie mangelte, ihre Beschlüsse in Taten umzusetzen.
Glücklicherweise ist dies aber nach meiner Ueberzeugung nicht der Fall – all diese Vorwürfe sind unbegründet. Die pessimistische Auffassung über das revolutionäre Bewußtsein der Massen, die sich jetzt bei einigen Genossen bemerkbar macht, weil der Massenstreik im Frühjahr ausblieb – die nervöse Ungeduld, die nach Taten sogar um den Preis einer Niederlage verlangt, sind wie ich meine, auf theoretische Unklarheit über die Bedingungen zurückzuführen, unter denen der Massenstreik in Deutschland mit Aussicht auf Erfolg möglich ist. Dieselbe Unklarheit brachte jene Gruppe dazu, als das einstweilige Ende dieses ersten Vorstoßes der Massen zur Eroberung des Landtagswahlrechtes ihren und unseren Hoffnungen und Wünschen nicht entsprach – auch in der ausländischen Sozialdemokratie wurde es schmerzhaft empfunden, daß die mit solch großer Begeisterung begonnene Aktion so in nichts zerann –, die Ursache davon in gewissen Unterlassungen und in der Unschlüssigkeit einiger leitenden Personen zu suchen, statt in den politisch-sozialen Verhältnissen zu forschen, weshalb die von jener Seite damals erwartete Steigerung der revolutionären Bewegung der Massen unterblieb, bis sie sich einst unwiderstehlich entladen wird.
Die Jenaer Resolution ist die Frucht der immer schärferen Zuspitzung der Klassengegensätze und der daraus folgenden Verschärfung des Klassenkampfes in Deutschland sowie der wachsenden Ueberzeugung in der Partei, daß diese Verschärfung die Anwendung eindringlicher Kampfmittel seitens des Proletariats wie die bis heute angewendeten notwendig machen kann. Da erwies sich der Massenstreik, theoretisch und vor allem praktisch bei der russischen Revolution, als die aus der Stellung des Proletariats im Produktionsprozeß naturgemäß hervorgehende scharfe Waffe. Von dem geeigneten Zeitpunkt ihrer Anwendung sagt die Jenaer Resolution nichts und konnte sie nichts sagen, wohl aber nannte sie Fälle, Ereignisse, die für das deutsche Proletariat voraussichtlich das Signal zur Anwendung dieses Kampfmittels geben würden: so ein Angriff der Regierung auf das Reichstagswahlrecht oder das Koalitionsrecht.
Nicht zufällig nennt die Resolution die zwei schwersten Provokationen, mit denen eine Regierung die Arbeiterklasse herausfordern kann, indem sie deren wichtigste Rechte angreift. Die Resolution geht von der Voraussetzung aus, daß nur um eines hochwichtigen Einsatzes willen, nur wegen unentbehrlicher Rechte die deutsche Arbeiterklasse den Massenstreik wagen kann und wird. Das liegt in der Natur des Staates, in dem sie lebt und wirkt, und seinem stark zentralisierten Verwaltungsapparat wie seinem riesengroßen Militarismus. Das liegt auch daran, wie Genosse Hilferding seinerzeit hier so vortrefflich ausführte (Neue Zeit, XXIII, 2, S. 804), daß gerade die weit vorgeschrittene Entwicklung des Kapitalismus und die große Reife der Arbeiterklasse in Deutschland bei jedem Kampf des Proletariats um neue politische Rechte die herrschenden Klassen vor die Gefahr stellt, nicht nur diese oder jene Stellung, sondern ihre gesamte Macht zu verlieren, und daß deshalb für sie kaum noch politische Konzessionen in Frage kommen, sondern nur der äußerste Widerstand gegen den Ansturm des Proletariats. Das liegt endlich nicht zum geringen Teile auch daran, daß die starke Organisation, die jahrzehntelange Erziehung und Disziplin, die Besonnenheit und Selbstbeherrschung, die sich in und mittels der Organisation vollzog, einem spontanen Ausbruch der Empörung, wie es der Massenstreik doch immer ist, entgegenarbeitet. Das deutsche Proletariat hat seine Organisationen ausgebaut in langem, heißem Ringen, hat sie schätzen gelernt als sein kostbarstes Gut, als sein Schild und Schwert, seine Stärke; es weiß: im Massenstreik setzt es sie auss Spiel, und damit es sie einsetzt, muß eine ungeheure starke Erregung seine Reihen durchziehen.
Daß die deutsche Arbeiterschaft, ebenso wie etwa die französische oder italienische, schon auf geringe Veranlassung hin, sozusagen auf geringere revolutionäre Reize mit dein Massenstreik antworten würde, ist also aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen. Eine so wichtige Aktion ist in Deutschland nur mittels Beschluß der Organisation denkbar, nie wenn man diese überspringt. Damit es aber im einem solchen Beschluß komme, müßte die Arbeiterschaft alles, was sie in jahrzehntelangem Kampfe lernte und was sich in diesem Kampfe bewährte, die lange Gewohnheit der Besonnenheit und Vorsicht, die kluge Berechnung und Selbstbeherrschung, kurz alles, was Genosse Eisner in der Neuen Gesellschaft „die lastende Bürde der nüchternen Berechnung“ nennt, gewissermaßen umlernen. Die lang angesammelten Kräfte müßten explodieren, die Quantität umschlagen in Qualität.
Die Stärke der Disziplin, das Bewußtsein der Verantwortlichkeit, die genaue Kenntnis der Natur und der Macht des Feindes, das Führen des Klassenkampfes nicht als Ausbruch des Zornes, des Uebermuts oder der Verzweiflung, sondern als stetige, selbstbewußte, von der Vernunft geleitete Aktion – kurz alles das, was die Arbeiterbewegung braucht, den Massenstreik mit Aussicht auf Erfolg gegen einen starken entschlossenen Gegner wagen zu können – das erweist sich auf lange Zeit hinaus als ein Hemmnis des Massenstreiks. Unter solchen Umständen muß die Diskussion, die Ueberlegung der Tat vorangehen. Wo ein weniger bewußtes, schwächer organisiertes Proletariat, bei dessen Aktionen Aufwallungen und Gefühle eine große Rolle spielen, und das sich die Folgen einer Niederlage weniger klar vor Augen stellt, vielleicht schon zur Aktion übergegangen wäre, hält das bewußtere und strammer organisierte damit noch immer zurück. Es weiß, durch eine Niederlage wird seine Kampffähigkeit vielleicht auf Jahre hinaus verringert; es hat gelernt, seine Aufwallungen zu beherrschen, seine Kräfte zu schonen, seine Ungeduld zu zügeln, zu ertragen und abzuwarten, nicht in apathischer Untätigkeit oder dumpfer Resignation, sondern in der steten Tätigkeit des Rüstens. Gerade seine Tlichtigkeit, seine Einsicht, Stärke und Reife hatten es, wenn es gilt, sie zu beweisen, lange vom entscheidenden Schritte zurück.
Wie wird dieser Gegensatz zwischen Wissen und Tat überwunden? Welche antreibenden Momente erweisen sich stark genug, die hemmenden zu durchbrechen? Was bringt all den lang aufgespeicherten Kampfesmut, die Energie und Begeisterung am einmal in Fluß?
Nun, das Ereignis, das dieses scheinbare Wunder bekanntlich vollbringt, ist das Hereinbrechen einer revolutionären Situation.
Die Umstände, die Verhältnisse – darauf kommt es eben an! Es können Ereignisse eintreten, die die Arbeiterklasse Preußen~sund Sachsens die alte Schmach des Dreiklassenwahlrechtes fürderhin unerträglich erscheinen lassen, Ereignisse, die nicht nur diese Schmach, sondern die Gesamtheit der damit zusammenhängenden Zustände: die Junkerherrschaft auf dem Lande, die Unfreiheit der Presse, die Klassenjustiz, die politische Rechtlosigkeit dir Frau usw. mit einer Deutlichkeit und schärfe wie nie zuvor blitzartig zu leuchten. Es können Ereignisse eintreten, die sowohl die revolutionäre Gesinnung, den Kampfesmut und das Selbstbewußtsein der Massen plötzlich mächtig wachsen lassen als auch den Glauben der Herrschenden an ihre Kraft erschüttern.
Die Möglichkeit solcher Ereignisse in naher Zukunft war da, als die preußisch-sächsischen Wahlrechtskämpfe im vergangenen Winter einsetzten. Nicht Krieg, nicht wirtschaftliche Krise noch drohender Staatsbankrott im eigenen Laude waren es, die der deutschen Arbeiterbewegung auf eiumal einen ungestümeren, leidenschaftlicheren Charakter verliehen. Es waren noch nicht die ersten Zeichen des politischen oder ökonomischen Zusammenbruchs des Halbabsolutismus in Deutschland, sondern die ersten Zeichen des nahenden Zusammenbruchs seines östlichen Nachbars und seiner Stütze: des russischen Absolutismus.
Wie der Ausbruch und das siegreiche Vordringen der russischen Revolution im vorigen Herbst der österreichischen Wahlrechtsbewegung neue Schwungkraft verlieh, so trieb es auch die preußisch-sächsische mächtig vorwärts ...
In dem Augenblick, in dem sich der Wahlrechtskampf in Preußen und Sachsen erst zu entfalten begann, erlitt die russische Revolution eine zeitweilige Niederlage und der Zarismus bekam das Heft wieder in die Hand. Damit war denn auch in Deutschland die Situation für einen kräftigen Vorstoß gegen das herrschende Regime ungünstig geworden, und es beweist die starke Gärung im Volke und die Energie der deutschen Arbeiterschaft, daß trotzdem die Wahlrechtsbewegung nicht in sich zusammenbrach, sondern imposant verlief.
Ungeachtet dieser ungünstigen Lage, ungeachtet der Tatsache, daß der preußische Staat sich natürlich durch den Sieg des Zarismus, diesen „Sieg der Ordnung“, gestärkt fühlte und – wie an den Vorbereitungen zum 22. Januar ersichtlich – sich anschickte, sein Vorbild in brutaler Unterdrückung nachzuahmen – und ungeachtet der anderen wichtigen Tatsache, daß wischen Partei und Gewerkschaft eine Einmütigkeit über die Anwendung des Massenstreiks noch nicht erzielt ist –, ungeachtet dessen gibt es Genossen, die da meinen, es hätte „nach den Worten die Tat“ folgen sollen.
„Niederlagen“, so faßt Genosse Eisner die Meinung jener zusammen, „Niederlagen sind keine Gefahr, weder für Völker noch für Klassen und Parteien. Gefährlich ist nur Unfähigkeit, Unentschlossenheit, Schwanken; verderblich ist nur Wortheldentum, die Spannung zwischen Tat und Rede, die Drohung, des nicht die Tat folgt, die Aktion, die unternommen wird, um bei der ersten Konsequenz zusammenzubrechen.“ [1]
Nun klingt es ja sehr heroisch, zu sagen, daß Niederlagen keine Gefahren sind. Leider aber entspricht dies nicht stets der Wirklichkeit. So auch hier nicht: eine so ernste Niederlage des deutschen Proletariats, wie ein fehlgeschlagener Massenstreik würde schwere Folgen haben weit über Deutschland hinaus ... Da würde Mutlosigkeit einreißen, da wäre endlich die von den herrschenden Klassen längst ersehnte Gelegenheit da, das ununterbrochene Wachstum der deutschen Arbeiter an Kraft, Einsicht und Organisation zu unterbinden, den Siegeslauf der Sozialdemokratie aufzuhalten.
Eine Niederlage der deutschen Arbeiterschaft würde aber auch weit über Deutschland hinaus wirken. Deutschland ist die Stütze der reaktionären Bestrebungen Westeuropas, wie Rußland sie für Deutschland ist. Aber Deutschland war und ist gleichzeitig die Schule der Organisation und des Kampfes für die westeuropäischen Arbeiter, besonders die der germanischen Länder. Es ist die lebendige Stütze des marxistischen Geistes und Handelns überall. wo der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie gekämpft wird. Die Niederlage des Massenstreiks in Deutschsand wäre auch eine Niederlage für den Marxismus, vielleicht innerhalb, jedenfalls aber außerhalb seiner Grenzen; sie brächte zweifellos eine Verstärkung aller Strömungen und Bestrebungen in der Arbeiterbewegung, die auf Schwächung des Klassenkampfes abzielen.
Man weise doch nicht hin auf Rußland als Beispiel dafür, daß der Kampf auch dort, wo er zur Niederlage führt, anfeuernd und kräftigend wirkt! Da sind die Verhältnisse denn doch allzusehr verschieden! Die wiederholten Erhebungen des Proletariats in Rußland tragen, ob sie mit Sieg oder Niederlage enden, doch immer der Erschütterung des Absolutismus bei. Dort hat das Proletariat nichts zu verlieren wie sein Leben, es opfert dies lieber, als daß es das alte Joch weiter schleppt: es kann die Freiheit nicht mit einem Male, nicht in einem Vorstoß erreichen, aber die Bedingungen für dieses Bewußtsein der eigenen Kraft, Kampffähigkeit, Organisation, kann es nur kämpfend gewinnen. Das deutsche Proletariat dagegen hat dies alles schon in Jahrzehnten des Kampfes erworben; es braucht den Massenstreik nicht zu inszenieren, um dem Feinde klar zu machen, daß ein neuer Held den Kampfplatz betreten hat. Und was beim Proletariat Rußlands heroischer Instinkt war: den Kampf aufnehmen, ohne die Aussicht auf Erfolg zu prüfen, das wäre für die deutsche Arbeiterschaft blinde Draufgängerei.
Der ganze Charakter der deutschen Arbeiterbewegung bringt es mit sich, erstens, daß nur ein zündendes, die gesamte Arbeiterschaft in elementare Spannung versetzendes Ereignis das Signal zum Massenstreik bilden kann; zweitens aber, daß nur die Zuversicht, mittels des Massenstreiks zu siegen, einzuheimsen, was man in langer, mühsamer Arbeit vorbereitet hat, das Proletariat in den Kampf treiben wird. Er soll ein Tag der goldenen Ernte sein, des Niederreißens einer schon krachenden Zwingburg. In diesem Geiste schloß Bebel sein Referat in Jena mit den Worten: „... Und wenn ihr eure Schuldigkeit tut, so siegen wir.“ Nicht aus Verdruß an der „allzu langsam wirkenden Arbeit in Agitation und Organisation“, nicht in einer gewissen Gleichgültigkeit gegen Sieg oder Niederlage, nicht in einer Art Ratlosigkeit, weil es sich gebunden glaubt durch den Jenaer Beschluß, wird das deutsche Proletariat in den Massenstreik treten – sondern wenn es einsieht und fühlt, daß der geschichtliche Augenblick gekommen ist, dem herrschenden System einen wuchtigen Stoß zu versetzen.
Merkwürdig! Heute sind es die Revisionisten – oder, wie man bei uns in Holland sagt, die „nicht-dogmatischen Marxisten“ –, die die Nase rümpfen über die früher von ihnen so über alle Maßen hochgehaltene Kleinarbeit; die sich über deren zu langsame Wirkung beklagen, die, um zur Entscheidung zu drängen, in die Jenaer Resolution den Sinn hineinlesen, das deutsche Proletariat solle beim ersten besten Anlaß die Aufklärungs- und Organisationsarbeit durch ungestümen Angriff ersetzen, ohne sich darum zu kümmern, ob dieser nicht aller Voraussicht nach mit einem mehr oder minder brillant ausgeführten Rückzug enden müsse. Heute sind es dagegen die Radikalen oder „dogmatischen Marxisten“, die, nicht durch scheinbare Stagnation in verdrießliche Stimmung, halb Verzagtheit, halb Ungeduld versetzt, sich nicht voreilig in den Kampf stürzen wollen, sondern die Kleinarbeit, die Vorbereitung zum Kampfe so lange ruhig fortsetzen, bis die Situation selbst die wohlgerüsteten Scharen in Kampfesglut entzündet und die politische Konstellation ihnen den Sieg verbürgt.
Nicht den Massenstreik selbst, wohl aber die weitere Diskussion über ihn halten wir im Augenblick für geboten. Die Diskussion bildet das einzige Mittel, die organisierten Massen von der Wichtigkeit und unter Umständen Notwendigkeit der neuen Kampfesweise zu überzeugen, damit, wenn eine elementare Spannung sie zur Tat hinreißt, alle Unkenntnis und Verworrenheit über die Natur der neuen Waffe verschwunden sei, die ihnen nicht erscheint als etwas Fremdartiges, ihrer ganzen früheren Taktik Entgegengesetztes, sondern als deren Ergänzung und Vollendung. Die Früchte dieser Diskussion und Propagierung (selbstverständlich im Zusammenhang mit der stetigen Verschärfung der Klassengegensätze und der russischen Revolution) fangen schon an zu reifen. Die Jenaer Resolution selbst war eine solche Frucht, die Hamburger Demonstration eine andere. Noch aber gibt es manche Unklarheit, manches Vorurten zu überwinden, vor allem eine Verständigung mit den Gewerkschaften herbeizuführen, deren Abneigung gegen den politischen Streik sich als der stärkste hemmende, die Schwungkraft lähmende Einfluß geltend macht. Deshalb ist es freudig zu begrüßen, daß der diesjährige Parteitag sich wieder mit dem Massenstreik befassen, die Diskussion über ihn weiter führen wird. Möge er Mittel und Wege finden, auch diesen Gegensatz zum Austrag zu bringen! Je einiger und fester die organisierten Arbeiter heute schon dastehen in der theoretischen Würdigung des politischen Streiks, je wuchtiger und eindringlicher wird seine Anwendung erfolgen können in der Zukunft. Diese Zukunft könnte vielleicht gar bald Gegenwart werden. In jener Stunde, in der der Thron der Romanoffs zusammenbricht unter der steigenden Flut der Revolution, in jener Stunde wird eine ungeheure Welle revolutionärer Energie unseren ganzen Weltten überfluten. Deutschland aber am schnellsten, am unmittelbarsten, am stärksten. Dann dürfte gar bald die Situation eintreten, in der das Tempo des Kampfes sich verdoppelt, seine Formen sich ändern – dann dürfte das deutsche Proletariat in siegesgewissem Vorwärtsstreben gar bald den dunklen schmalen Abgrund überbrücken, der Wissen scheidet von Tat.
Gegen diese Auffassung wandte sich in der Neuen Zeit Genosse F. Stampfer in einem Artikel Wahlrechtsbewegung und Massenstreik. Er führte am
„Die Diskussion über den Massenstreik und die in Jena angenommene Resolution muß bei Freund und Feind den Eindruck erwecken, als ob die Sozialdemokratie gewillt sei, nunmehr in eine Periode des schärferen Kampfes einzutreten, der die letzte Konsequenz den Massenstreik, zwar nicht provoziert, aber auch nicht scheut. Als die Partei wenige Monate später in eine gesteigerte Aktion für eine bestimmte positive Forderung ihres schöpferischen Programms, für die Wahlrechtsforderung, eintrat, ergab sich der gedankliche Zusammenhang zwischen der Wahlrechtsbewegung und dem Massenstreik von selbst.“
Stampfer wies dann darauf hin, daß die Reden zahlreicher Genossen im Wahlrechtskampf den Gedanken nahelegten, wir steuerten auf den Massenstreik in, daß aber dieser Gedanke noch mehr verstärkt wurde durch
„die berühmte Petition an das preußische Herren- und Abgeordnetenhaus in der um die Gewährung des gleichen Wahlrechts gebeten wurde und die von den preußischen Mitgliedern des Parteivorstandes mit dem Ausdruck hochachtungsvoller Ergebenheit unterzeichnnet wurde ...
Als nun die Veröffentlichungen der Einigkeit und die Diskussion, die sich an sie knüpfte, die Emthüllung brachten, in leitenden Parteikreisen denke man gar nicht daran, diese Wahlrechtsbewegung als den Ausgangspunkt eines politischen Massenstreiks zu betrachten, erhob sich – wie es scheint, den Gefühlen der Massen entsprechend – die schmerzliche Frage: Ja, warum hat man uns das nicht gleich gesagt? ... Durften wir mit dem Hut in der Hand vor dem Tor des preußischen Landtags erscheinen und uns wie zudringliche Querulanten abweisen lassen, wenn wir keinen zuverlässigen Gewehr in der Tasche hatten? ...
Nicht also der ausgebliebene Erfolg, nicht auch – an und für sich – der ausgebliebene Massenstreik hat ins Lager der Partei|Stimmen schmerzlicher Enttäuschung geweckt, sondern der Mangel eines planmäßigen Vorgehens ...
Nichts wäre nun verfehlter, als auf den Eintritt einer ‚revolutionären Situation‘ zu warten, etwa darauf, ‚daß der Thron der Romanoffs zusammenbricht‘. Durch das Abwarten revolutionärer Situationen bricht kein Zarenthron und auch kein Junkerregiment zusammen. Und wenn die russischen Genossen unter Einsetzung ihrer ganzen Persönlichkeit mit Schweiß und Blut die revolutionäre Situation schaffen müssen, in der der Thron der Despotie zusammenbrechen soll, so ist es auch von den deutschen Genossen nicht zu viel verlangt, daß auch sie in Preußen eine ‚revolutionäre Situation‘ schaffen sollen, die dem Dreiklassenwahlrecht ein Ende bereitet. Hier heißt es: ‚Der Krieg muß den Krieg ernähren‘, aus sich selbst muß die preußische Wahlrechtsbewegung die Kräfte ziehen, die sie instand setzen, siegreich zu enden. Und bräche in Rußland nicht der Zarenthron, sondern die Revolution zusammen, und würde Frankreich eine Monarchie statt einer demokratischen Republik, und lieferte England die Schule den Pfaffen aus – hier in Preußen ist unser Rhodus, hier wird getanzt: wir wollen das Wahlrecht haben. In Verbindung mit der Wahlrechtsbewegung ist der Massenstreik keine Frage des Ob, sondern des Wann und des Wie. Was gedenkt die Partei noch zu unternehmen, welche Vorbereitungen will sie treffen: welchen politisch wichtigen Zeitpunkt (Landtagswahlen?) will sie abwarten, ehe sie sich zum schweren, äußersten Schritt entschließt?“ (Neue Zeit, XXIV, 2, S. 757)
Diesen Angriff beantwortete ich im nächsten Heft der Neuen Zeit in einem Artikel, betitelt: Grundsätze oder Pläne. Dort hieß es:
„Die Vorwürfe, die Genosse Stampfer gegen den Parteivorstand schleuderte, bringen mir die Ereignisse ins Gedächtnis, die eben vor einem Jahre der Verfechter der ethisch-ästhetischen Richtung, Eisner, wegen meiner Stellung zum Massenstreik gegen mich richtete.
Ich hatte die Auffassung vertreten, der Massenstreik sei, namentlich bei den deutschen Verhältnissen, ein so folgenschweres Beginnen, daß seiner Anwendung das eingehendste Studium jener Bedingungen vorausgehen müsse, daß er nur dort am Platze sei, wo der Kampfpreis ein genügend hoher und die Situation eine aussichtsreiche. Ich sah weder diesen Kampfpreis noch diese Situation in dem damaligen Hamburger Wahlrechtskampf gegeben. Da kam ich aber schön an.
‚Heißt das die Arbeiter politisch und theoretisch aufklären,‘ donnerte Genosse Eisner mir im Vorwärts entgegen, ‚wenn iman die hanseatische Wahlrechtsfrage lediglich unter dem Gesichtspunkt eines opportunistischen Krämers betrachtet …? Wie darf ein wissenschaftlicher Führer der Sozialdemokratie die politischen Rechte als eine kaufmännische Kalkulation behandeln, statt dem Proletariat mit Löwenstimme den ersten Grundsatz seiner geschichtlichen Aufgabe immer wieder aufs neue ins Gewissen zu rufen: es gibt keine größere Verletzung der Würde der Proletarier, als politische Rechte sich rauben, als politische Entrechtung sich gefallen zu lassen ... Wir verstehen unter dem Studium des politischen Streiks, daß eine Dreimillionenpartei im Kampfe um politische Rechte nicht buchmäßig rechnen und in die Ferne spekulieren dürfe, sondern das sie, wenn es gilt, auch Niederlagen wagen müsse.‘
Diese Anklagen, die noch vor Jahresfrist mir allein galten, werden jetzt gegen den Parteivorstand, ja gegen die ganze Partei erhoben. Ich darf mit diesem Fortschritt wohl zufrieden sein. Ein Fortschritt ist es aber auch, wenn nun wenigstens der Versuch gemacht wird, unserer bisherigen Taktik eine neue entgegenzusetzen. Da kann man ja einigermaßen ermessen, wohin die Reise ginge, wenn Stampfer und seine Freunde in Parteidingen ihren Willen hätten.
Stampfer ist sich klar darüber, daß eine Wahlrechtsbewegung in Preußen und Sachsen mehr bedeutet als etwa in Bayern oder Oesterreich. Daß sie nicht ein bloßes Streben nach Verbesserung einiger Schönheitsfehler darstellt, die auch andere Parteien belästigen, sondern daß sie ein Drängen nach dein politischen Sturze der herrschenden Klasse in sich schließt, daß sie auszufechten ist als eine Machtfrage im Kampfe mit der brutalsten und stärksten herrschenden Klasse der Welt – vor allem mit dem Junkertum. Wie stellt er sich nun die Ausfechtung eines derartigen Riesenkampfes vor, der in seiner Art ebenso eine Weltwende bedeutet wie die russische Revolutionen.
Er vermißt bei der ganzen bisherigen Aktion den ‚Mangel einer planmäßigen Vorgehens‘. Er meint also, der Parteivorstand hatte einen geheimen Kriegsplan entwerfen zum Sturze des Junkertums, jeder Waffe ihren Platz und die Zeit ihres Eingreifens bestimmen, endlich dieses systematisch vorbereiten und in Szene setzen müssen. Stampfer und seine Freunde glaubten, der Parteivorstand sei schon nach Jena gegangen mit der Absicht. durch die Massenstreikresolution diese Aktion einzuleiten. Als dann kurz danach die Wahlrechtsbewegung stärker einsetzte, sahen sie darin den ersten Schritt auf jener Bahn, die planmäßig immer weiter gehen, die Erregung immer mehr steigern, mit immer stärkeren Mitteln arbeiten sollte. Massenspaziergänge, Halbtagsstreiks, Dreitagestreiks, Straßendemonstrationen, schließlich der wohlvorbereitete Massenstreik.
Dieser Plan sollte durchgeführt werden mit allen Mitteln, um jeden Preis, wie immer auch die Situation sich gestalten mochte:
‚Nichts wäre verfehlter, als auf den Eintritt einer „revolutionären Situation“ zu warten, etwa darauf, „daß der Thron der Romanoffs zusammenbricht“ usw. …‘
Jetzt noch verlangt Stampfer, sollte das Versäumte nachgeholt werden, und das ist die Frage, die ihn beim Massenstreik interessiert: es soll genau bestimmt werden, was die Partei zur Herbeiführung der ersehnten Situation ‚unternehmen, welche Vorbereitungen‘ sie für den Massenstreik treffen welchen ‚politisch wichtigen Zeitpunkt‘ sie für seine Anwendung festsetzen will.
Auf diese Weise, denken sich Stampfer und sein e Freunde, soll eine politische Umwälzung von kolossaler Bedeutung, wie der Sturz des Junkertums, herbeigeführt werden, des Junkertums, das seit Jahrhunderten Preußen, seine Könige, seine Armeen, seine Verwaltung, seine Bonrgeoisie sich dienstbar gemacht hat. Auf den Willen, nicht auf die Situation, kommt bei Stampfer alles an. Einen Artikel zu Lassalles Todestag schließt er mit den Worten: ‚Die Millionen brauchen nur zu wollen, so stark, so kühn, so ganz auf Eines und nur auf das Eine gerichtet, wie Lassalle wollte, und sie sind frei!‘
Kindlicher kann man sich eine so gewaltige politische Aktion kaum vorstellen. Wenn das einem Genossen passiert, der kürzlich erst von den Nationalsozialen zu uns kam, ist das nicht verwunderlich. Sie lebten nur von derartigen kindlichen Illusionen, gingen freilich daran zugrunde. Aber von Genossen, die seit einem Dutzend von Jahren und länger bei der Partei sind und sich seit jeher als berufene Vertreter der materialistischen Geschichtsauffassung fühlen, sollte man mehr Verständnis für diese und die darauf beruhende Taktik unserer Partei erwarten.
Leider muß man bei solchen Auseinandersetzungen immer wieder mit dem Abc beginnen.
Die Politik der Sozialdemokratie beruht auf der Erkenntnis, daß, um mit Marx zu sprechen, nicht der bloße Wille das Triebrad der geschichtlichen Entwicklung ist, sondern die wirklichen Verhältnisse.
Die Grundtatsache, von der der marxistische Politiker auszugehen hat, ist der Klassenkampf. Die erste Aufgabe des Politikers besteht darin, sich über die Ursachen dieses Klassenkampfes, seine Tendenzen, das Ende, auf das er hinausläuft, klar in werden. Daraus schöpft er die grundsätzliche Auffassung des Endziels, auf das er in seiner Politik hinzuarbeiten hat, und der Mittel und Wege, also der Taktik, durch die auf das Endziel hingewirkt werden soll. Die heutige Höhe der ökonomischen und historischen Erkenntnis ermöglicht es ihm dabei einen hohen Grad der Sicherheit zu erlangen.
Nicht mit gleicher Sicherheit läßt sich aber die Anwendung dieser Grundsätze in jedem gegebenen Moment festsetzen. Die Gesetze der Gesellschaftswissenschaften werden durch Massenbeobachtungen gewonnen und gelten auch nur für Massenerscheinungen. Je kleiner der Kreis oder die Zeitspanne, worin man wirkt, desto mehr machen sich störende Elemente geltend, die das Wirken der großen Gesetze durchkreuzen, mitunter, wenn auch nur vorübergehend, es geradezu aufheben können. Auch diese störenden Momente treten mit Notwendigkeit auf, könnten genau vorausgesehen werden, wenn man alle Faktoren genau wüßte, von denen sie erzeugt werden. Aber die Zahl solcher Faktoren ist eine so ungeheure, daß es unmöglich ist, sie alle zu erfassen und zu bestimmen. So spielt bei jeder menschlichen Aktion, auch bei der Politik, das Unberechenbare eine große Rolle. Der Fortschritt der Wissenschaft mag das Bereich dieses Unberechenbare immer mehr einschränken, es völlig aufzuheben vermag er nicht.
Bis zu einem gewissen Grade unberechenbar, sind diese Momente in der kapitalistischen Gesellschaft überdies aber rasch wechselnd, da sie ja in beständiger Umwälzung begriffen ist, immer wieder neue, noch unerkannte, unerprobte Elemente erzeugt. Ein Politiker, der mit Stampfer die gegebenen Verhältnisse als einen ‚feststehenden Faktor seiner Berechnungen‘ ansieht und daraufhin weitausschauende Aktionspläne entwirft, hat auf Sand gebaut.
Natürlich muß jeder weiter blickende Politiker versuchen, ein Bild der kommenden Entwicklung aus dem Studium der gegebenen Tatsachen abzuleiten, um die Grundlage einer einheitlichen, zielbewußten Politik zu gewinnen. Wer aber dabei mehr anstrebt als die Festsetzung bestimmter Grundsätze des Handelns, wer einen Aktionsplan für weithinaus entwirft, wird leicht von den Tatsachen ad absurdum geführt werden. Wer sich aber gar darauf versteift, wie es Stampfer und seine Freunde vom Parteivorstand fordern, den einmal gefaßten Plan, den sie ihm unterschieben, als „einmal eingegangene Verpflichtungen“ um jeden Preis durchzuführen, ohne Rücksicht auf die „Verhältnisse, die eben keine force majeure“ sind, ohne Rücksicht darauf, was in Europa geschieht: wer solche Politik treibt, ist imstande, die stärkste Partei rasch zugrunde zu richten.
Freilich gibt es Situationen, wo man auch Niederlagen wagen muß, wo nichts schlimmer, nichts demoralisierender ist als kampfloser Rückzug. Aber kein Held, sondern ein Narr, und zwar ein gemeingefährlicher Narr ist, wer bewußt Situationen provoziert, die zu einer Niederlage führen müssen. Die heroische Niederlage der Pariser Kommune hat den internationalen Sozialismus mächtig befruchtet. Aber sie hätte anders gewirkt, wenn die Erhebung von Paris gegen ganz Frankreich den Parisern nicht durch Triers aufgezwungen, sondern von der „International“ planmäßig herbeigeführt worden wäre.
Wohl muß ein Politiker für bestimmte Situationen, die er voraussieht, auch seine Pläne entwerfen, aber feste Pläne kann man nur fassen für beschränkte, genau vorauszubestimmende Aktionen, deren Bedingungen von vornherein feststehen, wie zum Beispiel Wahlkämpfe. Aber auch da kann der Feldzugsplan nur einen Leitfaden bilden, der ein einheitliches Zusammenwirken ermöglicht, nie aber eine bindende „Verpflichtung“, die unter allen Umständen zu erfüllen ist, wie auch die Verhältnisse sich gestalten mögen. Eine erste Bedingung des Erfolgs für einen politische Massenlenker ebenso w1e für einen Schlachtenlenker ist die, sich nie in einen bestimmten Plan festzubeißen, stets bereit zu sein, seine Pläne zu ändern, wenn unvorhergesehene Umstände es erheischen. Das Unvorhergesehene bei seinem Eintreten sofort zu erkennen und richtig einzuschätzen, ist eine der größten Tugenden für jeden Leiter einer Kampagne.
Für große, historische Aktionen, wie den Kampf um das preußische Wahlrecht, den die Verhältnisse identisch machen mit einem Kampfe zur Niederringung der in Preußen herrschenden Klassen, können aber Pläne von vornherein nicht entworfen werden. Für solche große Aktionen, die jahrzehntelang dauern können, gibt es nur einen sicheren Leitfaden: unsere Grundsätze.
Nie haben Marx und Engels sich damit beschäftigt, detaillierte Aktionspläne zur Herbeiführung oder „Schaffung“ „revolutionärer Situationen“ zu entwerfen. Sie verwandten ihre ganze Geisteskraft darauf, die tatsächlichen Verhältnisse zu studieren, aus ihnen das Endziel und die Mittel zu seiner Gewinnung immer klarer abzuleiten, das Proletariat darüber aufzuklären und zu organisieren, damit es die nötige Einsicht und Kraft besitze, jeder eintretenden Situation gewachsen zu sein, diese zu verstehen und rasch und energisch auszunutzen. Darin und nicht im Schaffen „revolutionärer“ Situationen durch besondere Aktionspläne sahen sie die Aufgabe des sozialistischen Politikers.
Und so sehr sie die Revolution herbeisehnten, so sehr ihr ganzes Wirken dahin ging, sie zu beschleunigen, sie haben stets ihr Handeln den wechselnden wirklichen Verhältnissen angepaßt und sich nie verpflichtet gefühlt, ohne Rücksicht darauf revolutionäre Situationen schaffen zu wollen.
Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 waren Marx und Engels unter den Revolutionären die ersten, die aus dem Studium der ökonomischen Entwicklung zu der Einsicht gelangten, daß die eingetretene Aera der Prosperität der Revolution zunächst ein Ende mache. Die ethisch-ästhetischen Revolutionäre, die Louis Blanc, Mazzini, Ruge, Kinkel, Willich usw. wendeten sich mit massenhafter Entrüstung gegen diese „krämerhafte buchmäßige Kalkulation“ und fuhren fort, mit Löwenstimme dem Volke seine Schmach vorzuhalten und alle aufzubieten, um revolutionäre Situationen zu schaffen. Aber bekanntlich hatten die erhabensten Ausbrüche sittlicher Entrüstung dieser „Ritter vom edelmütigen Bewußtsein“, wie Marx einen von ihnen nannte, nicht den mindesten Erfolg. Die krämerhaften Kalkulatoren behielten recht.
Durch den Einfluß von Marx und Engels wurde in der deutschen Sozialdemokratie der Gefühlssozialismus sehr zurückgedrängt. Aber ganz verschwand er nie, und er machte sich wieder stark bemerkbar unmittelbar nach Erlaß des Sozialistengesetzes. Ja, das war noch ein ganz anderes Attentat auf die Würde des Proletariats als der Hamburger Wahlrechtsraub. Wenn je, war damals die Veranlassung gegeben, eine revolutionäre Situation zu schaffen, selbst um den Preis einer Niederlage. So dachten damals auch Johann Most und Hasselmann, zwei höchst begabte Journalisten, die zu unseren besten Federn gehörten. Aber die marxistisch geschulte Partei kalkulierte krämerhaft genug, ihnen nicht zu folgen und das Sozialistengesetz in der der Situation angepaßten Weise zu bekämpfen bis zu dem Tage, da die Situation ihr erlaubte, es zu zerbrechen.
Auch jetzt hat der Parteivorstand dieser Auffassung entsprechend gehandelt. Seine Massenstreikresolution in Jena entsprach nicht einem geheimen Kriegsplan, der Absicht, jetzt eine besondere Aktion zum Sturze des Junkertums zu eröffnen, sondern sie war diktiert durch die Erkenntnis der gegebenen Situation, die die Gegensätze in Deutschland immer mehr zuspitzt, es immer leichter möglich macht, daß irgendein gewaltiges Ereignis uns vor Aufgaben stellt, denen wir mit den bisherigen Mitteln nicht genügen, so daß wir uns rüsten müssen, diese durch den Massenstreik zu ergänzen.
Als dann ein gewaltiges Ereignis eintrat, die glorreichen Oktobertage in Rußland, da fühlte sich die Arbeiterklasse ganz Europas elektrisiert, da war eine Situation geschaffen, die ausgenutzt werden mußte zu jenem Kampfe, der uns jetzt am meisten am Herzen liegt, zum Kampfe um ein besseres Wahlrecht den Landtagen. Hätte damals der Parteivorstand diese Agitation zu hintertreiben gesucht, so wäre das eine schwere Versündigung gegen unsere Sache gewesen. Und die Bewegung des Januar ist nicht fruchtlos gewesen, hat auf weite Schichten des Proletariats gewirkt.
Bald aber hatte die Bewegung ein Stadium erreicht, wo sie, sollte sie weiter fortgehen, mt den bisherigen Methoden nicht mehr ankam. Wollte man sie fortführen, mußte man sich, zur Anwendung stärkerer Pressionsmittel entschließen. Solche Mittel sind in Preußen stets auf den entschlossenen Widerstand der Regierung gestoßen. Diesmal war noch ein energischerer Widerstand zu erwarten, denn dieselbe Ursache, die russische Revolution, die das deutsche Proletariat aufwühlte, peitschte die herrschenden Klassen Deutschlands in sinnlose Angst und Wut hinein. Unter diesen Umständen hätte ein Weitertreiben der Bewegung über die erreichten Grenzen hinaus nur dann Erfolg versprochen, wenn mit dem wachsenden Drange nach gewaltsamer Niederwerfung jeder stärkeren proletarischen Regung auf der einen Seite gleichzeitig auf der anderen Seite eine in gleichem Maße wachsende, unwiderstehliche Aufregung und Empörung der Volksmassen eingetreten wäre. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil, das Fehlschlagen der Moskauer Erhebung und dessen Folgen „glätteten die revolutionsromantischen Wogen“, allerdings nicht so „erheblich“, wie Genosse Paul Müller in der genannten Konferenz befriedigt von der Niederlage der russischen Revolution konstatierte, hinderte aber doch eine weitere Erhitzung der Massen über die bereits erlangte Temperatur hinaus.
In dieser Situation dem Wahlrechtskampf eine Wendung zu geben, die nur mit den Massenstreik enden konnte, wäre vollendeter Wahnsinn gewesen. Die Partei stand vor der Wahl, die begonnene Aktion in einer Weise enden zu lassen, die einigen Kritikern Gelegenheit galt, sich als überlegene Geister zu zeigen, sonst aber keinen Schaden anrichtete und die Partei intakt ließ, oder aber diese einer vernichtenden Niederlage entgegenzuführen, die sie gerade am Vorabend großer Kämpfe für Jahre völlig kampfunfähig gemacht hätte. Der Parteivorstand und die ganze Partei entschied sich für die erstere Alternative, und sie haben damit vollkommen der Situation entsprechend gehandelt und ihre Pflicht getan.
Gleichzeitig vollzog sich in Frankreich eine ähnliche Bewegung, aber unter viel geringerer Gefährdung der kämpfenden Organisationen. Wenn wir das gleiche Wahlrecht zu den Landtagen zur nächsten Kampfparole gemacht haben, so die französischen Arbeiter den Achtstundentag. Die Gewerkschafter Frankreichs entwarfen, in ähnlicher Weise wie Stampfer und seine Freunde es bei uns verlangen, einen Aktionsplan für lange hinaus, setzten einen bestimmten Termin für den Beginn der großen Aktion fest, ohne Rücksicht auf die wirkliche Situation.Die zum Siege nötige Situation sollte in in vorausbestimmter Weise vom 1. Mai an geschaffen werden. Es ging also alles ganz so „planmäßig“ vor sich, wie es Stampfer von unserer Partei verlangt. Die französischen Syndikalisten erklärten auch, ganz wie Stampfer und seine Freunde der bestehende Zustand sei eine Schmach, sie wollten nun endlich einmal einen Fortschritt sehen, es müsse um jeden Preis eine Situation geschaffen werden, die über sich selbst hinaustreibe, der Krieg den Krieg ernähren, es gelte, auch eine Niederlage zu wagen, und so zogen sie aus, den Achtstundentag durch die direkte Aktion zu erobern. Mit welchem Erfolg, das haben wir gesehen.
Sie hatten keine so starke und rücksichtslose Regierung sich gegenüber wie wir, die Kapitalisten fühlten sich kraftig genug, in rein ökonomischem Kampfe der Arbeiter Herr zu werden; die Verkürzung der Arbeitszeit bedroht auch nicht so sehr den Lebensnerv des herrschenden Regimes wie bei uns die Eroberung des preußischen Landtags durch die Sozialdemokratie. So ward der Kampf in Frankreich nicht zu einer Entscheidungsschlacht, die mit der gewaltsamen Niederwerfung des Gegners endete. Und doch sind die Folgen der mißlungenen Aktion für die französischen Gewerkschaften höchst unerfreuliche.
Stampfer beruht sich auf unsere russischen Genossen, die mit „Schweiß und Blut die revolutionäre Situation schaffen müssen“. Aber die russischen Sozialdemokraten, die Axelrod und Plechanoff, die Luxemburg und Parvus, haben diese Auffassung von den Aufgaben der russischen Revolutionäre stets zurückgewiesen, wie mancher Strauß im Vorwärts bezeugt hat. Unsere russischen Genossen wissen sehr wohl, daß nicht eine planmäßig vorbereitete Aktion die revolutionäre Situation Rußlands geschaffen hat und noch weiter schafft, sondern daß das durch gesellschaftliche Verhältnisse bewirkt wird, die absichtlich herbeizuführen oder zu verhindern kein Mensch, keine Organisation vermag. Die heutige revolutionäre Situation wurde geschaffen durch die industrielle Entwickelung, die ein Proletariat hervorrief, welches der politischen Freiheit dringend bedarf. Sie wurde geschaffen durch die landwirtschaftliche Entwickelung, die die bäuerliche Landwirtschaft ruinierte und die Bauernschaft zur Verzweiflung brachte. Sie wurde geschaffen durch den Niedergang der Staatsfinanzen, die dem Bankerott immer rascher entgegeneilen. Sie wurde geschaffen endlich durch den Krieg, der die Korruption, die Unfähigkeit, die immense Schädlichkeit des Absolutismus für die breitesten Volksmassen zutage brachte und diese aufs äußerste empörte.
Welche dieser Ursachen der heutigen revolutionären Situation wäre von einer Partei planmäßig geschaffen worden? Unsere Genossen hatten und haben vollauf zu tun, diese Situation auszunutzen, die revolutionären Massen in stetem Kampfe gegen das herrschende Regime über ihre Aufgaben und die wirksamsten Mittel zu ihrer Erfüllung aufzuklären und zu organisieren, um sie geschlossen in die Schlacht zu führen, wenn die günstige Situation dazu gekommen ist ...“
Ich begründete dann mit Hinweisen auf ökonomische Details meine Ueberzeugung, daß die Revolution in Rußland nicht zu Ende sei, meinte, es werde noch weit besser kommen, und fuhr fort:
„Alle jene Genossen, die jetzt, im Juli und August, plötzlich vom unterdrückten Tatendrang des Januar befallen wurden, werden noch Gelegenheit finden, ihm Luft zu machen. Aber allerdings, wenn sie fruchtbringend wirken wollen, müssen sie vor allem ihre Auffassung aufgeben, als könne man historische Situationen durch planmäßig vorbereitete, für einen bestimmten Termin angesagte Aktionen nach Belieben schaffen. Diese Auffassung ist nichts als eine Wiederaufwärmung des alten Putschismus, bloß aus der Sprache des bewaffneten Aufstandes in die des Massenstreiks übersetzt.
Nein, die wirklichen Verhältnisse sind das Triebrad der geschichtlichen Entwickelung. Sie zu begreifen, um ihnen entsprechend zu handeln; nicht Situationen vorbereiten und schaffen, sondern uns selbst vorbereiten durch Aufklärung und Organisation, um allen Situationen gewachsen zu sein, die von Faktoren geschaffen werden, welche mächtiger sind als jedes Individuum, jede Organisation von Individuen; das ist unsere Aufgabe. Je besser wir sie verstehen und sie lösen, um so besser werden wir jede historische Situation aufs rascheste und energischste im Interesse unserer großen Sache ausnutzen können und gewappnet sein für alle, auch die überraschendsten Wendungen. Das heißt nicht, tatenlos auf den Messias warten, der uns ohne unser Zutun erlösen wird. Diese unsere Aufgaben können gar nicht gelöst werden ohne Kampf, ohne unermüdlichen, energischen Kampf. Nur im Kampfe können wir das Proletariat aufklären und schulen. Nicht das kommt in Frage, ob wir kämpfen sollen oder nicht, sondern welche Waffen wir im Kampfe anwenden sollen,
Es wurde schon darauf hingewiesen, daß der Klassenkampf die Grundtatsache ist, von der das ganze Wirken der Sozialdemokratie ausgeht. Was wechselt, ist nicht die Tatsache des Kampfes, sondern die Methoden und Waffen, die dann in Anwendung kommen. Diese müssen sich nach den jeweiligen Situationen richten und ihnen angepaßt werden. Die Erfahrung ist dabei die beste Lehrmeisterin, aber durch Studieren und Nachdenken kann man sich manche bittere Erfahrung ersparen. Das gilt vor allem für neue, noch wenig erprobte Waffen, wie den Massenstreik.
Wer dieses Studium hochmütig abweist, wer glaubt, beim Massenstreik und sonstigen Kampfesmethoden komme es nur auf das Wollen, nicht auf das „Kalkulieren“ an man müsse ohne vieles „Spekulieren“ dabei auch Niederlagen wagen, der gehört als Politiker auf die gleiche Stufe mit jenen militärischen Taktikern, die aus rein ethisch-ästhetischem Empfinden heraus heute noch für große Kavallerieattacken schwärmen.
Unsere Politiker wollen wir aber nicht danach bemessen, ob sie stets weitreichende Kriegspläne für die Anwendung bestimmter Waffen haben, die sie unter allen Umständen durchzuführen suchen, sondern danach, ob sie in jeder gegebenen Situation am zweckmäßigsten handeln, die zweckmäßigste Waffe in Anwendung bringen. Daß dieses Handeln ein einheitliches, kein widerspruchsvolles ist, daß in den mannigfachen und wechselnden Situationen unser Handeln trotz aller Anpassung an die Verhältnisse immer in der gleichen Richtung geht, das wird nicht durch Ausarbeitung fester Pläne bewirkt, sondern durch feste, eifrigem Studium der Wirklichkeit entspringende Grundsätze des Zieles und der Taktik. Ohne solche Grundsätze verfallen wir haltlosem Opportunismus. Suchen wir aber an Stelle der mühevollen Arbeit der Gewinnung von Grundsätzen durch theoretische Studien die amüsantere Beschäftigung der Entwerfung großer Pläne zu setzen, die dann unter allen Umständen durchzuführen sind, so kommen wir aus dem Regen in die Traufe, aus dem haltlosen Opportunismus in eigensinniges Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-rennen-wollen.
Der Marxismus weiß beides zu vermeiden, deshalb kommt er aber auch immer wieder mit beidem in Konflikt – und merkwürdigerweise geht beides so leicht ineinander über.
In der Tat sind es die Freunde Stampfers, die uns vor die Alternative stellen: entweder mit dem Kopfe durch die Wand rennen bei der Anwendung des Massenstreiks oder versuchen, einen ultramontan-freisinnig-sozialdemokratischen Wahlreformbrei als eherne Kampfesphalanx zusammenzukochen.
Die Sozialdemokratie wird auf die eine Alternative ebensowenig verfallen wie auf die andere, die nervöse Ungeduld ihr setzt, und zwischen beiden unbeirrt ihren bisherigen Weg weiter verfolgen, für die gewaltigsten Situationen gewappnet, nach Kampf dürstend, jede Gelegenheit benutzend, dem Gegner einen Schlag zu versehen, es aber ablehnend, bestimmte Situationen künstlich herbeizwingen oder herbeilisten zu wollen.
Unmittelbar vor dem Parteitag antwortet mir Stampfer unter dem Titel: Grundsätze und Pläne in der Neuen Zeit folgendes:
Genosse Kautsky irrt, wenn er meint, ich hätte in meinem Artikel über die Taktik der preußischen Wahlrechtsbewegung Anklagen „gegen die ganze Partei“ erhoben. Er irrt, wenn er meint, meine Anklage sei auf den Tatbestand gegründet, daß die Partei bisher noch keinen Massenstreikangriff wider die preußische Junkerherrschaft unternommen hat.
Vielmehr kritisierte ich bloß das taktische Verhalten führender Parteigenossen, die unter Verkennung der gegebenen Verhältnisse am 21. Januar und am 18. März mit dem Massenstreik drohten, sodann eine hochachtungsvoll ergebene Petition an den preußischen Landtag sandten, schließlich aber erklärten, kein Mensch denke daran, diese Wahlrechtsbewegung als den Ausgangspunkt eines politischen Massenstreiks zu betrachten. Um solche Schwankungen für die Zukunft zu vermeiden, empfahl ich im Sinne der bekannten Frankfurter Grundsätze über Massenstreik und Wahlrechtsbewegung eine Taktik der fortgesetzten, sich stetig steigernden und schließlich – wenn notwendig – im Massenstreit gipfelnden Wahlrechtspropaganda. Ich vertrat die Ansicht, daß im Kampfe wider das preußische Regime zunächst alle friedlichen Mittel zu erschöpfen seien; zu diesen friedlichen Mitteln rechnete ich eine der Wahlrechtsbewegung sich anpassende Taktik bei den nächsten Reichstags- und Landtagswahlen; schließlich nach diesen schien mir, wenn kein anderes Mittel mehr verfangen sollte, ein Versuch am Platze, den Kampf mit den schärfsten Mitteln, den Mitteln des Massenstreiks, weiter fortzuführen. Das waren und sind meiner Meinung nach die angeführten Richtlinien und Grundsätze, von denen sich die Wahlrechtsbewegung künftig leiten lassen muß, und von denen – siehe Frankfurter Volksstimme – „nur unter dem Zwange nicht vorauszusehender außerordentlicher Ereignisse abgegangen werden soll“.
Eine Mißachtung der Grundsätze der materialistischen Geschichtsauffassung enthält dieser Vorschlag in keiner Weise. Ob durch ihn eine revolutionäre Situation „geschaffen“ oder – wie sich Genosse Kautsky ausdrücken würde – „eine gegebene Situation in revolutionären Sinne ausgenutzt“ werden soll, liefe auf einen Streit um bloße Worte heraus; ich bin gerne bereit, die zweite Fassung zu akzeptieren. Auch meine Aeußerung, die Arbeiter brauchten nur so stark und kühn wollen, wie einst Lassalle, und sie wären frei, dürfte dem Genossen Kautsky bei genauerer Ueberlegung nicht mehr „kindlich“ erscheinen – denn er selbst hat nie der wahrhaft kindlichen Auffassung gehuldigt, die dem Marxismus von seinen Gegnern unterschoben wird, er sei „grob mechanistisch“ und scheide die Bedeutung des Willensfaktors aus der menschlichen Entwicklung aus. Die wirkliche unparodierte materialistische Geschichtsauffassung, wie sie Kautsky sonst immer vertritt, lehrt uns nicht, nichts zu wollen, sondern sie lehrt uns vielmehr, was wir wollen können und wie wir wollen sollen, oder, wieder mit Kautsky, sie lehrt uns Verhältnisse „auszunutzen“. Dazu aber, um Verhältnisse auszunutzen, gehört nicht bloß Erkenntnis, sondern auch Willensantrieb, und diesen Willensantrieb in den Massen zu wecken und zu stärken, ist die Pflicht jedes sozialdemokratischen Redners und Publizisten, ist die Voraussetzung jeder revolutionären Aktion.
Der Kampf gegen die preußische Dreiklassenherrschaft ist ein Kampf von höchster revolutionärer Bedeutung. Ich stimme Kautsky vollkommen zu, wenn er meint, die Ausfechtung dieses Riesenkampfes bedeute in ihrer Art ebenso eine Weltwende wie die russische Revolution. Diesen Kampf aufgeben, hieße darum Verrat üben an der Sache des Proletariats, Verrat üben nicht zuletzt an der russischen Revolution, die in ihrem Fortschreiten von Wirkungen des Auslands genau ebenso anhängig ist, wie das Fortschreiten der Wahlrechtsbewegung von dem des russischen Riesenkampfes. Der Zar soll sich gegenüber den „überspannten“ Forderungen seines Volkes nicht darauf berufen können, daß das minder anspruchsvolle deutsche Volk beim Haferbrei des Halbabsolutismus und des Dreiklassenwahlrechtes zufrieden wäre! Er soll nicht damit rechnen können, daß dieses Preußen ihm eine Stütze im Kampfe wider die Revolution sei, sondern im Gegenteil soll die russische Revolution aus der Erkenntnis, daß es nun auch in Deutschland lebendiger werde, neue Zuversicht und Kraft schöpfen. Manche deutsche Genossen erklären, das Dreiklassenwahlrecht sei nicht umzubringen, solange der Thron der Romanoffs stehe – wie, wenn die russischen Revolutionäre den Spieß umkehrten und erklärten, die russische Weltwende sei nicht möglich, solange die preußische nicht eingetreten sei? Dann ständen beide an der Schwelle, die keiner aus Höflichkeit für den anderen überschreiten sollte! Richtiger ist es jedenfalls, wenn beide zugleich und nebeneinander vorwärts streben und sich nicht auf den sicheren Fortschritt des anderen verlassen, der – ach! – nicht immer so sicher ist, wie mancher glaubte. Daß es in Rußland „noch weit besser kommt“, kann man annehmen, mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten – aber auch in Marx hat sich in einer ähnlichen Situation getäuscht. Einstweilen können wir nichts anderes tun, als soweit es an uns liegt dafür zu sorgen, daß es in Rußland noch besser kommt, und daß ein freier Wind nicht bloß aus Rußland heraus-, sondern auch nach Rußland hineinweht. Dazu ist die Wahlrechtsbewegung notwendig, der Kampf um die preußische „Weltwende“.
Glaubt Nun Kautsky wirklich, man könnte einen solchen Kampf führen, wenn man erklärt, man werde diesen Kampf und diese Bewegung nicht als Ausgangspunkt eines Massenstreiks betrachten, das sei kein „gegebenenfalls“ im Sinne der Jenaer Resolution? Und soll das schon „Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-rennen“ sein, wenn man zur Vorbereitung eines solchen Kampfes zwei, drei Jahre in Aussicht nimmt, immer noch mit dem Vorbehalt „nicht vorauszusehender außerordentlicher Ereignisse“? Hätte mich der sogenannte Radikalismus der Zaghaftigkeit und schwächlicher Zögertaktik geziehen, ich hätte beschämt geschwiegen. Aber daß das Festhalten am Massenstreik als der letzten Waffe zur Eroberung politischer Rechte „gemeingefährliches Narrentum“, Parteiruin und Most-Hasselmannscher „Putschismus“ sein soll, ist eine Anklage nicht gegen mich, sondern „gegen die ganze Partei“, die in Jena im Gegensatz zu Kautskys Auffassung, der politische Massenstreik sei „nicht am Platze“ beim Kampfe um „einzelne Maßregeln, sei es das Wahlrecht oder das Koalitionsrecht“, den Massenstreik als Angriffswaffe zur Eroberung politischer Rechte anerkannt hat. Was Genosse Viktor Adler am 17. September 1903 in der Wiener Arbeiterzeitung voraussagte, ist nun ganz genau eingetroffen: „Damit (mit der Auffassung Kautskys) ist der Frage des Massenstreiks jede politische Aktualität genommen, und Kautsky langt vom ganz entgegengesetzten Ausgangspunkt – sozusagen im dialektischen Umschlag praktisch bei Wolfgang Heine an.“
Darauf entgegnete ich unter dem Titel: Mein Verrat an der russischen Revolution.
Genosse Stampfer beginnt seine Erwiderung mit der Behauptung, ich irrte auch, wenn ich annahm, seine Anklage richte sich gegen die ganze Partei. Sie richte sich bloß gegen jene führenden Genossen, die am 21. Januar und am 18. März mit dem Massenstreik drohten, schließlich aber erklärten, sie dächten gar nicht daran, die Wahlrechtsbewegung zu dem Ausgangspunkt eines politischen Massenstreiks zu machen.
In seinem Artikel: Wahlrechtsbewegung und Massenstreik, erklärte er aber (S. 755), seine „Kritik unseres bisherigen taktischen Verhaltens“ richte sich „gegen diejenigen, die für dieses Verhalten verantwortlich sind – ich verstehe darunter nicht die verantwortliche Parteiregierung, sondern die Gesamtheit der redenden und schreibenden Parteigenossen“.
Das ist doch wohl die Gesamtheit jener Parteigenossen, durch die die Anschauungen der Partei zutage treten. Jetzt will .Stampfer damit nur jene führenden Genossen gemeint haben, die am 21. Januar und am 18. März mit dem Massenstreik drohten, jetzt aber auf ihn verzichten. Leider überläßt er es uns, diese Genossen zu erraten. Mir sind solche nicht bekannt. Sicher ist von keinem verantwortlichen Genossen in den Tagen des Januar und des März in dem Sinne mit dem Massenstreik gedroht worden, wie es etwa in den neunziger Jahren in Belgien oder in diesem Jahre in Oesterreich geschah. In Deutschland ist man an verantwortlicher Stelle bisher nie weiter gegangen, als daß man den Massenstreik für eine wuchtige Waffe erklärte, die „gegebenenfalls“ am Platze wäre, aber man hat nie diesen gegebenen Fall bestimmt definiert und behauptet, die preußische Wahlrechtsbewegung werde unter allen Umständen diesen Fall bilden.
Man hat jedoch auch nicht später das Gegenteil behauptet. Mir ist wenigstens nichts davon bekannt, daß irgendeiner der verantwortlichen Genossen, denen Stampfer für den Januar und März Massenstreikdrohungen in den Mund legt, dann erklärt hätte, im Wahlrechtskampf werde es zum Massenstreik überhaupt nicht kommen. Wäre das geschehen, hätte man einmal voreilig mit dem Massenstreik gedroht und dann wieder ebenso voreilig die Idee des Massenstreiks desavouiert, dann hätten Stampfer und seine Freunde mit ihrer Kritik recht. Dann läge wirklich ein bedenkliches Schwanken vor. Aber es genügt nicht, derartiges mit dunklen Andeutungen zu behaupten, das muß bewiesen werden ...
Das Drohen mit dem Massenstreik, wie den Verzicht auf ihn, kann Stampfer nur beweisen, indem er die Erörterungen der Möglichkeit des Eintretens revolutionärer Situationen in ein Drohen mi der Revolution verdreht und den Verzicht auf den Massenstreik schon dort entdeckt, wo bloß eine Untersuchung der Bedingungen stattfindet, unter denen allein es wirksam sein kann.
Wir stehen eben mit Marx auf dem dialektischen Standpunkt, wonach es nichts Absolutes gibt; es gibt danach auch nichts absolut Gutes und nichts absolut Schlechtes, und das gilt, wie von allen anderen gesellschaftlichen Erscheinungen, auch von den Waffen, die wir im Klassenkampf zu gebrauchen haben. Gerade jetzt, wo die Bedingungen, unter denen wir bisher kämpften, großen Aenderungen entgegengehen, ist es doppelt geboten, sich dessen zu erinnern und sowohl jene Bedingungen zu untersuchen,unter denen jede der uns zu Gebote stehenden Waffen erfolgreich angewandt werden kann, wie auch jene, unter denen sie versagt. Dieser Tätigkeit liege ich in den letzten Jahren eifrig ob, und wenn ich die Notwendigkeit der Gewerkschaften, des Parlamentarismus, des Wahlrechtes, des politischen Massenstreiks anerkenne, so studiere ich doch nicht minder die Grenzen, die ihrer Wirksamkeit gezogen sind, und die Bedingungen, die ihr erfolgreiches Wirken voraussetzt. Darin haben aber Freunde Stampfers, die ganz seinen Standpunkt vertreten, nichts anderes gesehen, als Feindseligkeit gegen die Gewerkschaften, gegen den Parlamentarismus, Gleichgültigkeit gegen das Wahlrecht, ja schließlich praktischen Verzicht auf den Massenstreik!
In bezug auf letzteren hat Stumpfer freilich das Glück, daß er sich auf einen meiner Feunde selbst berufen kann. Er behauptet, der Jenaer Parteitag habe meine Auffassung des Massenstreiks desavouiert. obwohl in der ganzen Debatte diese Auffassung weder direkt noch indirekt erwähnt worden war. Sie stand eben nicht nur Diskussion, da das Wörtchen „gegebenenfalls“ die Frage offen ließ, ob meine Auffassung oder eine andere die richtige sei. Im Zusammenhang mit dieser Behauptung schließt aber Stampfer triumphierend als Schlußpointe den Satz Viktor Adlers gegen mich los, daß ich in der Frage des Massenstreiks „praktisch bei Wolfgang Heine anlange“ ...
Trotzdem hat aber Stampfer gar keine Ursache, sich auf Adler in berufen. Die Differenz zwischen diesem und mir ist vorwiegend eine geographische. Er betrachtet die Frage des Massenstreiks vom österreichischen, ich vom deutschen Standpunkt. Ich hatte vor allem deutsche Verhältnisse im Auge, wenn ich den politischen Massenstreik für ein letztes, äußerstes Mittel erklärte, das nur in Situationen in Frage kommen könne, die Aussicht böten, revolutionär zu werden, das heißt das bestehende Regierungssystem zu stürzen. Jeder größere Kampf um eine einzelne Maßregel, sei es ums Wahlrecht, ums Koalitionsrecht oder was immer, der im Proletariat eine solche Siedehitze entzünde, daß der Massenstreik in Frage komme, müsse stets in Deutschland solche Dimensionen annehmen, daß aus dem Kampfe um die einzelne Maßregel ein Kampf um das ganze Regierungssystem werde, ein Kampf auf Leben und Tod, der, wem er einmal begonnen, nicht nach Belieben abgebrochen werden könne.
Adler verfocht demgegenüber die Auffassung, daß es sehr wohl angehe, den Kampf, in dem der Massenstreik zur Anwendung komme, auf eine bestimmte Forderung zu beschränken, dadurch die Energie des Widerstandes, den man zu überwinden hat, zu verringern und den Massenstreik in einem Stadium zu erhalten, in dem er jederzeit ohne Desorganisation abgebrochen werden könne, wenn sich’s herausstelle, daß ein Erfolg nicht möglich sei.
Das gilt sicher nicht für Deutschland, aber ich gebe gerne zu, daß es für Oesterreich anwendbar sein mag. Nur dürfen die politischen Verhältnisse Oesterreichs nicht als typische betrachtet werden. In der alten Habsburger Monarchie sind so viele bürgerliche, nationale Elemente, die im Gegensatz zur Sozialdemokratie stehen, an der Zersetzung und Desorganisation des Staates tätig, ist andererseits die Sozialdemokratie als ernsthafter Bewerber um die politische Macht noch so wenig zu fürchten, wirkt sie endlich der nationalen Zersetzung so energisch entgegen, daß sie von nicht wenigen Bureaukraten, und gerade von den gescheitesten und tüchtigsten, im Kampfe gegen die zentrifugalen Tendenzen als Bundesgenosse, als eine Art staatserhaltendes Element betrachtet wird. Das gleiche Wahlrecht selbst erscheint den weitersehenden Bureaukraten als das wirksamste Mittel, den Staat vor dem Auseinanderfallen zu bewahren, das ihm jetzt, nach dem Zusammenbruch der russischen Revolution, mehr als je droht, und ihn auf eine neue Basis zu stellen. Endlich aber besitzt die Bureaukratie in Oesterreich weit größere Macht als in Ländern mit entwickeltem Parteileben und großen Parteien.
Unter diesen Umständen gewinnt augenblicklich ein Massenstreik zugunsten des verbesserten Wahlrechtes eine ganz andere Bedeutung als in Deutschland. Er ist dort das Einsetzen der vollen Macht des Proletariats nicht gegen, sondern für die Regierung; er wirkt dahin, die Kraft der Regierung gegenüber ihrer bürgerlichen Opposition zu verstärken und sie zu stützen.
Man wird zugeben, daß bei uns in Deutschland die Dinge etwas anders liegen.
Trotzdem aber, trotzdem die Verhältnisse in Oesterreich den Massenstreik weit mehr begünstigen als bei uns, und trotzdem die Massen in Oesterreich zeitweise zu einer Erregung gelangt waren, von der wir in Deutschland weit entfernt blieben, zu einer solchen Erregung, daß sie nur durch das äußerste Aufgebot aller Kräfte von dem Eintritt in den Massenstreik abgehalten werden konnten; trotzdem endlich wiederholt und in der positivsten Weise mit dem Massenstreik gedroht worden war, haben die für die Taktik der Partei verantwortlichen Genossen bisher auf das stärkste gebremst und den Massenstreik verhindert, soweit man von hier aus beurteilen kann, aus sehr triftigen Gründen. Säßen Stampfer und seine Freunde in Oesterreich, dann müßten sie, vorausgesetzt, daß sie konsequent sind, denselben Adler, den sie jetzt mit solcher Beflissenheit gegen uns ausspielen, ebenso energisch kritisieren, wie sie jetzt die verantwortlichen Genossen in Deutschland kritisieren, und sie müßten Viktor Adler vorwerfen, daß er „praktisch bei Wolfgang Heine“ angelangt sei ...
Stampfer hat sachlich um so weniger Recht, sich auf Adler in berufen, als er ja nur die Pointe von ihm akzeptiert, weil diese sich gegen mich richtet, nicht aber den Ausgangspunkt. Wenn Adler – von seinem österreichischen Standpunkt mit Recht – behauptet, es sei möglich, das Ziel des Massenstreiks auf ein einzelnes, eng begrenztes Objekt zu beschränken, so muß Stampfer zugeben, daß der Umsturz des gegebenen preußischen Wahlrechten der durch den Massenstreik erreicht werden soll, mehr als eine bloße Wahlreform bedeutet: eine Weltwende.
Freilich scheint er von einer Weltwende etwas gar zu gemütliche Vorstellungen zu hegen, sonst könnte er nicht einen Plan entwerfen, wie eine solche Weltwende zwei, drei Jährchen lang vorzubereiten und dann zu machen sei!
In der deutschen Sozialdemokratie galt aber seit jeher der Grundsatz, Revolutionen könnten nicht gemacht werden. Einen Verzicht auf die Revolution oder gar einen Verrat an ihr bedeutet das jedoch keineswegs, trotz Stampfers entgegengesetzter Anschauung.
Dieser erklärt, es sei ein Verrat an der russischen Revolution, wenn wir nicht den von ihm verfochtenen Plan akzeptierten. Wie leicht könnten die russischen Revolutionäre, erbost darüber, ihrerseits erklären, sie wollten künftighin nicht mehr Revolution machen, wie die Deutschen nicht mittun. Da kommt wieder der Aberglaube zum Vorschein, als könnten Revolutionen gemacht werden, als sei die russische Revolution von den russischen Revolutionären gemacht und könnte von diesen wieder abgesagt werden, wenn sie keine Lust mehr haben, mitzuspielen.
Dann aber, wie will Stampfer die russische Revolution unterstützen? Durch einen sofortigen Ausbruch, einen Massenstreik über Nacht? Mit nichten, er gibt selbst zu, ein solcher sei nicht möglich. Nein, er glaubt die Glut der russischen Revolution zu heller Lohe schüren zu können durch – einen Plan, durch die Aussicht, in zwei bis drei Jahren die Weltwende im machen – mit Vorbehalt! In der Tat, wenn dieser famose Plan nicht sofort das russische Volk in die wildeste revolutionäre Ekstase verseht, dann steht es offenbar schlecht um die Sache der Revolution. und darum begeht Verrat an ihr, wer sich nicht für diesen Plan begeistert.
Stampfer wird vielleicht einwenden wollen, nicht durch du Plan solle die russische Revolution unterstützt werden, sondern durch eine lebhafte Bewegung der Massen, die eben eine Folge des Planes sei. Es ist aber nicht einzusehen. wieso durch Pläneschmieden die Massen in stärkere Erregung gebracht werden, als es sonst der Fall wäre. Kämpfen wollen auch wir, mit allen zweckdienlichen Mitteln, die uns zu Gebote stehen. Nicht das steht in Frage, ob wir kämpfen, ob wir die Massen erregen sollen, sondern darum handelt es sich, ob wir die Mittel und Wege des Kampfes den jeweiligen Umständen anpassen oder ob wir uns heute schon auf Jahre hinaus auf bestimmte Mittel und Wege festlegen, die Verpflichtung zu deren Anwendung auf uns nehmen wollen.
Ja, um eine Verpflichtung handelt es sich. Wenn wir in eine Wahlrechtsagitation eintreten mit der Erklärung, wir wollen sie immer weiter treiben, so weit, daß wir nach zwei bis drei Jahren zum Massenstreik greifen, wenn bis dahin unsere Forderungen nicht bewilligt sind, so ist das nicht ein unverbindlicher Plan, sondern ein Versprechen, ein Versprechen an die Massen, dessen Einlösung diese fordern und mit Recht fordern werden. Ist nach der abgelaufenen Frist die Situation eine derartige, daß man sich gezwungen sieht, sein Versprechen zu brechen, auf den Massenstreik zu verzichten, so liegt in dieser Tatsache allein schon eine Niederlage, die entmutigend und desorganisierend wirkt. Es kann dann aber auch passieren, daß man die Massen nicht mehr in der Hand behält, in denen man die Ueberzeugung eingewurzelt hat: an den und dem Termin kommt der Streik. Will man dann bremsen, ist es ungeheuer schwer, oft unmöglich.
Ein derartiger Plan ist also nicht bloß nutzlos, er ist aufs äußerste gefährlich. Er kann die Partei in die verderblichsten Situationen hineinreiten. Das vermeidet man, wenn man sich bloß vornimmt, zu kämpfen, die Wirt des Kampfes aber der jeweiligen Situation anpaßt, die nie mit Bestimmtheit vorausgesehen werden kann. Das bedeutet nicht Verzicht auf den Massenstreik bedeutet auch nicht seine Hinausschiebung ins unendliche. Die Situationen wechseln rasch, und früher noch, als der Frankfurts Plan voraussieht, mag eine Situation eintreten, die den Massenstreik möglich, ja notwendig macht, die in den Massen jenen ungeheuren Willen auslöst, dessen der Massenstreik bedarf, soll er gelingen.
Der Wille! Das ist freilich ein Problem, das bei Stampfer gar wunderliche Formen annimmt. Er glaubt, seine Redensart, die Massen brauchten bloß zu wollen, um frei zu sein, dadurch zu stützen, daß er bemerkt, auch nach der materialistischen Geschichtsauffassung vollzögen sich die historischen Aktionen nicht ohne Willensantriebe.
Sicher nicht. Aber wir müssen uns doch fragen: Woher kommen jene Willensantriebe großer Massen, die stark genug sind, eine Weltwende herbeizuführen? Und da lehrt uns die geschichtliche Erfahrung, daß Reden und Leitartikel nie den genügenden Massenwillen erzeugten, daß dieser stets nur durch Erlebnisse ausgelöst wurde, die das ganze Volksleben umwälzten, Erlebnisse, wie zum Beispiel die Hungerzeiten von 1788 und 1847, die Kriege von 1866 und 1870 oder der russisch-japanische Krieg. Solche Erlebnisse treten im Völkerleben stets von Zeit zu Zeit ein. Sie gehen ohne tiefere Wirkungen vorüber, wenn keine tiefgehenden Klassengegensätze, keine hochgradige Erbitterung der unteren Klassen gegen die oberen vorhanden sind. Sie können dagegen eine Weltwende einleiten, wenn sie in einer Zeit höchster Spannung der Klassengegensätze eintreten. Und weil wir in der Zeit einer solchen, noch rasch wachsenden Spannung leben und gleichzeitig in einer Zeit allgemeinen Mißtrauens und internationaler Unsicherheit, in Verhältnissen, die bereits in Rußland zu einer gewaltigen Katastrophe geführt haben, deswegen müssen wir darauf gefaßt sein, daß Erlebnisse eintreten, die in den Massen auch in Deutschland jenen gewaltigen Willen entfesseln, der unter den gegebenen Verhältnissen am wuchtigsten im Massenstreik zum Ausdruck kommt, und den zu lenken und zu fruchtbarer Tat zusammenzufassen dann die Aufgabe unserer Partei sein wird.
Die Frage des Willens läßt sich aber noch von einer anderen Seite am beleuchten. Stampfer bringt es fertig, seinen Satz aufrecht zu erhalten, die Proletarier brauchten bloß wollen, um frei zu sein – denn ohne zu wollen, würden sie nie frei. Ein kühner logischer Schluß. Sicher werden sie nicht frei, wenn sie sich nicht selbst befreien, und sie können das nicht, wenn sie sich nicht befreien wollen. Aber hier endet nicht die Schwierigkeit, hier beginnt sie. Am Wollen hat es den unterdrückten und mißhandelten Klassen in der Regel nicht gefehlt, aber mit dem Wollen allein ist’s nicht getan, wenn hinter dem Wollen kein Können steht. Die historische Entwickelung ist das Ergebnis des Wollens der Menschen, aber die Menschen wollen nicht alle dasselbe, sie wollen sehr Verschiedenes, oft Entgegengesetztes, und nicht jeder Wille erreicht sein Ziel, kann sein Ziel erreichen. Es genügt ebensowenig, daß die Proltarier energisch den Willen entwickeln, frei zu sein, um sie zu befreien, als es genügt, daß unsere Gegner den Willen empfinden, uns zu zerschmettern, um uns zu vernichten.
Unser Wollen entspringt unseren Bedürfnissen. Aber die Befriedigung unserer leiblichen und geistigen Bedürfnisse hängt nicht bloß von unserem Wollen ab, sondern auch von den gegebenen Verhältnissen. Will man fruchtbar wirken, dann gilt es nicht bloß, energisch zu wollen, sondern auch die Energie dieses Wollens auf jene Objekte zu konzentrieren, deren Anstrebung durch die gegebenen Verhältnisse ermöglicht und geboten ist.
Welches diese Objekte sind, das ist im Leben des einzelnen bei gesundem Menschenverstand oft recht leicht zu erkennen. Nicht so im gesellschaftlichen Leben mit seinen unendlich komplizierten Verhältnissen. Soll das durch die gesellschaftlichen Bedürfnisse erzeugte Wollen der Massen ein fruchtbares Wirken erzeugen, so bedarf es einer gesellschaftlichen Theorie, die diesem Wollen seine möglichen und notwendigen Objekte weist. Man spricht so oft vom Schweineglück der Sozialdemokratie und meint darunter einen mystischen Zufall, der sonderbarerweise alles zu ihren Gunsten ausschlagen läßt. Aber das Schweineglück der Sozialdemokratie rührt daher, daß sie das Glück hat, eine Theorie zu besitzen, die sie besser als jede andere im Labyrinth der modernen Gesellschaft zurechtweist, und ihrem Wollen stets dieselbe Richtung gibt, welche die der notwendigen gesellschaftlichen Entwickelung ist, indes das Wollen unserer Gegner in entgegengesetzter Richtung geht. Warum erweist sich unser Wollen schließlich immer als unwiderstehlich und das Wollen unserer Gegner als fruchtlos.
Aber unsere sozialistische Theorie zeigt uns nicht bloß die ungemeine Richtung der Entwickelung, sie bietet uns auch die Möglichkeit, in jedem gegebenen Moment die zunächst kommenden Situationen und deren Erfordernisse mit größerer Sicherheit vorauszusehen, als es sonst möglich wäre, uns für sie zu wappnen und sie auf rascheste und energischste auszunutzen. Es ist unsere Theorie, die es uns ermöglicht, in jedem Moment gerade das zu wollen, was da mit unseren Kräften unter den gegebenen Verhältnissen erreichbar ist, und nur das zu wollen.
In dieser Theorie und ihrer sinngemäßen Anwendung liegt das begründet, was man das „Schweineglück“ der Sozialdemokratie nennt, und nicht in festen Feldzugsplänen, die für Jahre hinaus entworfen werden, für Jahre hinaus die Verpflichtung enthalten, bestimmte Kampfmethoden anzuwenden und um bestimmte Objekte zu kämpfen.
Stampfer und seine Leute möchten die Partei dazu verpflichten, nach zwei bis drei Jahren – mit dem Vorbehalt „außerordentlicher Ereignisse“ – eine Weltwende durch einen Massenstreik herbeizuführen, der der Eroberung des gleichen Wahlrechts in Preußen gilt. Aber nicht nur die Festlegung auf den Massenstreik für ein bestimmtes Datum, auch die Fixierung des Landtagswahlrechts als vornehmstes Kampfobjekt für die nächsten Jahre bedeutet eine Bindung der Partei, der ein weiterblickender Politiker nie zustimmen wird. Ein guter Taktiker wird stets das ganze Schlachtfeld im Auge behalten, das Vorgehen des Gegners auf dem ganzen Schlachtfeld verfolgen, jede Schwäche, jeden Fehler des Gegners ausnützen, wo immer sie auftreten mögen. Nichts verkehrter, als sich in eine bestimmte Position zu verbeißen und seine Angriffe ausschließlich auf sie zu richten, ohne sich darum zu kümmern, was rechts und links von ihr vorgeht. Ein wahrhafter Feldherr wird den Feind dort angreifen, wo dieser sich die größte Blöße gibt; manche Position, die im Frontangriff uneinnehmbar ist, kann unhaltbar werden, wenn Positionen in ihrer Flanke oder ihrem Rücken verloren gehen.
So müssen auch unsere Politiker stets das ganze Schlachtfeld des Klassenkampfes im Auge behalten, und sie müssen bei der Wahl der Position, auf die sie jeweilig die Wucht des Hauptangriffs lenken, nicht bloß ihre Bedürfnisse und Wünsche, sondern auch die Stimmung der großen Massen, die Handlungen der Gegner, die ökonomische Situation, die Ereignisse in den Nachbarländern zu Rate ziehen - allesb Faktoren, die sich nicht vorausberechnen lassen und die stetig wechseln.
Wir sollen jetzt eineu Plan für drei Jahre zur Umwandlung des preußischen Landtagswahlrechtes entwerfen! Ja, haben wir denn auch eine Ahnung davon, wie, nicht nach drei Jahren, sondern im nächsten Frühjahr die politische Situation sein wird? Das deutsche Volk kann da in wildester Aufregung sein nicht wegen des Landtagswahlrechtes, sondern vielleicht wegen einer ökonomischen Krise, die zusammenfällt mit einer unerhörten Lebensmittelbesteuerung, was eine Agitation nicht gegen das Landtagswahlrecht, sondern gegen die Lebensmittelzölle notwendig machte! Oder diese Krise und Teuerung kann gewaltige Lohnkämpfe entfesseln, Versuche der herrschenden Klassen, das Koalitionsrecht einzuengen, die Gewerkschaften zu sprengen, so daß zu deren Sicherung alles aufgeboten werden muß, eventuell ein Massenstreik! Oder das Reichstagswahlrecht kann bedroht sein, oder die Revolution in Rußland kann so weit siegreich sein, daß deutsche Staatsmänner sich zu dem Wahnsinn verleiten lassen, um der Rhe in den polnischen Reichsteilen willen in Russisch-Polen einzumarschieren. Alles das kann kommen, kann die wütendsten Kämpfe entfesseln, kann eine Weltwende herbeiführen, in deren Gefolge das gleiche Wahlrecht für Preußen von selbst kommt!
Stampfer und seine Leute meinen, wer nicht auf ihren dreijährigen Plan schwört, verzichte überhaupt auf den Massenstreik, auf den energischen Kampf gegen das herrschende Regime. Aber gerade deswegen, weil uns die Zeit so revolutionär erscheint, weil alles darauf hindeutet, daß wir einer Weltwende nahen, weil seit drei Jahrzehnten nie die Wahrscheinlichkeit größer war als jetzt, daß unerhörte und überraschende Situationen eintreten und sich überstürzen, war es nie weniger angebracht als jetzt, den Blick von der Gesamtheit des Schlachtfeldes auf eine einzige Position zu beschränken und uns vor dem Volke zu verpflichten, für Jahre hinaus alle unsere Kräfte um diese vereinzelte Position zu konzentrieren.
Nur wer an eine kommende Weltwende nicht glaubt, wer die preußische nach dem Muster einer süddeutschen Wahlrechtsbewegung auffaßt, und wer annimmt binnen Jahren werde sich in unserer politischen Situation nichts ändern, nur der mag sich ohne Inkonsequenz ganz durch die Aussicht auf ein paar Sitze im preußischen Landtag hypnotisieren lassen, so daß er nichts von dem Großen sieht, was neben diesem Landtag noch vorgeht.
Aeußerlich sieht der Plan Stampfers und seiner Leute mit ihrer Drohung des Massenstreiks und ihrem Drängen nach Unterstützung der russischen Revolution ja furchtbar radikal und revolutionär aus. Aber der opportunistische Pferdefuß des Fischens nach der Unterstützung der Liberalen und des Zentrums kommt dabei immer wieder um Vorschein. So verlangt auch Stampfer wieder, ehe man zum Massenstreik greift, „eine der Wahlrechtsbewegung sich anpassende Taktik bei den nächsten Reichstags- und Landtagswahlen“. Nach den Ausführungen Eisners und Maurenbrechers weiß man aber, daß das nichts anderes bedeutet, als daß die nächsten Wahlen eben nicht unter dem Zeichen des proletarischen Klassenkampfes ausgefochten werden sollen, sondern bloß unter dem der Reform des preußischen Wahlrechtes, und daß wir alles vermeiden sollen, daß Freisinnige und Zentrumsleute von uns abstoßen könnte, um die so machtvolle Hilfe des Häufleins derer um Barth und Naumann zu gewinnen, kurz, daß wir jene nationalsoziale Konzentrationspolitik verfolgen sollen, für die Maurenbrecher in der Sozialdemokratie zu wirken versprach, als der Zusammenbruch der nationalsozialen Organisation ihn in unsere Reihen trieb. Erst dann, wenn sich’s herausstellt, daß diese famose Politik Bankerott macht, dann sollte als Ausbruch der Verzweiflung über diese enttäuschte Hoffnung zum Massenstreik gegriffen werden.
So soll die Weltwende angebahnt und unserem drohenden Verrat an der russischen Revolution begegnet werden durch ein Umschmeicheln der Kadaver der bürgerlichen Demokratie in Deutschland.
1. Die neue Gesellschaft, Heft 23, S. 268.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011