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Alle diese verschiedenartigen Auffassungen der Bedingungen und Wirkungen des Massenstreiks veranlaßten nun mich, ebenfalls vor dem Amsterdamer Kongreß meine Stellung zur Frage darzulegen. Einen willkommenen Ausgangspunkt dazu bot mir eine Kritik, die an meinem Schriftehen über die soziale Revolution geübt wurde.
Im April 1902, unmittelbar nach dem belgischen Streik, hatte ich in Holland zwei Vorträge über die soziale Revolution gehalten, die dann im Juni des gleichen Jahres als Broschüre erschienen. Ich hatte das Thema gewählt, weil von revisionistischer Seite damals die Revolution als ein ganz veralteter Begriff behandelt wurde.
In der Schrift kam ich auch auf die Formen und Waffen der sozialen Revolution zu sprechen. Ich erklärte, wir hätten „keinen Grund anzunehmen, daß bewaffnete Insurrektionen mit Barrikadenkämpfen und ähnlichen kriegerischen Vorkommnissen heute noch eine entscheidende Rolle spielen können“, dagegen erwartete ich, daß der Streik als wichtige Waffe in den kommenden Kämpfen fungieren werde.
Ich durfte wohl erwarten, daß meine Schrift über die Revolution Widerspruch finden werde. Jene Kritik kam nur aber doch etwas überraschend, die im Januar 1904 in der Neuen Zeit von einem Genossen an mir geübt wurde, der sich hinter dem Pseudonym Lusnia verbarg. Heute darf ich seine Maske lüften, denn der Verfasser hat nichts mehr zu fürchten. Es war der leider zu früh verstorbene, sehr begabte polnische Genosse C. v. Kelles Kranz. Er wendete sich in dem Artikel Unbewaffnete Revolution dagegen, daß ich „nur“ auf Massenstreik und noch unbekannte Methoden des Kampfes rechne, nicht auf die bewaffnete Insurrektion. Außerdem bemängelte er, daß ich die polnische Frage nicht in Betracht gezogen habe. Weitere Einwände über Unterstützung der Arbeitslosen und die rasche Erweiterung der Produktion durch ein revolutionäres Regime kann ich übergehen, da sie mit unserem Thema nichts zu tun haben. Nur die ersterwähnten Vorwürfe kommen hier in Betracht
Auf diese war ich nicht gefaßt gewesen. Ich hätte sie leicht mit ein paar Worten entkräften können. Aber die Gelegenheit schien mir passend, mich einmal ausführlicher über den Massenstreik zu äußern. Daher antwortete ich in einer Artikelserie, in deren Einleitung ich die Aussichten erörterte, die die einzelnen Staate auf eine revolutionäre Initiative böten. Damals in Februar 1904 schon erwartete ich die russische Revolution. Meine Ausführungen darüber sind heute natürlich überwiegend gegenstandslos. Denn ich untersuchte aus naheliegenden Gründen bloß die Konsequenzen und Pflichten, die sich für uns aus dem Siege der Revolution ergeben könnten. Ich durfte nicht vor dem Ausbruch der Revolution schon mit ihrer Niederlage rechnen. Heute, acht Jahre nach der Revolution, sehen wir freilich alles, was sie betrifft, weit klarer, als es anderthalb Jahre vor ihrem Ausbruch gesehen werden konnte. Trotzdem reproduziere ich hier nicht bloß den eigentlichen Artikel über den Massenstreik aus meiner damaligen Entgegnung, sondern auch den ihn einleitenden über Revolutionsherde. Einmal deswegen, weil er methodologisches enthält, das meines Erachtens noch nicht gegenstandslos geworden ist, dann aber auch, weil der Gegenstand mir damals schon Gelegenheit bot, die heute noch viel diskutierte Frage zu erörtern, ob und warum in Deutschland ein Massenstreik oder eine revolutionäre Initiative weniger leicht möglich sei als in Belgien oder Rußland, trotz der Schwäche und Unreife des russischen Proletariats.
Ich gebe von den Artikeln, die unter dem Titel: Allerhand Revolutionäres erschienen, den 2. und 3. ohne jede Aenderung wieder:
Die Bedenken gegen die Unterstützung der Arbeitslosen und und die rasche Erweiterung der Produktion sind für Lusnia Nebensachen. Als der schlimmste Fehler meiner Broschüre aber erscheint ihm die gänzliche Ignorierung der polnischen Frage. Wie Kann man von der Revolution sprechen und von Polen schweigen! Genosse Wilshire aber wirft mir in seiner Kritik vor, ich täte so, als existierten die Vereinigten Staaten gar nicht.
Beide Vorwürfe heben einander auf. Ich konnte nicht in eine Untersuchung der amerikanischen Revolution Polen einbeziehen, nicht bei einer Darstellung der polnischen Frage Amerika im Auge behalten. Ich hatte aber auch von vornherein nicht die Absicht, das eine oder das andere zu tun, da es dem Zwecke meiner Schrift nicht entsprochen hätte. Es handelte sich mir darum, die für unsere Gegenwartsarbeit wichtigen Probleme der Zukunft und die Mittel ihrer Lösung soweit zu untersuchen, als sie wissenschaftlicher Untersuchung zugänglich sind. Wollte ich nicht aus dem Wissenschaftlichen ins Utopistische verfallen, das heißt, wollte ich mich vor der Gefahr bewahren, an Stelle des als notwendig Erkennbaren das Wünschenswerte zu entwickeln, mußte ich mich auf die einfachsten, allen kapitalistischen Nationen gemeinsamen Tendenzen und deren Konsequenzen beschränken. Nur diese lassen sich für einen größeren Zeitraum mit einiger Genauigkeit aus den heute schon vorliegenden Tatsachen erkennen. Gehen wir dagegen zu den konkreten Formen über, die der Entwicklungsgang bei einzelnen Nationen nehmen wird, so stoßen wir auf so komplizierte Erscheinungen, daß es unmöglich ist, mit einiger Sicherheit auch nur für die nächste Zeit vorauszusehen, welche Resultate das Aufeinanderwirken der zahllosen, hier in Betracht kommenden Faktoren ergeben wird.
Ich kann mit voller Sicherheit im Frühling sagen, daß es am Ende des Jahres wieder einen Winter stehen wird. Ich kann aber nur mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit das Wetter des morgigen Tages bestimmen, auch wenn ich ein noch so gelehrter und geübter Meteorolog und noch so sehr bekannt mit den jüngsten meteorologischen Tatsachen bin. Ich kann unmöglich das Wetter des kommenden Monats voraussehen.
Aehnlich verhält es sich mit der Politik. Wenn ich finde, daß in allen kapitalistischen Ländern die Klassengegensätze sich zuspitzen, daß das Proletariat ohne die Eroberung der politischen Macht sich nicht emanzipieren kann, daß diese Eroberung von welchen Absichten und Erwartungen immer sie begleitet sein mag, naturnotwendig zur Entwicklung sozialistischer Produktion führt, so überschreite ich nicht die Grenzen wissenschaftlicher Untersuchung. Natürlich ist damit noch nicht bewiesen, daß diese Erkenntnisse richtig sind; das hängt von der Richtigkeit der Methode und der Beobachtungen ab, durch die sie gewonnen wurden. Aber die Möglichkeit, über diese Fragen zu einem wissenschaftlichen begründeten Ergebnis zu kommen, liegt vor.
Diese Möglichkeit wird immer geringer, je mehr man sich in die Untersuchung der besonderen Entwicklung einzelner Nationen einläßt. Jede Nation hat einen anderen Werdegang hinter sich. steht auf einer anderen Höhe der Entwicklung, wird von ihren Nachbarn beeinflußt usw. Wenn der allgemeine Entwicklungsgang aller Nationen derselbe ist und sein muß, so ist der besondere Entwicklungsgang, der jeder Nation bevorsteht, ein anderer, und für jede bestehen die mannigfaltigsten Möglichkeiten ihrer Entwicklung. Das beweist nicht, daß mir uns nicht auch um diese Fragen zu kümmern hätten und nicht auch darin zu einiger Einsicht kommen könnten. Jeder Politiker, der sich nicht von den Ereignissen treiben lassen, sondern in sie bestimmend eingreifen will, muß versuchen, sich über die Wahrscheinlichkeit und Möglichkeiten des besonderen Entwicklungsganges der Nation, in der er tätig ist, klar zu werden; denn sein Wirken wird nur dann von Erfolg sein, wenn sein Streben in derselben Richtung geht wie dieser besondere Entwicklungsgang, der ja ebenso notwendig wie der allgemeine, aber nicht so leicht in seiner Notwendigkeit erkennbar ist. Nichts verderblicher als das Verhöhnen jeder weitersehenden Politik, jeder Prophezeiung, wie es heute von den Fanatikern der Gegenwartspolitik und der ausschließlichem Kleinarbeit gern betrieben wird. Der praktische Politiker muß ebenso nie der theoretische Sozialist, wenn er Erfolg haben will, versuchen, in die Zukunft zu sehen; ob diese Voraussicht die Form der Prophezeihung annimmt, wird von seinem Temperament abhängen. Aber er muß dabei freilich stets darauf gefaßt sein, daß unerwartete Faktoren auftreten, die seine Rechnung durchkreuzen und der Entwicklung eine neue Richtung geben, und er muß daher stets bereit sein, seine Taktik dementsprechend zu ändern.
Den allgemeinen Gang der kommenden sozialen und politischen Entwicklung in der kapitalistischen Gesellschaft und den besonderen in einem einzelnen Lande erforschen, das sind also zwei ganz verschiedene Aufgaben. Die Untersuchung der letzteren setzt die Lösung der ersteren voran dagegen kann es zur zu Konfusion führen, wenn man beide miteinander verquickt und gleichzeitig zu erforschen sucht.
Darin liegt die Ursache, daß mein Kapitel über Formen und Waffen der sozialen Revolution, wie Lusnia sich ausdrückt, „etwas Lückenhaftes ist, den Eindruck einer Halbheit, einer Zaghaftigkeit der Gedanken macht“. Er ist völlig im Irrtum, wenn er glaubt, er verspüre hier „den latenten Einfluß jenes heute eben noch herrschenden, noch nicht überwundenen Zustandes der proletarischen Bewegung, in welchem man an die Revolution, an den entscheidenden Kampf nur ungern und niet ohne Angst denken kann und denkt“.
Die Untersuchung der von Lusnia aufgeworfenen Fragen gehörte eben nicht in den Rahmen meines Schriftchens hinein. Aber ich habe keinen Grund, ihnen aus dem Wege zu gehen. Es kann nicht schaden, wenn man sich gelegentlich auch damit beschäftigt. Aber man darf nicht vergessen, daß es sich dabei nicht mehr um Entwicklungstendenzen handelt, die man als notwendige, sondern nur noch um solche, die man als mögliche, mehr oder weniger wahrscheinliche, erkennen kann.
Für Lusnia scheint freilich die polnische Frage eine mit jeder Form der Revolution notwendig gegebene, und zwar in gleicher Weise gegebene zu sein. Er steht da noch auf den alten Standpunkt der früheren Demokratie, den auch Marx, Engels, Liebknecht ehedem vertraten, wonach einer Revolution in Westeuropa ein reaktionäres Rußland gegenüberstehen würde, das zu paralysieren eine Notwendigkeit jeder Revolution sei. Das könnte aber am besten erreicht werden durch die Herstellung eines selbständigen Polen. Die Wiederherstellung Polens und die europäische Revolution bedingten also einander, hingen unzertrennlich miteinander zusammen und jeder polnische Patriot würde ein Kämpfer im europäischen Revolutionsheer.
Diese Auffassung war selbstverständlich und notwendig, solange es kein revolutionäres Rußland und auch kein kämpfendes Proletariat in Polen gab. Das Auftauchen des letzteren hat die Begeisterung der Mehrheit der nichtproletarischen Polen für die europäische Revolution gewaltig abgekühlt. Dagegen hat das Erstarken der revolutionären Bewegung in Rußland die Möglichkeit gegeben, dem Zarismus im eigenen Lande zu Leibe zu rücken, und damit wurde gleichzeitig die Möglichkeit, daß der russische Absolutismus wieder wie 1848 eine westeuropäische Revolution durch seine Intervention ersticken werde, aufs äußerste reduziert. Der Zarismus erwehrt sich heute nur noch mühsam des Ansturmes seiner geliebten Untertanen möge der Unterstützung durch die Kapitalisten Westeuropas. Setzt eine siegreiche Revolution im Westen an Stelle dieser Kapitalisten das Proletariat, dann schwindet nicht bloß jene Unterstützung des Selbstherrschertums, sondern sie wird abgelöst durch die kraftvolle Unterstützung seiner revolutionären Gegner. Dann muß der Absolutismus rettungslos zusammenbrechen, wenn er nicht schon früher diesem Geschick verfallen ist. Welche Notwendigkeit bestände dann noch, Polen herzustellen, um die Sache der Revolution zu retten?
Die polnische Frage hat demnach heute eine ganz andere Bedeutung, als noch vor einem Menschenalter. Der Sozialismus, ja schon die Demokratie schließt in sich das Prinzip der Volkssouveränität, der Selbständigkeit und Unabhängigkeit jedes Volkes ein. Daraus folgt von selbst, daß eine siegreiche europäische Revolution den Anstoß zur Herstellung einer selbständigen polnischen Republik geben wird. Aber für die Sache der Revolution ist das nicht wichtiger als die Lösung jeder anderen nationalen Frage, die das bürgerliche Regime dem proletarischen hinterläßt, als etwa die Herstellung eines tschechischen, um die Slowaken vermehrten Nationalstaats, die Vereinigung der Serben in einem Staatswesen, die Vereinigung des Trentino mit Italien.
Sicher hat die deutsche Sozialdemokratie deswegen nicht geringere Ursache, nach einem gütlichen Einvernehmen mit den polnischen Genossen zu streben. Sie hat nicht bloß die Aufgabe, deren nationales Empfinden zu achten, sie wird gut tun, auch nationaler Empfindlichkeit einige Rechnung zu tragen. Kleineren, zerstückelten, in ihrer Existenz bedrängten Nationen ist oft über das nationale Empfinden hinaus eine gewisse nationale Wehleidigkeit eigen, auch in ihrem proletarischen Teile, die leicht dort schon Unterdrückung sieht, wo bei völliger Gleichberechtigung bloß ein Ueberwiegen der Majorität über die Minorität vorliegt. Das schafft nicht immer angenehme Situationen, aber das Proletariat einer so großen und festbegründeten Nation, wie die deutsche, darf schon nach dem Grundsatz noblesse oblige über das theoretisch Gebotene hinaus noch einige Nachsicht mit der nationalen Reizbarkeit ihrer schwächeren und mehr unterdrückten Nachbarn haben, allerdings nicht soweit. daß es zur Störung der Einheitlichkeit der Organisation und Aktion führte.
Jedoch die Ausnahmestellung, welche die Polen als Schutzwall der Revolution gegenüber Rußland einnahmen, hat aufgehört, und damit ist jeder Grund verschwunden, die polnische Frage in eine allgemeine Untersuchung der kommenden Revolution einzubeziehen.
Aber noch aus einem anderen Grunde fiel die polnische Frage aus dem Rahmen meiner Broschüre heraus. Lusnias Ausführungen darüber gehen von der Voraussetzung aus, die nächste Revolution werde ihren Ausgangspunkt in Deutschland, vielleicht speziell in Berlin, finden. Das ist sicher nicht unmöglich, aber es ist nur eine unter zahlreichen Möglichkeiten, und es ist unter ihnen nicht die wahrscheinlichste. Heute wenigstens stehen eine ganze Reihe von Staaten der Revolution näher als Deutschland, trotz der Raschheit seiner ökonomischen Entwicklung und des Anwachsens seiner Sozialdemokratie. Die deutsche Regierung ist heute noch die kraftsvollste der Welt und verfügt über die stärkste, bestdisziplinierte Armee und Bureaukratie, und ihr steht eine Bevölkerung gegenüber, die nüchtern und friedliebend ist und jeder revolutionären Tradition ermangelt. Freilich kann man sich auch in Deutschland eine Regierung vorstellen, die verrückt genug wirtschaftet, um Armee und Bureaukratie zu desorganisieren und die Masse der Bevölkerung zur Verzweiflung zu treiben, und dabei das Reich in ebenso nutzlose wie opferreiche, vielleicht sogar demütigende Abenteuer zu verwickeln: das wären Faktoren, die selbst das deutsche Volk zur Empörung aufreizen könnten. Ansätze dazu sind bereits zu finden, weitere Dummheiten werden nicht fehlen, veranlaßt durch die wachsende Begehrlichkeit und Not des bankrotten Junkertums, die steigende Angst vor der anschwellenden Sozialdemokratie, die Zuspitzung des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, sowie das Wachstum des Imperialismus bei allen Nationen und damit die zunehmende Gefahr kriegerischer Konflikte. Aber es müßte sehr dick kommen, sollte vom deutschen Volke die Initiative der nächsten Revolution ausgehen.
Viel näher als Deutschland steht ihr sein östlicher Nachbar. Lusnia warnt uns davor, die revolutionäre Kraft des russischen Proletariats nicht zu überschätzen. Man soll sie aber auch nicht unterschätzen, und dieser Gefahr dürfte gerade Lusnia schwer entgehen, da sein Standpunkt in der polnischen Frage seine wichtigste Stütze in der Voraussetzung eines unerschütterlichen, kraftvollen russischen Absolutismus findet und ohne diese Stütze unhaltbar wird.
Kein Zweifel, die ökonomische Entwicklung Rußlands steht weit hinter der Deutschlands oder Englands zurück und sein Proletariat ist weit schwächer und unreifer als etwa das deutsche oder das englische. Aber alles ist relativ, auch die revolutionäre Kraft einer Klasse. Mehr als anderswo ist heute in Rußland das Proletariat der Verfechter der Lebensbedingungen der ganzen Nation, so daß es in seinem Kampfe gegen die Regierung kaum eine Gegnerschaft bei einer der anderen Klassen findet. Andererseits gibt es in ganz Europa, von der Türkei vielleicht abgesehen, keine Regierung, die schwächer wäre als die russische, denn diese hat keine andere Stütze im Staate als eine völlig korrumpierte Bureaukratie und eine Armee, die bereits Keime der Desorganisation und des Mißvergnügens aufweist; es gibt keine Regierung, deren Existenzbedingungen mehr in unversöhnlichem Widerspruch ständen zu den Lebensbedingungen der Nation, deren moralischer und ökonomischer Bankrott offenbarer wäre. Bis in die achtziger Jahre fand der russische Absolutismus seine feste Stütze in einer kraftvollen Bauernschaft. Diese Stütze ist dahin; der Bauer verkommt, verhungert oder rebellierz. Dem drohenden Bankrott entging das Zarentum mit Hilfe des westeuropäischen Kapitals, das ihm dazu diente, treibhausmäßig eine ausgedehnte Großindustrie emporschießen zu lassen. Nun ist diese zusammengebrochen, und statt reicher Revenüen bringt sie dem Absolutismus ein revolutionäres Proletariat, das sich todesmutig in den Kampf stürzt, da es sich in dem Stadium befindet, in dem es nichts zu verlieren hat als seine Ketten, und eine Welt zu gewinnen.
Der Kampf wird um so rascher zuungunsten des Absolutismus entschieden sein, je energischer Westeuropa ihm seine Hilfe versagt. Dahin zu wirken, das Zarentum soviel nur möglich zu diskreditieren, ist heute eine der wichtigsten Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie. Und das hat sie auch begriffen. In welcher Weise sie das in jedem Lande besorgt, muß von dessen eigenartigen Verhältnissen abhängen. Aber ob man das zaristische Barbarentum in Volksversammlungen brandmarkt, wie es unsere Genossen in Wien bei der jüngsten Anwesenheit des Zaren daselbst taten, ob man es durch die Drohung, seinen Repräsentanten auszupfeifen, in seine Schlupfwinkel zurückjagt, wie es unseren italienischen Genossen gelungen; ob man ihm im Reichstag den Krieg erklärt, wie es Bebel so wuchtig bei der Etatsdebatte vollzog – überall haben die Genossen in der der Situation entsprechendsten Weise ihre Schuldigkeit getan – mit Ausnahme der ministeriellen Sozialisten Frankreichs.
Indes, trotz aller wertvollen Freundschaften in Westeuropa wächst die Bedrängnis des Selbstherrschers aller Reußen zusehends. Der Krieg mit Japan kann den Sieg der Revolution in Rußland zusehends beschleunigen, wenn er nicht zu einem raschen und gewaltigen Erfolg der russischen Armee führt. Selbst im Falle eines schließlichen Sieges der Russen kann der Absolutismus schwer getroffen, bis aufs äußerste erschöpft werden, wenn der Krieg etwa die Dauer des Burenkrieges erreichen sollte.
Was sich nach dem russisch-türkischen Kriege ereignete, würde sich diesmal in verstärktem Maße wiederholen: ein gewaltiges Aufflammen der revolutionären Bewegung. Nicht nur ist heute die Regierung schwächer, sind die revolutionären Elemente stärker als damals: der Krieg gegen die Türken zur Befreiung der slawischen Brüder war populär, er war ein Kampf gegen die Barbarei, für die Freiheit – wenigstens in der Illusion der Kämpfenden er diente zunächst dazu, das Ansehen der Regierung im eigenen Lande zu heben. Wie ganz anders der Krieg gegen Japan, ein Krieg gegen ein freieres, höher stehendes Land, an dessen Niederwerfung das russische Volk nicht das mindeste Interesse hat. Man vergleiche die zum Kriege drängende Aufregung, die Rußland von 1875 an durchtobte, als der Aufstand in Bosnien und der Herzegovina aufbrach, bis zur Kriegserklärung 1877, mit der Gleichgültigkeit, mit der vor wenigen Wochen noch in Rußland, im Gegensatz zu Japan, die kriegsschwangere Situation angenommen ward.
Eine Revolution in Rußland könnte zunächst kein sozialistisches Regime begründen. Dazu sind die ökonomischen Verhältnisse des Landes noch zu unreif. Sie könnte vorerst nur ein demokratisches Regime ins Leben rufen, hinter dem aber ein starkes und ungestümes, nach vorwärts drängendes Proletariat stände, das sich erhebliche Konzessionen erringen würde.
Ein solches Regime müßte auf die Rußland benachbarten Länder gewaltig zurückwirken. Einmal durch Belebung und Anfeuerung der proletarischen Bewegungen daselbst, die dadurch den stärksten Anstoß erhielten, ihrerseits einen Sturm auf die politischen Hindernisse einer wirklichen Demokratie – in Preußen zunächst auf das Dreiklassenwahlsystem – zu unternehmen. Dann aber durch Entfesselung der mannigfaltigen nationalen Fragen Osteuropas.
Es scheint mir zweifellos, daß eine russische Revolution den Panslawismus in einer neuen Form wiederbeleben müßte. In seiner bisherigen Form ist er ziemlich heruntergekommen. Er war ein revolutionäres Mittel zu reaktionären Zwecken: die Aufstachelung der slawischen Völker Oesterreichs und der Türkei zur Rebellion, wie diese Völker meinten, um ihre nationale Unabhängigkeit unter russischer Führung au erobern, wie Rußland wollte, um das Herrschaftsbereich seines Despotismus auf sie auszudehnen. Aber die Zeiten sind vorbei, wo reaktionäre Regierungen ungestraft mit der völkerbefreienden Revolution spielen durften, Napoleon mit Kossuth konspirieren (1859), Bismarck eine ungarischen Legion gegen das Regime Habsburg organisieren und den nationalen Aspirationen der Tschechen entgegenkommen (1866) [1], Rieger nach Moskau als Agent des Panslawismus pilgeern (1868), General Ignatiew als russischer Gesandter in Konstantinopel den Umsturz des türkischen Reiches nach allen Regeln der Geheimbündelei vorbereiten konnte (1864–1877).
Seitdem sind allenthalben die Regierungen etwas vorsichtiger und ängstlicher geworden. Höchstens in Südafrika oder in Zemralamerika riskiert es noch die Regierung eines kapitalistischen Landes, revolutionäre Methoden ihren Zwecken dienstbar m machen. Die russische Regierung macht keine Ausnahme davon. Die rebellischen Makedonier von 1903 täuschten sich gewaltig, wenn sie dachten, der Zar werde ihnen ebenso beispringen, wie drei Jahrzehnte früher den Bosniern und Bulgaren.
Andererseits sind die Zustände in Rußland selbst so verzweifelte geworden, daß wenigstens unter den Slawen Oesterreichs das Sehnen nach der Vereinigung mit den russischen Ländern, das während der Reformära unter Alexander II. sehr stark war, völlig erloschen ist. Daher sind auf Beiden Seiten die Wurzeln des Panslawismus verdorrt.
Ein demokratisches Rußland muß den Drang der Slawen Oesterreichs und der Türkei nach Erlangen der nationalen Unabhängigkeit und das Streben, dazu die Hilfe des großen russischen Volkes zu gewinnen, von neuem gewaltig aufflammen lassen. Da wird auch die polnische Frage wieder akut werden, aber in einem andern Sinne, als Lusnia meint; sie wird ihre Spitze nicht gegen Rußland, sondern gegen Oesterreich und Preußen richten, und, soweit sie der Revolution dient, ein Mittel werden, nicht sie gegen Rußland zu schützen, sondern sie von dort nach Oesterreich und Deutschland zu tragen.
Oesterreich wird dann gesprengt, denn mit dem Zusammenbruch des Zarismus zerfällt der eiserne Reifen, der heute noch die auseinanderstrebenden Elemente zusammenhält. Kommt es aber so weit, dann ersieht für das Deutsche Reich die Notwendigkeit, die von Deutschen bewohnten Länder und Landstriche der habsburgischen Monarchie – soweit sie ein zusammenhängendes Ganzes ausmachen – in seine Gemeinschaft aufzunehmen.
Damit wird aber der Charakter des Reiches völlig verändert. Heute stehen den rund 35 Millionen Preußen nur 22 Millionen Nichtpreußen gegenüber. Der Hinzutritt der Deutschösterreicher würde Preußen und Nichtpreußen ungefähr gleich stark machen, namentlich wenn von den ersteren die heute 3 Millionen starken preußischen Polen abgezogen würden. Ein derartiges Verhältnis brächte die Gefahr einer verstärkten Opposition des Südens gegen den Norden, einer Verstärkung des Partikularismus, einer Schwächung der Reichseinheit, wenn das Reich fortführe ein Bund selbständiger Staaten zu sein. Es würde dann dringend notwendig, nachzuholen, was 1870 versäumt worden, den Bundesstaat in einen Einheitsstaat zu verwandeln. Die Lösung der polnischen Frage würde dadurch sehr erleichtert, denn die Zurückhaltung der preußischen Polen im jetzigen Staatsverband liegt im Interesse eines besonderen preußischen Staates, nicht in dem des deutschen Volkes.
So müßte die russische Revolution nicht nur den proletarischen Bewegungen des übrigen Europa einen mächtigen Anstoß erteilen, sondern auch, nicht bloß in Oesterreich und den Balkanländern, vielmehr selbst in Deutschland wieder die Fragen der nationalen Einigung auf die Tagesordnung setzen, um sie ihrer endgültigen Lösung zuzuführen. Die Sozialdemokratie würde sich dann zu bewähren haben als Verfechter nicht bloß einer neuen gesellschaftlichen, sondern auch einer neuen nationalen und territorialen Ordnung, als Verfechter nicht bloß der proletarischen Klasseninteressen, sondern auch der allgemeinen nationalen Interessen, denen die anderen, konservativ und ängstlich gewordenen Klassen entweder passiv oder direkt feindlich gegenüberstehen werden.
Sollte es nicht möglich sein, daß schon aus diesen Kämpfen sich schließlich eine herrschende Stellung des Proletariats im Deutschen Reiche ergibt? Das müßte aber auf ganz Europa zurückwirken, müßte in Westeuropa die politische Herrschaft des Proletariats nach sich ziehen und dem Proletariat Osteuropas die Möglichkeit bieten, die Stadien seiner Entwicklung abzukürzen und durch Nachahmung des deutschen Beispiels sozialistische Einrichtungen künstlich zu schaffen. Die Gesellschaft als ganzes kann nicht künstlich einzelne Entwicklungsstadien überspringen, wohl aber können es einzelne ihrer Bestandteile, die ihre rückständige Entwicklung durch Nachahmung der vorgeschrittenen Teile beschleunigen und dadurch sogar an die Spitze der Entwicklung gelangen können, weil sie nicht gehemmt werden durch den Ballast von Traditionen, den ältere Nationen mit sich schleppen. Das glänzendste Beispiel dafür ist Amerika, das die Stadien der Feudalität und des Absolutismus übersprang und von den aufreibenden Kämpfen gegen diese und den Lasten ihrer Ruinen verschont blieb.
So kann es kommen. Aber wie schon gesagt, hier haben wir das Gebiet der erkennbaren Notwendigkeit überschritten; hier bewegen wir uns nur noch auf dem von Möglichkeiten. Es kann daher auch ganz anders kommen.
Am nächsten, nach Rußland, scheint augenblicklich Belgien der Revolution zu stehen. Das industrielle Proletariat ist hier ausnehmend stark entwickelt, die konservative Bauernschaft ziemlich schwach.
Es entfielen von je 1.000 Berufsfällen (Haupt- und Nebenberufen zusammen):
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Belgien |
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Deutsches Reich |
Auf die Industrie |
368 |
319 |
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Auf den Handel |
111 |
114 |
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Auf die selbständigen Landwirte |
145 ) |
221 |
429 |
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Auf die Landarbeiter |
76 ) |
Die Zahlen würden sich noch zugunsten derr industriellen Bevölkerung verschieben, wenn man nur die Hauptberufe allein in Betracht zöge, da nicht wenige industrielle Arbeiter gleichzeitig auch etwas Landwirtschaft treiben.
Im Deutschen Reiche gehörten 1895 von den Erwerbstätigen im Hauptberuf 362 zur Landwirtschaft (in Sachsen nur 167, in Bayern aber 464); hingegen 361 zur Industrie (in Sachsen 550, in Bayern 280). In Belgien wurden 1890 leider die hauptberuflich Tätigen nicht besonders gezählt, man kann, also hier nicht die gleiche Unterscheidung wie für Deutschland vornehmen. Jedenfalls kann man annehmen, daß, wenn in Deutschland die industrielle und die landwirtschaftliche Bevölkerung einander so ziemlich die Wage halten, in Belgien die erstere mindestens das Doppelte der letzteren beträgt, vielleicht das sächsische Verhältnis erreicht.
Innerhalb der industriellen Bevölkerung selbst ist wieder das Proletariat in Belgien stärker vorherrschend als in Deutschland. Man zählte in der Industrie unter tausend Erwerbstätigen:
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Belgien |
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Deutschland |
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Selbständige |
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183 |
249 |
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Angestellte |
15 |
32 |
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Lohnarbeiter |
802 |
719 |
Zu dieser sozialen Schichtung kommen politische Verhältnisse, die die Revolution vergünstigen. Die Regierung ist, dank dem die besitzenden Klassen begünstigenden Wahlrecht, äußerst reaktionär, wodurch sie in steigenden Widerspruch nicht bloß zum Proletariat, sondern auch zu den Gesamtinteressen der Nation gerät; der König ist in weiten Kreisen des Volkes verachtet und verhaßt, die Armee, dank dem System der Stellvertretung und Anwerbung, im wesentlichen nur aus den besitzlosen Klassen rekrutiert, mißvergnügt und zur Meuterei geneigt. Es genügt, daß eine schwierige Lage der Regierung zusammenfällt mit einem Aufflammen des Volkszornes, und Leopold oder sein Nachfolger steht das Gebiet seiner Herrschaft auf den Kongo reduziert.
Freilich eine proletarische Revolution, auf Belgien beschränkt, könnte sich nicht lange behaupten. Schon aus ökonomischen Gründen vermöchte dieses kleine Gebiet mit seinen sieben Millionen Bewohnern für sich allein kein dauerndes sozialistisches Regime inmitten einer kapitalistischen Umgebung zu begründen. Aber noch näher liegt seine politische Gefährdung. Ein republikanisches, vom Proletariat beherrschtes Belgien bedeutet einen ständigen Revolutionsherd, eine Aufforderung an die Proletarier der anderen Länder Europas, dies Beispiel nachzuahmen, eine Quelle beständiger Gärung der unteren Volksmassen außerhalb Belgiens. die Regierungen Deutschlands und Frankreichs müßten sich beeilen, den Feuerbrand auszustampfen, aus dem so bedrohliche Funken auf die geflickten Strohdächer der agrarischen und industriellen Scharfmacher in den Nachbarländer flögen. Gerade bei dem Versuch, das Feuer zu löschen, könnte es erst recht zum Aufflammen kommen.
Ein Volk, das sich seiner Freiheit wehrt, ist nicht so leicht unterjocht, wie das Beispiel der beiden südafrikanischen Republiken gezeigt hat, wo kaum 1.400.000 Weiße, worunter höchstens 40.000 wehrhafte Männer, dem englischen Weltreich solange siegreichen Widerstand zu leisten wußten. Die belgische Armee mit 150.000 Mann würde zahlreichen Zuzug begeisterter Freiwilliger von außen bekommen, und in diesem Falle würde die Arbeiterpresse nicht schreiben, Zuzug fernhalten. Jeder Tag des Widerstandes müßte aber die Gärung im Lager des Feindes verstärken und die Gefahr einer Rebellion daselbst vermehren.
Aber immerhin wäre bei der ungeheuren Uebermacht der benachbarten Mächte schließlich die Erdrückung der jungen Republik kaum zu verhindern, wenn nicht ein Faktor ihr zu Hilfe käme: der Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland, der hier zum erstenmal der Sache der Freiheit nützen würde. Sollte Frankreich ruhig zusehen, wie Deutschland Belgien niederwirft und okkupiert, oder sollte gar eine französische Armee die Funktionen preußischer Gendarmen übernehmen und Hand in Hand mit der deutschen Armee zur Erwürgung der Belgier ausmarschieren? In dem einen wie in dem anderen Falle droht der französischen Regierung die Gefahr, von einer Explosion der Volkswut getroffen zu werden, in der das Niedrigste und das Höchste, nationaler Haß und internationale Solidarität, kleinbürgerliche Verbissenheit und proletarischer Revolutionsdrang sich vereinigen würden, um mit französischem Elan ein derartiges Regime des Volksverrats hinwegzufegen, was um so leichter passieren könnte, als die französische Armee sich in diesem Falle kaum mit Begeisterung für die Regierung schlagen würde.
Die Regierung des Deutschen Reiches müßte dann, um Belgien niederzuschlagen, den Krieg mit Frankreich eröffnen. Das würde nicht ein Krieg wie der von 1870; keiner zur Erringung des Ideals der Einigung, das die Nation seit Jahrzehnten aufs heißeste ersehnt, kein Krieg gegen einen frechen Usurpator, keiner, der mit einigen raschen Schlägen die Volksmassen zu allgemeinem Siegesrausch fortreißen würde. Sondern ein Krieg, an dem einige wenige privilegierte Ausbeuterschichten ausgenommen niemand ein Interesse hat, ein Krieg, der die entschlossenste Gegnerschaft der einzigen großen Klasse der Nation finden muß, die noch Ideale hegt. Ein Krieg, nur dazu bestimmt, ein friedliches Volk abzuschlachten, das nichts verlangt, als in Ruhe gelasseu zu werden. Ein Krieg, der, selbst wenn er zum Siege führt, diesen nur in langem, wechselvollem und opferreichem Ringen erlangt, denn die feindlichen Armeen sind heute anders gerüstet als 1870 und wären von ganz anderem Geiste beseelt als die Prätorianer Napoleons.
Das würde ein Krieg, der sehr wohl den Anfang des Endes bedeuten könnte.
Auch dabei könnte die polnische Frage eine Rolle spielen, aber auch hier wieder eine andere als die von Lusnia erwartete. Das revolutionäre Regime in Belgien und Frankreich müßte zu seiner eigenen Rettung trachten, alte revolutionären Bestrebungen des Auslandes materiell zu unterstützen, um so die Kräfte seiner Gegner zu zersplittern und die Aufregung der Volksmassen zu steigern. Es würde vielleicht versuchen, die Revolution nach Holland und Italien zu tragen, Unruhen in Rußland und Oesterreich zu erregen. Dazu wäre unter anderem die Ermutigung der polnischen Aspirationen sehr geeignet. Aber sie wären hier ein Mittel, nicht nur die russische, sondern auch die borussische Reaktion zu schwächen.
Wir sind heute jedoch schon soweit, daß wir bei Untersuchung der Möglichkeiten der Revolution nicht bei Europa stehen bleiben dürfen. Wenn Genosse Wilshire in seiner Kritik meiner Schrift meint, die Vereinigten Staaten ständen dem Sozialismus näher als Europa, so hat er vielleicht nicht unrecht. Allerdings, darin kann ich ihm nicht beistimmen, wenn er ausspricht, die Zentralisation des Kapitals sei dort soweit vorgeschritten, daß nicht mehr die Arbeiterklasse allein, sondern bald alle Klassen im Sozialismus den Erlöser sehen und ihm zujubeln werden.
Vielleicht keine Klasse bedarf des Sozialismus mehr, als der kleine Handwerker und Händler. Seine Aussichten im der kapitalistischen Gesellschaft sind viel trüber, als etwa die des gelernten Lohnarbeiters. Ihm winkt in der heutigen Gesellschaft nur noch ein Abstieg, und zwar sehr oft der Abstieg ins Lumpenproletariat. Und dennoch widersetzen sich die kleinen Handwerker und Händler vielfach aufs energischste der Sozialdemokratie, der gerade aus diesen Klassen die wütendsten Feinde erstehen, wie die Geschichte des Antisemitismus beweist. Der Sozialismus würde sie retten, aber der Sozialismus ist die Zukunft, eine ungewisse Zukunft. Das Klasseninteresse der Gegenwart aber treibt diese Schichten, durch verstärkte Ausbeutung der Aermsten der Armen eine Rettung zu suchen und daher jedem Fortschritt der Arbeiter, jedem Arbeiterschutzgesetz, jeder Organisierung der Arbeiter in Gewerkschaften und Konsumvereinen noch ablehnender gegenüberstehen, als die Klasse der großen Kapitalisten.
In Amerika wird es wohl auch nicht anders mit den kleinen Kapitalisten stehen. Sie werden von den großen Monopolen erdrückt; sie empören sich gegen diese in den schärfsten Worten, wi e unsere Antisemiten gegen das Kapital; wo es aber zum Handeln kommt, suchen sie sich zu retten, nicht durch Niederwerfung der Monopolisten, sondern durch verstärkte Ausbeutung der Arbeiter. Nicht von dem Uebergang der Kapitalisten ins sozialistische Lager erwarte ich in Amerika den Sieg des Sozialismus – dieser Traum Bellamys könnte nun schon ausgeträumt sein –, sondern von der fortschreitenden Verschärfung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, den die Trusts nicht bloß für sich, sondern für die ganze Kapitalistenklasse auf die Spitze treiben müssen . So sehr es auch im Interesse der ganzen Nation liegt, daß die Trusts nationalisiert werden, nur das Proletariat allein kann sie wirklich überwinden; der Kampf der anderen Klassen gegen sie wird nur ein Scheinkampf sein.
Die Riesenhaftigkeit der Trusts, der Krisen, der Arbeitslosigkeit – alle diese Faktoren, die in Amerika bereits gewaltigere Dimensionen annehmen als in Europa, sie können sehr wohl bewirken, daß das Proletariat jenseits des Atlantischen Ozeans sich früher der politischen Gewalt bemächtigt als bei um vielleicht nicht mit einem klaren, sozialistischen Programm, vielleicht um, den angelsächsischen Traditionen entsprechend, zunächst nur eine einzelne Erscheinung des Kapitalismus zu bekämpfen, etwa die Arbeitslosigkeit oder die Trusts. Aber auch in diesem Falle müßte das proletarische Regime bald zu Konsequenzen getrieben werden, aus denen eine sozialistische Ordnung der Produktion erwüchse.
Indes, selbst wenn es gelänge, dem amerikanischen Arbeiter, der so durch und durch „Praktiker“ ist, das Verständnis der sozialistischen Theorien beizubringen, so daß das proletarische Regime von vornherein ein zielbewußt sozialdemokratisches würde, selbst in diesem Falle würde eine amerikanische Revolution ein ganz anderes Gesicht bekommen als eine europäische.
Nicht nur sieht die politische Gemalt dort ganz anders aus als bei uns, auch die soziale Schichtung ist eine andere. Es würde jedoch zu weit führen, dies eingehender darzustellen, auch würde die Eigenart amerikanischer Verhältnisse besser von einer amerikanischen Feder geschildert.
Aber welches immer die Formen sein mögen, welche die soziale Revolution drüben annimmt, sie könnte Europa nicht unberührt lassen. Sie müßte den Drang und die Kraft des europäischen Proletariat zur Eroberung der politischen Macht bedeutend steigern. Entweder führte das zum Siege der Arbeiterklasse auch in Europa, oder aber, wenn sie darin scheiterte, zu ihrer Massenauswanderung und zur Verödung der alten kapitalistischen Länder.
Auch diese Eventualität ist ins Auge zu fassen. Die Welt ist nicht so zweckmäßig eingerichtet, daß die Revolution immer dort siegt, wo es im Interesse der Gesellschaft erforderlich ist. Wenn wir von der Notwendigkeit des Sieges des Proletariats und des daraus folgenden Sozialismus sprechen, so meinen wir nicht damit, daß dieser Sieg unvermeidlich sei oder gar, wie mancher unserer Kritiker es auffaßt, mit fatalistischer Sicherheit von selbst kommen müßte, auch wenn die revolutionäre Klasse die Hände in den Schoß legte. Die Notwendigkeit ist hier aufzufassen in dem Sinne der einzigen Möglichkeit der Weiterentwicklung. Wo es dem Proletariat nicht gelingt, seiner Gegner Herr zu werden, da kann die Gesellschaft sich nicht fortentwickeln, da muß sie stagnieren und verfaulen.
Die Beispiele von Staatswesen, die verkommen, weil sie der Revolution bedürfen und nicht imstande sind, eine revolutionäre Klasse zu erzeugen, sind in der Geschichte nicht selten. Selbst das heutige Europa birgt ein solches in der Türkei. Ihr Schicksal würde das ganz Europas werden, wenn dessen Proletariat in seinem Streben nach Erringung der politischen Macht scheiterte. Siegte es dagegen gleichzeitig in Amerika, so würde alles, was Intelligenz und Energie im Proletariat und auch unter den Intellektuellen besitzt, über den Ozean der neuen Freiheit zuströmen, und Europa käme Amerika gegenüber bald in eine Position, ähnlich der, die heute etwa Unteritalien Deutschland gegenüber einnimmt. Es hörte auf für die gesellschaftliche Entwicklung etwas zu bedeuten und wäre nur noch interessant durch seine Natur und seine Sammlungen und Ruinen, die Zeugen früherer Größe.
Indes liegt kein Grund zu so düsteren Erwartungen vor angesichts der Kampfeslust und Kampfesfähigkeit, die sich im europäischen Proletariat vereinigen mit ebensoviel Begeisterung und Opfermut wie Besonnenheit und Vorsicht. Selbst das englische Proletariat betet keinen Anlaß zum Pessimismus. Es hat so großes im neunzehnten Jahrhundert geleistet, seine Lethargie ist so jung mit historischem Maßstab gemessen, daß man wohl annehmen darf, sie sei ausnahmsweisen, vorübergehenden Verhältnissen geschuldet, derselben Ausnahmsstellung auf dem Weltmarkt, die das englische Kapital verwöhnte und seine Fähigkeiten für den Konkurrenzkampf verkümmerte. Jetzt, wo aller Welt offenbar geworden ist, daß diese Ausnahmsstellung der Vergangenheit angehört, dürfte auch die Unselbständigkeit und Passivität des englischen Arbeiter verschwinden. Er fand sich mit der Bourgeoisie zusammen im liberalen Freihandel. Der Bekehrung des Bourgeois zum Schutzzoll muß die Bekehrung des Proletariers zum Sozialismus folgen.
Man sieht, die mannigfachsten Probleme tauchen auf, wenn man die Möglichkeiten der kommenden Revolution in Betracht zieht; nur eines nicht: die polnische Frage in dem Sinne, in dem Lusnia sie entwickelt. Sie ist ein Problem der Vergangenheit. Wenn aber unsere Ausführungen gezeigt haben, daß die mannigfachsten Formen der Revolution denkbar sind, und wenn noch mehr dieser Formen möglich als denkbar sind, da noch neue, unerwartete Faktoren auftreten können und wahrscheinlich auftreten werden, an die heute noch niemand denkt, so dürfte doch eines sicher sein: die Revolution der Zukunft wird nicht zu Formen und Problemen zurückkehren, die bereits der Vergangenheit angehören.
Indes, um zu diesem Ergebnis in der polnischen Frage zu kommen, war der aufgewendete Apparat vielleicht zu weitläufig. Dasselbe Resultat hätte sich einfacher erreichen lassen. Aber mir war’s bei diesen Ausführungen noch um etwas anderes zu tun. Ich hoffe, aus dieser Erörterung der Möglichkeiten der Revolution geht klar hervor, wie wenig die Maßregeln der Scharfmacher in Deutschland imstande sind, ihr vorzubeugen. Bei allen Möglichkeiten, die ich entwickelt, und sie erscheinen mir heute die nächstliegenden, blieb Deutschland von der revolutionären Initiative ausgeschlossen, wurde die Revolution nach Deutschland von außen hineingetragen. Was würde an diesen Aussichten geändert durch irgendeine Einschränkung des Wahlrechts, eine Verkümmerung des Koalitionsrechtes, eine verstärkte Verfolgung der sozialistischen Presse in Deutschland? Zu russischen Verhältnissen könnte man das deutsche Proletariat doch nicht degradieren!
Aber je näher die deutschen Zustände den russischen kämen, desto ähnlicher würde auch die Lage der deutschen Regierung der der russischen. Desto mehr geriete sie in Gegensatz zu den Gesamtinteressen der Nation, desto mehr müßte sie das ökonomische Leben lähmen. Denn die freie Entwicklung des Kapitalismus setzt die freieste Initiative des einzelnen in der Gesellschaft voraus. Je mehr diese gehemmt wird, desto mehr wird auch jener beengt. Polizeiliche Unterdrückung und wirtschaftliche Blüte sind miteinander unvereinbar bei entwickelter kapitalistischer Wirtschaft. Ein Gewaltregime gegen die Sozialdemokratie bedeutete, wenn es dauernd energisch durchgeführt werden sollte, den ökonomischen Niedergang Deutschlands, es bedeutete ihn um so mehr, als die Träger dieses Gewaltregimes die ökonomisch reaktionärsten Klassen werden müßten, das Junkertum und der antisemitisch zünftlerische Teil des Kleinbürgertums samt dem ihnen Gefolgschaft leistenden Teile der Bauernschaft.
Man erzeuge russische Zustände in Deutschland, und man treibt dem finanziellen Bankrott, der Stagnation der Industrie, der Korrumpierung und Desorganisation von Armee und Bureaukratie, kurz der ganzen Schwäche der russischen Regierung, der ganzen Verzweiflung der russischen Nation entgegen, also gerade jenen Zuständen, die es wahrscheinlich machen, daß Rußland die Initiative der kommenden Revolution ergreift.
Ich erwarte, wie gesagt, nicht, daß von Deutschland die nächste Revolution ausgeht. Sollten die Tatsachen diese Erwartung Lügen strafen, dann dürfte die Ursache davon einem energischen Gewaltregime gegen die Sozialdemokratie entspringen.
Ich halte jedoch ein solches nicht für wahrscheinlich, dazu sind die Verhältnisse Deutschlands doch schon zu sehr bürgerlich entwickelt. Aber auch daran glaube ich nicht, daß man der Sozialdemokratie gestatten wird, auf den gegebenen gesetzlichen Grundlagen sich weiter zu entwickeln. Ich erwarte eine verstärkte Auflage des Zickzackkurses, ein Regime, das durch große Versprechungen die Arbeitermassen der Sozialdemokratie abwendig zu machen sucht, ohne die Kraft, diese Versprechungen zu verwirklichen, was die Genasführten um so mehr erbittern muß, je mehr sie der Regierung vertrauten. Andererseits ein Regime, das sich von Fall zu Fall zu vereinzelten, systemlosen, krampfhaften Wutanfällen und Gewaltstreichen hinreißen läßt, die einzelne Individuen hart treffen, oder die Gesamtheit des Proletariats schikanieren, aber dessen Kraft nicht brechen, zu Maßregeln, die in jedem Falle empören, ohne einzuschüchtern, ich erwarte aber nicht ein Regime, das die in letzter Linie freilich selbstmörderische Energie zu einem System dauernder Schreckensherrschaft aufbringt, die jede Kraftäußerung des Proletariats niederdrückt.
Aber welchen Weg immer die herrschenden Kreise gehen mögen, den der friedlichen Legalität, den des russischen Terrorismus oder den haltlosen Schwankens zwischen dem einen und anderen, den Klassenkampf des Proletariats werden sie nicht hindern.
Unter den Einwänden, die Lusnia gegen mich erhebt, ist noch einer zu erwähnen, der Kernpunkt des Ganzen, der seinem Artikel den Titel verliehen hat, die Behauptung, ohne die Gewalt der Waffen könne das Proletariat die politische Macht nicht erobern.
Ich hatte bemerkt:
„Wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß bewaffnete Insurrektionen mit Barrikadenkämpfen und ähnlichen kriegerischen Vorkommnissen heute noch eine entscheidende Rolle spielen können. Die Gründe dafür sind schon zu oft ausgeführt worden, als daß ich dabei noch länger zu verweilen brauchte. Der Militarismus kann nur noch dadurch gebrochen werden, daß das Militär selbst unzuverlässig erscheint, nicht dadurch, daß es vom empörten Volke besiegt wird.“
Lusnia bemängelt vor allem, daß ich die Gründe für diese Anschauung nicht weiter ausführe. Ich bin erstaunt, daß er noch Gründe dafür verlangt. Sollten sie ihm wirklich unbekannt sein, dann wird er sie in dem vielzitierten Vorwort von Friedrich Engels zu den Marxschen Klassenkämpfen in Frankreich in prägnantester Weise zusammengefaßt finden. Seitdem dieses Vorwort geschrieben worden, sind keine neuen Gesichtspunkte oder Tatsachen aufgetaucht, noch ist irgend ein Versuch der Widerlegung gemacht worden, der uns Veranlassung gäbe, die Frage nochmals zu untersuchen. Ich könnte hier nichts tun, an Engels abschreiben.
Lusnias Ausführungen selbst dienen nur dazu, den Engelsschen Standpunkt zu bekräftigen. Auch er muß zugeben, daß eine bewaffnete Erhebung des Volkes gegen das Militär heute ein Wahnsinn wäre. Wenn er annimmt, die kommende Revolution werde mit der Gewalt der Waffen ausgekämpft werden, so meint er drunter nicht einen Kampf zwischen Volk und Militär, sondern einen Kampf wischen zwei Fraktionen des Militärs, von denen die eine auf die Seite des Volkes tritt. Das ist sicher ein Fall, der vorkommen kann, aber er wäre doch nur eine besondere Form der allgemeinen Voraussetzung, „daß das Militär unzuverlässig erscheint“, und beweist nichts gegen die Unmöglichkeit, daß es, solange das nicht der Fall, „vom empörten Volke besiegt wird.“
Haben wir aber Ursache, über diese besondere Form weitere Untersuchungen anzustellen? Das Nachdenken über die Probleme der Zukunft und die Mittel ihrer Lösung ist nur dann von Bedeutung, wenn es imstande ist, Praxis und Theorie der Gegenwart zu beeinflussen, wenn seine Ergebnisse auf die Kraft und Richtung unserer Aktion, den Erfolg unserer Propaganda, die Klarheit unseres Denkens einwirken können. Da wir nicht die Absicht haben, Propaganda in der Armee zu treiben und sie zur Insubordination aufzureizen – und heute denkt in der ganzen deutschen Sozialdemokratie niemand daran – bedarf für uns die Frage, welche Formen diese Insubordination annehmen könnte und dürfte, keiner Erörterung. Dagegen ist es allerdings, wenn auch nicht für unsere Aktion, so doch für unsere Propaganda und unser theoretisches Denken heute schon von Wichtigkeit, darüber keine Unklarheit zu lassen, daß wir von einer bewaffneten Insurrektion des Volkes nichts erwarten und uns auf keinen Fall dazu provozieren lassen.
Ebenso wichtig ist aber eine andere Frage, die damit im Zusammenhang steht, die auch Lusnia streift: Wenn es ausgeschlossen erscheint, daß das Volk den Waffen der Staatsgewalt auch seinerseits mit der Gewalt der Waffen begegnet, ist es damit auch ausgeschlossen, daß das Proletariat jemals Gewalttaten der Gegner mit Gewalt abwehrte? Ist es einem Staatsstreich wehrlos preisgegeben? Verfügt es über keine andere politische Waffe, als den Stimmzettel?
Das kämpfende Proletariat gedeiht unter einer Verfassung, wie sie das Deutsche Reich besitzt, politisch in der erfreulichsten Weise. Es hat nicht die mindeste Ursache, sie in ungesetzlicher Weise gewaltsam ändern zu wollen. Aber eben deshalb muß es, je mehr seine politische Macht steigt, um so mehr darauf gefaßt sein, daß seine Gegner die bestehende Verfassung umstürzen, um an ihre Stele ein Regime gewaltsamer Niederhaltung des Proletariats und gewalttätiger Zerstörung seiner Organisationen zu setzen, ein Regime der Gewalt, das zu energischer Abwehr herausfordert.
Es ist ausgeschlossen, daß ein solches Regime dort, wo die Massen sozialdemokratisch denken, zu einer bewaffneten Erhebung des Volkes führt. Wenn es schließlich einen gewaltsamen Widerstand des Proletariats hervorrufen sollte, dann könnte dieser sie nur eines Gewaltmittels bedienen, das es heute schon in seinen ökonomischen Kämpfen so oft als letztes Mittel der Entscheidung anwendet, des Streiks.
Erwiese dieses Mittel sich von vornherein als ebenso verwerflich seiner offenbaren Erfolglosigkeit wegen, wie die bewaffnete Insurrektion, so bewiese das noch nicht, daß nun die Sache des Proletariats aussichtslos sei. Zu verzweifeln brauchten wir auch dann noch lange nicht. Das Proletariat vertritt heute so sehr die Zukunft, ja die gegenwärtigen Lebensinteressen der Nation, daß eine Regierung es nicht gewaltsam unterdrücken kann, ohne das gesamte Leben der Nation selbst einzuengen und zu lähmen – ein Zustand, der früher oder später zu einem ökonomischen oder politischen Zusammenbruch in einer jener Krisen führen muß, die keinem Staatswesen erspart bleiben. Wohl würde die Zukunft des Proletariats in diesem Falle unsicherer, mehr von äußeren Ereignissen als von seiner eigenen Kraft abhängig, jedoch unmöglich würde sein Sieg nicht.
Aber die Zuversicht des Proletariats, seine Energie wie sein Selbstbewußtsein und andererseits der Respekt vor ihm müssen erheblich wachsen, wenn es sich im Besitz einer Waffe weiß, mit der es imstande ist, aus eigener Kraft die Gewaltmittel seiner Feinde mattzusetzen. und insofern sind die Diskussionen über den politischen Streik, oder wie man auch in nicht ganz zutreffender Weise sagt, den Generalstreik, von großer aktueller Bedeutung.
So verschieden auch die Schlüsse sind, zu denen die einzelnen Teilnehmer an dieser Diskussion bisher kamen, eines haben sie jedenfalls, deutlich gezeigt: der politische Streik ist keine Waffe, die man jederzeit nach Belieben in Anwendung bringen darf, sobald nur die Organisation des Proletariats genügend ausgebaut ist. Wenn er überhaupt Erfolg haben kann, so nur unter besonderen Bedingungen.
Diese sind aber nicht an den gewöhnlichen, zu ökonomischen Zwecken unternommenen Streiks zu studieren. Denn der politische und der ökonomische Streik bedeuten zwei ganz verschiedene Dinge.
In dem letzteren ziehen die Arbeiter ihre Kraft einerseits aus der Notwendigkeit der Reproduktion für den Unternehmer, andererseits aus der Ausnutzung der Konkurrenz unter den Kapitalisten und der Gleichschaltung der Konkurrenz unter den Arbeitern.
Das stehend Kapital des Fabrikanten – Bauten, Maschinen usw. – verschleißt auch, wenn es nicht benutzt wird; mitunter wird es beim Stillstand geradezu vom Untergang bedroht, so in Bergwerken von eindringendem Wasser, wenn die Pumpen stille stehen. Manchmal sinkt auch der Gebrauchswert des Rohmaterials durch zu langes Lagern, zum Beispiel der der Zuckerrüben in Zuckerfabriken.
Aber zu diesen technischen Gründen, die eine Unterbrechung des Betriebs verlustbringend für den Kapitalisten machen, gesellen sich noch andere ökonomische. Die Höhe der jährlichen Profitsumme hängt nicht bloß vom Grade der Ausbeutung der Arbeiter an, sondern auch von der Schnelligkeit des Umschlags des Kapitals.
Nehmen wir an, von einem Kapital von 2 Millionen Mark entfallen 400.000 auf den Lohn, 1.600.000 auf das konstante Kapital während eines Umschlags – der größeren Einfachheit halber setzen wir das fixe Kapital gleich Null. Die Rate des Mehrwerts betrage 100 Prozent, seine Masse also bei jedem Umschlag auch 400.000 Mark. Schlägt das Kapital einmal im Jahre um, so wirft es einen Profit von 400.000 Mark ab. Die Profitrate beträgt daher 400.000/2.000.000 oder 20 Prozent. Schlägt das Kapital zweimal im Jahre um, so wächst die Summe des Mehrwertes auf 800.000 Mark, die Rate des Profits auf 40 Prozent, ohne daß die Ansbeutung der Arbeiter gestiegen ist. Diese ist die gleiche geblieben, die Lohnsumme aber hat sich ebenfalls verdoppelt – bei gleicher Arbeiterzahl etwa infolge regelmäßigerer und ausgiebigerer Beschäftigung der Arbeiter, Ueberstunden und Wegfall von Feierschichten. Je rascher der Umschlag des Kapitals, desto höher also der Profit. Eine jede Stillsetzung des Betriebs bedeutet aber eine Verlängerung der Umschlagszeit des Kapitals.
Neben dem Bedürfnis nach möglichst raschem Umschlag des Kapitals drückt auf den Unternehmer bei einem Streik noch die Furcht vor der Konkurrenz seiner Kollegen sowie die Solidarität seiner Arbeiter.
Die Konkurrenz wirkt auf ihn dadurch, daß die Unternehmer, bei denen nicht gestreikt wird, den Kollegen einerseits die Kunden, andererseits die besten Arbeiter wegfischen – Nachteile, die über die Zeit des Streiks hinauswirken. Die Solidarität der Proletarier äußert sich im Fernhalten des Zuzugs arbeitsloser Kameraden. sowie im Einsenden materieller Hilfsmittel, woran sich nicht bloß Berufsgenossen, sondern das gesamte Proletariat und seine Freunde beteiligen können.
Fast alle diese Faktoren stehen für die Arbeiter am günstigsten bei lebhaftem Geschäftsgang. Da suchen die Kapitalisten am meisten nach Arbeitern, da ist die Zahl arbeitsloser Streikbrecher am geringsten, da können die Streikunterstützungen am reichlichsten fließen, da kann das Kapital am raschesten umschlagen, da wird jede Störung des Reproduktionsprozesses zu einer empfindlichen Verkürzung des Profits, da kann es oft vorteilhafter sein, eine Lohnerhöhung zu gewähren, als die Produktion zu unterbrechen.
Alles das ist bekannt und wurde hier mir nochmals vorgeführt, um den Gegensatz zwischen politischem und ökonomischem Streik zu beleuchten. Alle ökonomischen Faktoren, die den Erfolg der Arbeiter begünstigen, bestehen bei einem Massenstreik um so weniger, je mehr er ein allgemeiner, ein Generalstreik wird. Dieser selbst schaltet sie aus. Der gesellschaftliche Reproduktionsprozeß wird plötzlich völlig unterbrochen; der Fabrikant wird nicht mehr seine fertigen Waren los, er kann kein Rohmaterial, keine Kohlen mehr bekommen. Welches Interesse sollte er da haben, seine Arbeiter in die Fabrik zu holen? Er braucht nicht zu fürchten, daß seine Konkurrenten sie ihm wegkapern, noch werden seine Kunden ihm untreu werden, die anderswo auch keine bessere Bedienung finden. Und die Arbeiter? Ausgenommen ungewöhnlich günstige Verhältnisse, sind die Arbeiter eines Betriebs, auch wenn sie einig vorgehen, im Nachteil dem Unternehmer gegenüber. Wenn es ihnen nicht gelingt, im ersten Anlauf Erfolge zu erzielen, wenn sie zu einer hartnäckigen Belagerung gezwungen sind, werden sie selten den Sieg erringen, es sei denn, daß den Arbeitern des einen Unternehmens die Kollegen der benachbarten Betriebe, den Arbeitern einer Oertlichkeit die Kollegen der ganzen Branche im ganzen Lande, den Arbeitern einer Branche das gesamte Proletariat des Staates, unter Umständen der Welt, zur Seite steht. Diese Unterstützungen mit Ausnahme der letztgenannten, sind bei einem Streik aller Gewerbszweige in einem Lande ausgeschlossen.
Freilich, der Gedanke, das ganze ökonomische Leben der kapitalistischen Gesellschaft mit einem Male stillsetzen und damit diese unmöglich zu machen, ist sehr faszinierend. Aber man vergesse nicht, daß ein Massenstreik nicht bloß die kapitalistische Produktion, sondern, solange er dauert, jede Produktion aufhebt. Am Fortgang der Produktion sind aber die Arbeiter noch weit mehr interessiert an die Kapitalisten, denn diese sind nicht bloß im Besitz der Produktionsmittel sondern auch aller größeren Vorräte an Konsumtionsmitteln. Die Kapitalisten können daher bei einer allgemeinen Stockung der Produktion länger aushalten als die Arbeiter; diese sind ganz außerstande, jene auszuhungern. Ein nationaler Massenstreik von einer Dauer, die etwa der des Crimmitschauer Streiks nahe käme, wäre ganz unmöglich. Siegt er nicht in der ersten Woche, dann sind die Vorräte der Arbeiter und der ihnen kreditierenden Kleinhändler erschöpft, dann müssen sie sich entweder unterwerfen oder die bestehende Rechtsordnung durchbrechen, sich gewaltsam in den Besitz von Lebensmitteln setzen. Damit wäre aber der Boden des ökonomischen Streiks, der Revolution der gekreuzten Arme, verlassen und der der Insurrektion betreten.
Wohl gibt es heute schon Streiks, die aufhören, rein ökonomische zu sein, die dort, wo ihr direkter ökonomischer Dreck auf eine Unternehmerschicht sich unwirksam erweist, einen indirekten, gesellschaftlichen, namentlich politischen gegen sie erzeugen, durch den der Streik das erreicht, was er direkt nicht zu erreichen vermochte. Solche Streiks kommen namentlich dort vor, wo Arbeiterschichten mit großen Monopolisten in Kampf geraten. Die Position der letzteren ist eine viel zu starke, als daß der Streik sie erschüttern könnte. Aber dieser erzeugt soviel Unheil in den verschiedensten Gesellschaftsschichten und die Ausnahmsstellung der Monopolisten schafft ihnen in der bürgerlichen Gesellschaft so viele Feinde, daß der Staat oder die Gemeinde leichter als sonst durch den Streik veranlaßt werden, die Forderungen der Streikenden den Monopolisten durch die Gesetzgebung aufzuzwingen, um so weiteren gesellschaftlichen Schädigungen vorzubeugen.
Ein Beispiel dieser Art bietet der große Streik der österreichischen Kohlengräber im Winter 1900. Oekonomisch ging er verloren. Die Kohlenbarone konnten ihn ruhig aushalten. Aber er brachte so gewaltige Störungen für die Industrie mit sich und der Extragewinn, den die Kohlengrubenbesitzer jahraus jahrein auf Kosten der Bevölkerung erzielen, ist so enorm, wirkt so erbitternd, daß sie auch in bürgerlichen Kreisen nur wenige Freunde haben und der österreichische Reichsrat sich schließlich bereit finden ließ, um einer Wiederkehr des Streiks vorzubeugen, wenigstens den Neunstundentag für die Kohlengräber zu bewilligen. Es war dies ein bemerkenswertes Resultat der Vereinigung von politischer und gewerkschaftlicher Aktion. Jede für sich allein wäre erfolglos gewesen. Die sozialdemokratische Fraktion hätte sich im Reichsrat heiser reden können zugunsten der Verkürzung des Arbeitstages in den Kohlenminen, sie hätte tauben Ohren gepredigt ohne den Streik. Dieser wieder hätte resultatlos geendet ohne das Eingreifen der sozialdemokratischen Abgeordneten, die nicht ruhten, als bis Regierung und Majorität die Versprechungen, die sie in der Zeit der größten Kohlennot getan, wenigstens einigermaßen erfüllten.
Einen ähnlichen Zweck verfolgen viele Sympathiestreiks und anarchistische Generalstreiks. Wenn eine Arbeiterschicht nicht stark genug ist, mit ihren Unternehmern fertig zu werden, dann stellen in anderen Erwerbszweigen die Arbeiter oft die Arbeit ein, entweder, um die Stillsetzung der Produktion in den ursprünglich betroffenen Betrieben wirksamer zu gestalten; das ist z. B. der Fall, wo Transportarbeiter sich weigern, von Streikbrechern hergestellte Produkte weiter zu befördern; der Sympathiestreik kann aber auch darüber hinausgehen und einen mehr allgemeinen, politischen Charakter annehmen, wenn er darauf hinausgeht, der ganzen bürgerlichen Gesellschaft Unbequemlichkeiten und Verluste zuzufügen, um sie zu zwingen, einen Druck auf die widerspenstige Unternehmerschicht auszuüben.
Diese Generalstreiks werden oft mit dem politischen Massenstreik zusammengeworfen, aber sie haben mit ihm nur die Aeußerlichkeit gemein, daß in beiden Fällen große Arbeitermassen der verschiedensten Berufe die Arbeit niederlegen. Ihre Aufgaben sind aber sehr verschieden. Beim Sympathiestreik der weitergehenden Art handelt es sich darum, den ökonomischen Druck streikender Arbeiter auf eine besondere Unternehmerschicht zu vermehren durch den Druck der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates, einen Druck, der daraus entsteht, daß die bürgerliche Gesamtheit bei einem Nachgeben der einzelnen Unternehmer nur zu gewinnen, nicht zu verlieren hat. Beim politischen Massenstreik wird umgekehrt ein ökonomischer Druck auf die Unternehmer ausgeübt, um nicht sie, sondern die bürgerliche Gesellschaft und den Staat zur Kapitulation vor den Arbeitern zu zwingen.
Der politische Streik ist also ein Streik ganz eigener Art, bei dem uns die Erfahrungen anderer Arbeitseinstellungen sehr wenig nutzen. Außer den belgischen und holländischen Beispielen steht uns kein Erfahrungsmaterial darüber zu Gebote. Das Mittel ist aber zu gefährlich, als daß man zu bloßem Experimentieren damit raten könnte. Wir müssen daher versuchen, ob nicht die gegebenen Erfahrungen genügen, zu bestimmten Resultaten zu kommen. Wir dürfen dabei sehr gefördert werden, wenn wir in die Untersuchung die Erfahrungen der Barrikadenkämpfe einbeziehen, welche zu ersetzen ja die Aufgabe des politischen Streiks ist.
Bei der Vergleichung des politischen Streiks mit dem Barrikadenkampf fällt vor allem eine übereinstimmende Seite auf. Beide wirken nicht durch denjenigen Faktor, der auf dem Gebiet, dem jede dieser Kampfarten entnommen worden, der entscheidende ist. Wenn der politische Streik keine Aussicht hat, durch den ökonomischen Druck zu wirken, den er ausübt, so haben sich die Barrikadenkämpfer, auch wo sie siegreich waren, fast nie dem Gegner taktisch überlegen gezeigt. Nicht nur durch die Bewaffnung sind geschulte Truppen dem Volksaufstand überlegen, sondern auch durch ihre Organisation, die ihre Disziplin wie ihre planmäßige Leitung in sich begreift. Die Ueberlegenheit organisierter über unorganisierte Massen ist eine enorme, auch bei Gleichheit der Bewaffnung. Wenn die 10.000 griechischen Söldner, die sich dann durch ihren Rückzug unter Xenophon unsterblich machten, siegreich den Kampf gegen eine halbe Million Asiaten bestanden, dankten sie das nicht oder doch nur unendlich wenig ihrer überlegenen Bewaffnung, sondern ihrer geschlossenen Organisation. An letzterer lag es auch viel mehr als an der besseren Bewaffnung, daß die Landsknechte mit den aufständischen Bauern 1525 fertig wurden.
Viel mehr als die physische Uebermacht bildet die überlegene Organisation des Herrschaftsapparats die Grundlage jeder Herrschermacht. Das zeigt am deutlichsten die gebietende Stellung, welche die katholische Kirche ohne Waffengewalt und gegen sie im Staatsleben erlangt hat und noch behauptet.
Je mehr Selbständigkeit die Staatsgewalt gegenüber der Gesellschaft erlangt, je absoluter sie wird, um so eifersüchtiger strebt sie daher danach, den Untertanen alle Möglichkeiten zu einer ausgedehnten vom Staate unabhängigen Organisation zu nehmen. Aber sie kann dabei nur dort Erfolg haben, wo die sozialen Verhältnisse ihr nicht entgegenwirken, denn diese sind am Ende immer noch mächtiger wie sie. Wo die Produktionsweise selbst die Bevölkerung isoliert und zerstreut, ihre Organisation erschwert, dabei aber die Bildung eines ausgedehnten staatlichen Organismus begünstigt, da gedeiht der Absolutismus, zum Beispiel in den großen Agrarstaaten, die sich auf weiten Ebenen bilden, denn der Bauer kommt über die dörfliche Organisation nicht hinaus. Wo dagegen die Produktionsweise nicht bloß ausgedehnte Staaten schafft, sondern auch die Bevölkerung zentralisiert, große Massen mit gleichen Interessen und lebhaftem Gedankenaustausch an einigen wenigen, für das nationale Leben entscheidenden Punkten zusammendrängt, da ist es schwer, die Organisierung der Bevölkerung zu verhindern, da bildet sich, wenn ihre formelle, öffentliche Oganisierung verboten ist, leicht eine stillschweigende, geheime, die um so energischer, ja fanatischer wird, je mehr die Organisation eine Lebensfrage für die betreffende Klasse bedeutet. Der politische Druck, die staatliche Auflösung aller Organisationen kann da unter Umständen geradezu ein Band werden, das die unterdrückte Klasse enger zusammenhält als jede öffentliche Organisation; ein Band, das die Einheitlichkeit ihres Denkens und Wollens ebenso wie den freiwilligen Gehorsam gegenüber ihren Vorkämpfern aufs höchste steigert und aufs weiteste verbreitet, und zwar in einer für die Herrschenden unkontrollierbaren Weise.
Die auf freiwilliger und begeisterter Hingebung beruhende Form der Organisation ist aber ihre stärkste Form; es ist jene, mit der die Kirche ihre glänzendsten Triumphe erfocht. Lange nicht so kraftvoll und widerstandsfähig – bei gleichen Machtmitteln – ist die Form der Zwangsorganisation, wie sie die moderne Staat darstellt, und zwar immer mehr darstellt, da er immer weniger eine Organisation der herrschenden Klassen, sondern eine diesen dienende Organisation bezahlter, überwiegend schlecht bezahlter, zum Teil zwangsweise in ihren Dienst gepreßter Elemente darstellt. Und deren Zusammensetzung wird immer ungünstiger für die herrschenden Klassen.
Betrachten wir zum Beispiel die Armee unter der allgemeinen Wehrpflicht. Am zuverlässigsten für die herrschenden Klassen sind die vom Lande Stammenden, die von Hause aus unorganisiert, dank ihrer traditionellen Produktionsweisen und ihrer Isolierung gedankenträge und durch die bäuerlichen Verhältnisse, namentlich das bäuerliche Erbrecht, noch in den patriarchalischen Anschauungen, der Ehrfurcht vor jeder Art väterlicher Autorität befangen sind. Am unzuverlässigsten erweisen sich die industriellen Proletarier, die durch Großindustrie und städtisches Leben organisiert, mit dem Gefühl der Selbständigkeit und lebhaftem geistigen Leben begabt und durch ihre frühzeitige ökonomische Unabhängigkeit mit Geringschätzigkeit, ja Widerspenstigkeit gegen alle überkommenen Autoritäten erfüllt werden. Da ist es für die moderne Staatsgewalt sehr bedenklich, daß die Menge der bäuerlichen Elemente ebenso wie in der Gesellschaft auch in den Armeen rasch zurückgeht.
Nach einer Denkschrift des Reichskanzlers war das Ergebnis des Heeresergänzungsgeschäfts im Jahre 1902 folgendes:
Gruppen |
|
Zahl der |
Von je 100 Tauglichen |
Von je 100 abgefertigten |
|
---|---|---|---|---|---|
I. |
Auf dem Lande geboren: |
|
|||
|
a) In Land- oder Forstwirtschaft beschäftigt |
75.606 |
25,72 |
58,64 |
|
b) Anderweit beschäftigt |
110.389 |
37,55 |
58,40 |
||
I zusammen |
185.995 |
63,27 |
58,50 |
||
II. |
In der Stadt geboren: |
|
|||
|
a) In Land- oder Forstwirtschaft beschäftigt |
10.697 |
3,64 |
58,52 |
|
b) Anderweit beschäftigt |
97.263 |
33,09 |
53,52 |
||
II zusammen |
107.960 |
36.73 |
53,97 |
||
I und II zusammen |
293.955 |
100,00 |
56,75 |
Es lieferten also infolge der verelendenden Wirkungen des kapitalistischen Industrialismus, die auf dem Lande geborenen, in der Landwirtschaft beschäftigten Elemente von den Militärpflichtigen ihrer Gruppe 58,64 Proz., die in der Stadt geborenen und nicht in der Landwirtschaft beschäftigten nur 53,52 Proz. Taugliche. Trotzdem waren doch von je 100 Tauglichen nur 29,36 Proz. in der Landwirtschaft beschäftigt. Das ist um so auffallender, als noch 1895 die landwirtschaftliche Bevölkerung 35,74 Proz. der Gesamtbevölkerung ausmachte. Wenn dennoch 1902 nur 29,36 Proz. der Tauglichen aus der Landwirtschaft hervorging, so ist das teils dadurch zu erklären, daß die landwirtschaftliche Bevölkerung seit 1895 weiter zurückgegangen ist (1882 betrug sie noch 42,51 Prozent), teils daraus, daß der Landwirtschaft gerade die rüstigsten Elemente am ehesten entfliehen, Kinder und Greise bei ihr daher verhältnismäßig mehr überwiegen als in der städtischen Bevölkerung. Von den männlichen Erwerbstätigen der Industrie standen 1895 27,01 Proz. im Alter von 20 bis 30 Jahren; von denen der Landwirtschaft bloß 18,96. Daher kommt es, daß die industrielle Bevölkerung in der Armee noch mehr überwiegt, als man nach ihrer verhältnismäßigen Größe annehmen sollte. Und auch hier finden wir wieder, daß die Verschiebung zugunsten der industriellen Bevölkerung fortschreitet. 1882 standen noch 20,19 Proz. der männlichen Erwerbstätigen der Landwirtschaft im Alter von 20 bis 30 Jahren, 1895 nur noch 18,96. Dagegen betrug diese Prozentzahl für die männlichen Erwerbstätigen der Industrie 1882 26,76, 1895 schon 27,01. [2]
Die Tendenzen der Entwickelung lassen sich noch auf anderem Wege erkennen, wenn man die Truppenkörper aus industriell rückständigen mit denen aus industriell vorgeschrittenen Landesteilen vergleicht, etwa die Zusammensetzung des 1. Bayerischen Armeekorps, das sich aus der „deutschen Vendee“ rekrutiert (Oberbayern, Niederbayern und Schwaben), mit der des 7. Preußischen (Westfalen, Rheinprovinz) und des 2. Sächsischen (Leipzig, Chemnitz, Zwickau). Wir finden da:
|
In der Landwirtschaft |
|||
---|---|---|---|---|
Armeekorps |
Taugliche |
Absolut |
In Prozent |
|
1 . Bayerisches |
|
11.041 |
4.560 |
41,5 |
7. Preußisches |
34.959 |
5.810 |
16,6 |
|
2. Sächsisches |
11.884 |
1.817 |
15,5 |
Die letzteren sind bedenkliche Zahlen für jene, die einzig auf den „antikollektivistischen Bauernschädel“ pochen. [3]
Aber ncht bloß die soziale Zusammensetzung der Armee verschlechtert sich für die Herrschenden immer mehr.
Der Regierungsmechanismus wird heute auch immer abhängiger von dn um Lohn arbeitenden Klassen. Die ganze ökonomische und politische Entwickelung drängt dahin, immer mehr Betriebe zu verstaatlichen und das ganze staatliche Leben immer mehr durch das ungestörte Funktionieren dieser Betriebe zu bedingen. Vor allem gehört dazu das Transportwesen.
Je mehr die Warenproduktnon sich entwickelt, je mehr jeder nicht das produziert, was er braucht, sondern das, was er nicht braucht, um es zu verkaufen, um so mehr wächst die Menge der Konsumgegenstände, die einen Transport durchmachen müssen, ehe sie in die Hände des Konsumenten kommen. In gleicher Richtung wirkt die Arbeitsteilung unter den Betrieben. Es wächst die Zahl der Betriebe, die ein Produkt von der Form des Rohstoffs an durchlaufen muß, bis es gebrauchsfertig vorliegt. So sind Handel und Transport die Berufe, die am meisten wachsen. Im Deutschen Reiche nahmen von 1882 bis 1895 die Erwerbstätigen in Handel und Verkehr um 49 Proz. zu, in der Industrie um 29 Proz., während sie in der Landwirtschaft sogar eine Kleinigkeit abnahmen (0,23 Proz.). Im Eisenbahnbetrieb wuchsen sie um 53 Proz., im Post- und Telegraphenbetrieb um 89 Proz. [4]
Gerade im Transportwesen entwickelt sich aber auch zuerst der moderne Riesenbetrieb, der unter die Botmäßigkeit der hohen Finanz fällt. Wo die letztere nicht unumschränkt herrscht, da sucht bald die Staatsgewalt sich dieser Betriebe zu bemächtigen, wegen der hohen Bedeutung, die sie für das ganze staatliche Leben, namentlich auch für die Entwickelung seiner militärischen Kräfte, haben. Es ist bezeichnend für Frankreich, daß es mit der Verstaatlichung der Eisenbahnen ebensowenig vom Fleck kommt, wie mit der Einkommensteuer; trotz der Anwesenheit von Sozialisten im „Regierungsblock“ herrscht dort eben die hohe Finanz unumschränkt.
Doch mag der Eisenbahnbetrieb ein privater oder staatlicher sein, sein ungestörter Fortgang wird immer mehr zu einer Lebensfrage für die modernen Staaten, die Eisenbahner werden daher einer immer strengeren Disziplin unterstellt, indes gleichzeitig immer mehr militärische Kräfte geschult werden, den Eisenbahndienst zu versehen. Aber gerade die Eisenbahner sind neben den Arbeitern der fiskalischen Bergwerke von allen großen Schichten der Lohnarbeiter am unmittelbarsten an der Herbeiführung einer vom Proletariat abhängigen Regierung interessiert, sie bekommen es am unmittelbarsten zu fühlen, wenn eine Regierung dem Proletariat feindselig gegenübersteht.
Andererseits wird eine Regierung unter sonst gleichen Umständen um so kapitalistischer empfinden, je größer die Zahl der Staatsbetriebe und der von ihr ausgebeuteten Arbeiter, je direkter ihr Interesse am kapitalistischen Profit.
Die zunehmenden Verstaatlichungen von Betrieben sind also zunächst nicht ein mittel friedlichen Hineinwachsend in den Sozialismus, sondern eines, die modernen Klassengegensätze und Klassenkämpfe in den Regierungsmechanismus selbst hineinzutragen und ihn dadurch um so empfindlicher zu machen.
In den Tagen der Barrikadenkämpfe war der Staat noch nicht so abhängig von den Lohnarbeitern in seinen Betrieben und seiner Armee und noch nicht so empfindlich. Aber auch damals schon beruhten die Erfolge des Barrikadenkampfes viele mehr auf seinen desorganisierenden als seinen taktischen Wirkungen. Durch die Plötzlichkeit und die Allgemeinheit des Aufflammens der Volkswut wirkte er verwirrend und lähmend auf Haupt und Glieder der Regierung, während er gleichzeitig für diese eine Situation schuf, in der sie ihrer größten Kraft, Kaltblütigkeit und Einheitlichkeit bedurfte. Wo es ihm nicht gelang, diese Wirkung hervorzurufen, vor allem dort, wo die Regierung auf ihn gefaßt war oder gar ihn provozierte, unterlagen die Barrikadenkämpfer unfehlbar. Welcher Gegensatz 1848 in Paris zwischen den Tagen des Februar und denen des Juni, in Wien zwischen denen des März und denen des Oktober!
Heute durch bewaffneten Widerstand die Regierung aus dem Sattel zu heben, ist selbst dem schwächsten und kopflosesten Regime gegenüber unmöglich geworden angesichts der modernen Bewaffnung. Es sind heute nicht nur die Waffen des Militärs weit furchtbarer als vor fünfzig Jahren, die Bevölkerung ist auch weit wehrloser. Heutzutage kann man sich nicht selbst die Kugeln zu den Gewehren gießen; selbst wenn es gelingt, in einem Zeughaus Gewehre zu erbeuten, sind sie nutzlos ohne die besonderen Patronen dazu.
Dies Bewußtsein der kriegstechnischen Ueberlegenheit läßt heute jede Regierung, welche die erforderliche Rücksichtslosigkeit besitzt, einem bewaffneten Volksaufstand ruhig entgegensehen – und eine weniger rücksichtslose hat ihn nicht mehr zu fürchten, da sie nicht in einen so schroffen Gegensatz zu den Volksmassen treten wird, der allein imstande ist, einen gewaltigen Ausbruch der äußersten Verzweiflung zu provozieren. Es ist daher nicht zu erwarten, eine bewaffnete Erhebung des Volkes könnte noch jene gewaltige moralische Wirkung hervorbringen, die notwendig ist, die Regierung kopflos zu machen und ihre Werkzeuge zu erschüttern.
Was dem Barrikadenkampf nicht mehr gelingt, soll nun der politische Streik herbeiführen, die Regierung zu desorganisieren, indes er gleichzeitig die höchsten Ansprüche an ihre Kraft, Besonnenheit und Konsequenz stellt, und sie so zum Rückzug zu nötigen oder zur Abdankung zu zwingen. Er wird zu einer Kraftprobe zwischen staatlicher und proletarischer Organisation. Mit einem Schlage wird die ganze Produktion stillgesetzt, werden die Massen der Arbeiter auf die Straße gebracht, wird die Masse des großen und kleinen Bürgertums in wahnsinnige Angst versetzt, Angst ums Leben, Angst ums Eigentum, wird die ganze bewaffnete Macht zu ständiger, aufreibender Tätigkeit gezwungen, da jeder Besitzende im Lande nach ihrem Schutze verlangt und die Masse der feiernden Arbeiter überall und nirgends ist, jedem Zusammenstoß mit der bewaffneten Macht ausweicht, überall sich sammelt, wo diese nicht vorhanden ist. Jeder weitere Tag des Streiks steigert die Gegensätze, erweitert die Ausdehnung des Streiks auf jene Gegenden des flachen Landes, wo Industrie oder Großgrundbesitz vorkommen, vermehrt die Zahl der gefährdeten Punkte, vergrößert die Anstrengungen der Truppen, verschärft die Leiden und Leidenschaften der Streikenden, die Angst der Besitzenden, den Wirrwarr der Regierung, die hier fortgerissen wird zu den grausamsten und sinnlosesten Brutalitäten und dort zu furchtsamer Nachgiebigkeit, von allen Seiten fortgesetzt bestürmt, ein Ende zu machen, ob so oder so, ohne daß sie doch eine Handhabe hätte, den passiven Widerstand irgendwie zu packen, der nirgends greifbar ist und sie doch an allen Ecken und Enden lähmt.
Ist die Regierung stark genug, trotz alledem standzuhalten, ohne daß ihre Werkzeuge versagen und der Regierungsmechanismus in Unordnung gerät, gelingt es ihr, in dem allgemeinen Stillstand des gesellschaftlichen Lebens das ungestörte Funktionieren aller Teile des Staatsorganismus für solange zu sichern, bis die Kraft der Arbeiter erlahmt, bis diese vor die Alternative gestellt sind, entweder wieder unter das Joch zu kriechen oder durch verzweifelnde Gewalttat den Erfolg zu suchen, den sie durch die Revolution der gekreuzten Arme nicht zu erringen vermochten, dann ist der Sieg der Regierung wahrscheinlich, allerdings ein Sieg, der in diesem Falle sehr teuer erkauft sein dürfte. Alle Schrecknisse, welche die Bourgeoisie von dem siegreichen Streik befürchtet, dürfte seine Niederlage über sie verhängen.
Gelingt es den Streikenden dagegen, solange ihren Zusammenhalt und ihre zielbewußte Passivität zu bewahren, bis sie die Regierungsgewalt an irgendeinem Punkte desorganisiert haben, sei es, indem es ihnen gelingt, Faktoren, deren die Regierung bedarf, zu sich herüberzuziehen, sei es, daß die Regierung selbst durch Ordre, Kontreordre, Desordre Verwirrung sät, Schwäche und Ratlosigkeit unter ihrem Anhang erzeugt, dann ist das Proletariat auf dem Wege zum Siege; die Besitzenden verlieren dann die Zuversicht, daß die Regierung sie schützen könne, es wächst bei ihnen die Furcht, jede Fortsetzung des Widerstandes könne ihnen Verderben bringen, sie bestürmen die Regierungsgewalt, nachzugeben, sie lassen sie im Stiche, um mit den aufsteigenden Gewalten zu paktieren und zu reiten, was zu retten ist; die Regierung verliert jeden Boden unter den Füßen und die Staatsgewalt fällt derjenigen Klasse zu, die ihren organisatorischen Zusammenhalt in dieser Krise am längsten zu wahren wußte, deren Ruhe und Zuversicht der großen, indifferenten Masse am meisten imponierte, die durch ihre besonnene Kraft selbst ihre Gegner entwaffnete: dem sozialdemokratisch geschulten Proletariat.
Soll das Proletariat durch einen politischen Streik siegen können, so ist also vor allem erforderlich, daß es einen überwiegenden Teil der Bevölkerung bildet, intelligent und zu einem großen Teile so fest organisiert ist, daß es Disziplin und Zusammenhalt auch dann zu wahren versteht, wem seine Organisationen formell aufgelöst sind, daß es aus seiner Mitte immer wieder neue Führer erzeugt, denen es willig folgt, wenn seine gewohnten Vorkämpfer verhaftet sind; daß es sich nicht durch Verlockungen oder Aufreizungen zu unklugen und voreiligen Schritten, zu keinem Wutausbruch und keiner Panik fortreißen läßt und nicht über kleinen Nebendingen seine großen Ziele vergißt. Die Industrie muß sehr entwickelt sein, das Proletariat muß eine lange Schule politischer und gewerkschaftlicher Kämpfe hinter sich haben, ehe es soweit kommt.
Andererseits muß die Regierung gewisse Kennzeichen aufweisen, soll der Streit sie erschüttern können. Dies ist von vornherein ausgeschlossen bei einer Regierung, die vom Volk gewählt ist und sich nicht auf äußere, durch einen Streik zu desorganisierende Machtmittel stützt, sondern auf die Mehrheit des Volkes selbst. In der Schweiz zum Beispiel wäre der Versuch, die politische Gewalt durch einen Massenstreik ins Wanken zu bringen und zu erobern, ebenso aussichtslos wie überflüssig. Da der politische Streik nur durch seine desorganisierenden Wirkungen auf die Regierung, nicht durch seinen ökonomischen Druck auf die Gesellschaft zu siegen vermag, kann er nur dort am Platze sein, wo die Regierungsgewalt zu einer gewissen Selbständigkeit der Volksmasse gegenüber gelangt ist, wie das in allen modernen Großstaaten der Fall ist. Aber auch in solchen Staaten hat das streikende Proletariat nur dann Aussicht auf Erfolg, sobald es einer, wenn auch äußerlich starken, brutalen, so doch innerlich schwachen und kopflosen Regierung gegenübersteht, die sogar bei den Besitzenden, ja selbst jn der Bureaukratie und Armee kein Zutrauen mehr genießt. Eine starke, weitblickende Regierung, die allen Volksklassen imponiert, ist durch einen politischen Streik kaum zu besiegen.
Zum Glücke für das Proletariat zeigt die moderne Entwickelung allenthalben die Tendenz die Regierungen zu schwächen und alle Klassen mit ihnen unzufrieden zu machen. Das ist kein Zufall. Solange die Staatsgewalt große Ziele hat, die im Interesse der Masse der Nation liegen, erzeugen ihre Kämpfe leicht große Männer, hinter denen geschlossene, große Parteien stehen. Ganz anders dort, wo die Staatsgewalt und die hinter ihr stehenden Klassen im wesentlichen alles erreicht haben, was sie brauchen, wie das heute der Fall. Es gibt kein großes, gemeinsames Interesse mehr, das diese Klassen zusammenschweißen könnte, die kleinen lokalen und beruflichen Sonderinteressen kommen in den Vordergrund, die Parteien der besitzenden Klassen spalten sich immer mehr in kleine, kurzsichtige Cliquen. Die Regierungen aber werden immer mehr zu Koalitionsregierungen, deren Aufgabe nicht mehr darin besteht, ein großes Programm durchzuführen, sondern darin, die auseinanderstrebenden Elemente unter einen Hut zu bringen, was nur möglich ist in der Weise, daß man jede zum Verzicht auf den Rest ihres traditionellen Programms veranlaßt, daß man also ihre gesetzgeberische Unfähigkeit steigert und ihre ganze Kraft auf irgendeine naheliegende Maßregel konzentriert – etwa einen Zolltarif oder die polizeiliche Austreibung von ein paar Pfaffen und Nonnen, worüber alles andere vernachlässigt wird.
In einer solchen Atmosphäre können energische und weitblickende Männer der Tat nicht gedeihen; sie begünstigt rückgratlose Schmeichler, Meister in der Kunst des Verschiebens und Vertuschens, die bereit sind, den widersprechendsten Tendenzen anscheinend, durch Versprechungen, zu dienen, und die in ihrem Handeln nur für den nächsten Tag sorgen, unbekümmert um seine ferneren Konsequenzen. Es sind glatte Diplomaten, oft nicht ohne Intelligenz, stets sehr liebenswürdig, gewandt in der Kunst, jeden zu gewinnen, mit dem sie zu tun haben, aber unfähig, irgendeinen großen Gegensatz zu überwinden, irgendein großes Interesse auf die Dauer zu befriedigen; unfähig auch, den Untergebenen durch ihre Ueberlegenheit an imponieren. Es sind ganz bequeme Steuermänner für die Zeit des Sonnenscheins und leiser Zephire. Aber sie versagen im Sturme, und sie müssen ihre Autorität schon vor seinem Ausbruch völlig abgenutzt haben angesichts der Widersprüche, denen sie dienen, die sie nicht zu überwinden, sondern nur zu überkleistern suchen.
Je unerwarteter und plötzlicher der Sturm hereinbricht, desto ratloser werden sie ihm gegenüberstehen. Hier kommen wir n einer zweiten Aehnlichkeit der Barrikadenschlacht mit dem politischen Streik. Wir haben gesehen, daß es bei jener wie bei diesem auf die moralische Wirkung, auf die plötzliche Desorganisation der Regierung ankommt. Da dies, und nicht die taktische Ueberwindung des Heeres das Entscheidende bei der Barrikadenschlacht war, hatte sie nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie unvermutet losbrach, ohne daß die Regierung Zeit fand, ihre Vorbereitungen zu treffen. Das war aber in der Regel nur bei spontanen Erhebungen der Fall, in denen das Volk von selbst, einer plötzlichen Eingebung folgend, auf die Barrikaden stieg. Nicht immer ohne jede Organisation und Leitung. In Frankreich wurde dies zum großen Teile durch die geheimen Gesellschaften besorgt. Wo aber solche Geheimbünde den Ausbruch nicht bloß benutzten und ihn leiteten, sondern ihn von langer Hand vorbereiteten und in Szene setzten, da wurden sie nur zu leicht niedergeschlagen; hat doch die politische Polizei überall ihre Spione, und so erfuhr auch die Regierung in der Regel rechtzeitig von dem Vorhaben. Auch fiel der von vornherein festgesetzte Zeitpunkt der Erhebung nicht immer zusammen mit einer starken, oppositionellen Erregung der Volksmassen.
Aehnlich steht’s mit dem politischen Streik, wenn es richtig ist, daß er nicht durch seinen ökonomischen Druck auf die Kapitalisten, sondern durch seine lähmende und verwirrende Wirkung auf den Regierungsmechanismus den Sieg herbeiführt. Je unerwarteter der Streik, je spontaner, desto eher wird er diese Wirkung erzielen. Was von jedem Streik gilt, trifft am meisten für den politischen zu: der beste Teil seiner Wirkung ist dahin, wenn man ihn vorher für einen bestimmten Termin ankündigt. Diese Ankündigung hat nur dann einen Zweck, wenn man nicht die ernste Absicht hat, den Streik wirklich durchzuführen, wenn man ihn bloß als Drohung benutzen will. Aber solche Drohungen nutzen sich nur zu rasch ab, und wenn ihnen nicht die entscheidende Tat folgt, müssen sie Entmütigung und Mißtrauen in den eigenen Reihen säen.
Der politische Streik hat dann die meiste Aussicht auf Erfolg, wenn er spontan ans einer gegebenen Situation herauswächst, welche die gesamte Volksmasse in die tiefste Erregung versetzt hat – etwa ein großes, ihr zugefügtes Unrecht, ein Staatsstreich oder etwas Aehnliches –, so daß sie bereit ist, alles zu wagen und ein Losungswort, wie das der Arbeitseinstellung, gleich einem Zündfeuer durch sie läuft, alles mit sich fortreißend und durch die Plötzlichkeit, Allgemeinheit und Wucht der Eruption die Gegner einschüchternd, verwirrend, lähmend.
Nichts irriger als die Anschauung, die gesamte Arbeiterschaft müßte erst gewerkschaftlich organisiert sein, ehe man den politischen Massenstreik beginnen könnte. Diese Voraussetzung würde nie eintreffen, sie hätte aber auch nur einige Berechtigung für den Fall, daß man durch den ökonomischen Druck einer langwierigen Arbeitseinstellung den Gegner besiegen wollte. Gilt es ihn durch einen moralischen Chok zu lähmen, dann ist dazu nicht allgemeine Organisation, wohl aber allgemeine Erregung der Proletariermassen in gleicher Richtung erforderlich – eine Erregung, die freilich erfolglos verliefe, wenn hinter ihr nicht eine Organisation oder doch eine durch die Schule der Organisation gegangene Arbeiterschaft stände, die der Bewegung Gehirn und Rückgrat verliehe.
Mit den entsprechenden Aenderungen darf vom politischen Streik gesagt werden, was Marx 1852 von der bewaffneten Erhebung schrieb:
„Der Aufstand ist eine Kunst, ebenso wie der Krieg oder andere Künste, und gewissen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigung zum Verderben der Partei führt, die sich ihrer schuldig macht ... Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht entschlossen ist, allen Konsequenzen des Spieles Trotz zu bieten. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Wert sich jeden Tag ändern kann; die Streitkräfte, gegen die man zu kämpfen hat, haben den Vorteil der Organisation, Disziplin und herkömmlichen Autorität ganz auf ihrer Seite; kann man nicht große Gegenmächte dagegen aufbringen, so wird man geschlagen und vernichtet. Zweitens, ist der Aufstand einmal begonnen, dann handle man mit der größten Entschiedenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jeder bewaffneten Erhebung; diese ist verloren, ehe sie sich noch mit dem Feinde gemessen hat. Ueberrasche die Gegner, solange ihre Truppen zerstreut sind, sorge täglich für neue, wenn auch kleine Erfolge; halte das moralische Uebergewicht fest, das die erste erfolgreiche Erhebung dir gebracht; ziehe jene schwankenden Elemente an dich, die immer dem stärksten Anstoß folgen und sich immer auf die sichere Seite schlagen; zwinge deine Feinde zum Rückzug, bevor sie ihre Kräfte gegen dich zusammenfassen können; kurz, nach den Worten Danton des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik: Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit.“ (Revolution und Kontrerevolution in Deutschland, S. 117, 118)
Mutatis mutandis gilt das auch vom politischen Streik. Man spiele nicht mit ihm, verpflichte sich nicht, ihn zu einem bestimmten Termin in Szene zu setzen; wenn dann die Zeit für ihn gekommen ist, wenn die Arbeitermassen energisch danach verlangen und der Kampf gegen die Regierung entbrannt ist, dann winkt der Sieg um so eher, je rascher auf den Beschluß, zu streiken, die Ausführung folgt, ohne Zögern, ohne Parlamentieren, ohne Beschwichtigen, ehe die Gegner ihre Machtmittel gesammelt und ihren Feldzugsplan entworfen haben; er winkt um so eher, je weniger man es zuläßt, daß sie zur Besinnung kommen und frei aufatmen.
Der belgische Generalstreik vom April 1902 zeigte uns in dieser Beziehung, wie es nicht gemacht werden darf. Zuerst wurde der Regierung ein Kampf auf Leben und Tod für einen bestimmten Termin angekündigt, dann, nachdem man ihr Zeit gelassen, sich zu sammeln und zu waffnen, Streitkräfte zusammenzuziehen, nachdem sie ihre Rüstung vollendet, ließ man den allgemeinen Streik beginnen.
Fern sei es von uns den belgischen Genossen aus diesen Fehlern einen Vorwurf zu machen. Sie haben sich trotzdem so glänzend geschlagen und einen so geordneten Rückzug angetreten, daß sie damit ihre Fehler soweit wettmachten, als es möglich war. Und hinterdrein, sowie für den Zuseher, ist es immer leichter, Fehler zu entdecken, als für den Handelnden, sie zu vermeiden. Aber der Wunsch, unseren belgischen Genossen jeden Vorwurf zu ersparen, darf nicht soweit gehen, ihre Fehler zuzudecken, da wir sonst Gefahr laufen, dieselben zu wiederholen. Wir haben keinen Grund, die belgischen Genossen zu tadeln, die auf einem so dornigen und unbekannten Terrain mutig vorangegangen sind; aber wir müssen von ihnen lernen, um nicht jene Irrwege neu zu betreten, die sie vom Wege zum Erfolg abkommen ließen.
Lernen wir vom belgischen Beispiel, dann werden wir zur Ueberzeugung kommen, es wäre für uns in Deutschland ein verhängnisvoller Fehler, wollten wir uns auf die Proklamierung des politischen Streiks für einen bestimmten Termin, etwa für den Fall der Verschlechterung des gegenwärtigen Reichstagswahlrechtes, festlegen.
Gegen diese Festlegung spricht noch ein anderer Umstand. Auch hier können wir wieder an eine Aehnlichkeit zwischen Barrikadenkampf und politischem Streik anknüpfen.
Welches immer der Ausgangspunkt des Barrikadenkampfes sein mochte, er lief immer darauf hinaus, die herrschende Regierung zu stürzen, nicht bloß, ihr eine vereinzelte Konzession abzutrotzen. Und das war ganz natürlich. Ein Barrikadenkampf bedeutete den Einsatz des Lebens. Den wagt man nur für ein großes Ziel. Nur das Bewußtsein, ein unerträglich gewordenes Joch abschütteln zu können, konnte den Massen den Mut und die Begeisterung einflößen, deren sie bedurften, um sich der bewaffneten Macht entgegenzuwerfen.
Diese selbst aber konnte nur schwankend gemacht werden durch die Empfindung, das herrschende Regime sei im Zusammenbrechen begriffen. Solange der Soldat wußte, daß seine Vorgesetzten morgen dieselben bleiben würden, die sie heute waren, auch wenn seine Auflehnung sie glückte, mußte er sich vor jeder Insubordination hüten, deren grausamer Bestrafung er ja dann doch nicht entging. Ihn konnte nur das Bewußtsein schwankend machen, sein Uebertritt auf die Seite des Volkes oder doch seine Lahmheit in dessen Bekämpfung helfe die Regierung stürzen und verwandle die Insubordination aus einem Verbrechen in einen Akt höchster Bürgertugend.
Endlich aber stellte sich auch die nötige Kampflosigkeit bei der Regierung nur dann ein, wenn sie merkte, daß jeder falsche Schritt sowohl nach der Seite der Schwäche wie nach der der Rücksichtslosigkeit sie die ganze Existenz und nicht bloß ein bißchen mehr oder weniger Macht oder Ansehen kosten könne.
Aehnliche Erwägungen gelten auch für den politischen Streik. Auch hier steht Großes auf dem Spiele, jeder der Kämpfenden wagt, wenn auch nicht direkt das Leben, so doch die wirtschaftliche Existenz in ganz anderem Maße als bei einem gewöhnlichen Streik, wo hinter den Gemaßregelten einer Branche in einer Lokalität die ganze Arbeiterschaft mit ihren ungebrochenen Organisationen und Hilfsmitteln steht. Eine Niederlage im politischen Massenstreik heißt, wenn er bis zum äußersten ausgefochten wird, die Niederlage der gesamten Arbeiterklasse, die Vernichtung ihrer gesamten ökonomischen und politischen Organisationen, die völlige Kampfunfähigkeit des Proletariats auf Jahre hinaus.
Auf dem letzten Wiener Parteitag meinte Viktor Adler, er stehe dem Generalstreik sympathischer gegenüber, seitdem ihm der „glorreiche Rückzug“ der belgischen Genossen gezeigt, „er (der Generalstreik) sei in einer vernünftigen, besonnenen, klaren Weise zu Ende zu führen“. Nach dem Zusammenhang meint Adler offenbar mit dem letzten Satze nicht bloß die Möglichkeit, ihn vernünftig und besonnen zum Siege zu führen, sondern auch die Möglichkeit, ihn ohne Niederlage abzubrechen, wenn der Sieg aussichtslos erscheine. Auf diese letztere Möglichkeit möchte ich nicht zu stark bauen. Ein General, der sich in eine Schlacht einläßt mit der Erwartung, er könne sie jederzeit nach Belieben abbrechen, wenn er erkennt, der Feind sei stärker, als er erwartet, kann recht üble Erfahrungen machen. Wer eine Schlacht beginnt, muß entschlossen sein, sie bis zu ihrer Entscheidung auszufechten, er muß auch mit der Möglichkeit der Niederlage rechnen. Bei jeder größeren Aktion, in die wir eintreten, steht nur der Anfang bei uns. Wie sie sich weiterhin gestaltet, das hängt nicht bloß von uns ab, sondern auch von unseren Gegnern.
Über die Möglichkeit einer Niederlage darf vom Kampfe nicht abhalten. Das wäre ein trauriger Krieger, der sich nur dort in einen Kampf einließe, wo er den Sieg schon in der Tasche hat. Es kann sogar Momente geben, wo man mit der Wahrscheinlichkeit der Niederlage den Kampf aufnehmen muß, weil ein kampfloser Rückzug völligem moralischen Bankerott gleichkäme.
Aber je vernichtender die Folgen einer eventuellen Niederlage, desto mehr nuß man sich davor hüten, in den Kampf ohne Not einzutreten, desto größer muß der Preis sein, um dessentwillen man ihn aufnimmt.
Daß andererseits auch beim Massenstreik wie beim Barrikadenkampf die Regierung um so leichter den Kopf verliert, je größer die Gefahr ist, die ihr droht, bedarf bei einem wankenden, verfaulten Regime keines Beweises. Und nur um ein solches kann es sich handeln. Eine zielbewußte, einheitliche, tatkräftige, in der Masse der Bevölkerung wurzelnde Regierung wächst in der Gefahr. Die Methode, eine solche zu stürzen, ist indes überhaupt noch nicht erfunden.
Aber der Regierungsmechanismus kommt ebenfalls um so leichter in Unordnung, je gefährdeter die Regierung ist. Das hat der Barrikadenkampf vom Militär gezeigt, das gilt auch von den staatlichen Lohnarbeitern. Wir haben oben schon auf die Eisenbahner hingewiesen, die an der Erringung eines proletarischen Regimes noch mehr interessiert sind als die meisten anderen Arbeiterschichten. Aber gerade sie riskieren auch am meisten bei einer Arbeitseinstellung, wenn diese nicht mit ihrem Siege endet und in der Regierung alles beim alten läßt. Selbst ein vorübergehender Sieg kann die Ursache einer Niederlage für sie werden, wie der Ausgang des holländischen Streiks beweist, wenn er nur zur Gewährung einer Einzelkonzession und nicht zur Aenderung des Regierungssystems in proletarischem Sinne führt. In den meisten Ländern werden sich’s die Eisenbahner wohl überlegen müssen, ob sie sich einem politischen Streik anschließen, wenn dieser nicht die Aussicht auf die Gewinnung einer vom Proletariat beherrschten Regierung bietet.
Und wie mit den Eisenbahnern steht’s mit den anderen Menschenmassen, deren die Regierung zum Funktionieren ihres Mechanismus bedarf.
Auch darin dürfen wir einen der Gründe suchen, warum der letzte belgische Generalstreik scheiterte. Die Eisenbahner, die Soldaten usw. hätten sich wohl eher dem Streik angeschlossen, wenn sie Aussicht gehabt hätten, sein Gelingen werde an Stelle der ultramontanen Regierung ein Ministerium Anseele-Vandervelde setzen.
Die Chancen für den politischen Massenstreik stehen schlecht dort, wo die Sozialdemokratie nicht stark genug und bereit ist, im Falle des Sieges das Staatsruder zu übernehmen.
Treffen alle die hier gemachten Beobachtungen zu, dann müssen wir zu dem Schlisse kommen, daß der politische Massenstreik eine Waffe ist, die unter Umständen vortreffliche Dienste leisten kann, für deren erfolgreiche Anwendung aber (in Deutschland) die Zeit noch nicht gekommen ist. Sie ist weder ein souveränes Mitttel, den herrschenden Klassen einzelne Konzessionen abzuringen, noch eines, die Erhaltung der errungenen politischen Freiheiten und Rechte auf alle Fälle fortan zu sichern.
Aber der politische Massenstreik kann dort, wo dem Proletariat seine legalen politischen Machtmittel genommen sind, wo es politisch wenig zu verlieren und unendlich viel zu gewinnen hat, wenn er in einer günstigen Situation ausbricht, die eine schwache Regierung ungerüstet oder in einer Klemme vorfindet, das Mittel werden, in einem letzten Entscheidungskampf dem Proletariat die politische Macht zu erringen. Er ist ein wahrhaft revolutionäres Mittel und als solches nur in revolutionären Zeiten am Platze, beim Kampfe nicht um einzelne Maßregeln, sei es das Wahlrecht, das Koalitionsrecht oder etwas Aehnliches, sondern beim Kampfe um die ganze politische Macht.
Ist aber der politische Streik unter den heute gegebenen Verhältnissen nicht am Platze, so ist es andererseits sehr die Frage, ob er ein Mittel ist, dessen Anwendung unter allen Umständen notwendig wird. Wir haben gesehen, daß wir die Formen der kommenden Kämpfe um die politische Macht nicht voraussehen können; Ereignisse im Ausland – und wir haben als solche genannt eine Erhebung in Belgien, einen unglücklichen Krieg in Rußland, einen Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten – können auf Deutschland in einer Weise zurückwirken, daß sich hier die Eroberung der politischen Macht ohne jede Katastrophe auf friedlichem Wege vollzieht. Andererseits ist die Dauerhaftigkeit und Widerstandskraft der heute schon dem Proletariat zu Gebote stehenden politischen Machtmittel noch nicht auf die äußerste Probe gestellt worden, endlich vermag die Zukunft noch vieles Unerwartete bringen.
Nichts wäre daher voreiliger, als sich auf den politischen Massenstreik für bestimmte Gelegenheiten zu verpflichten. Aber wir haben auch nicht die geringste Ursache zum Gegenteil. Ich stimme Adler vollständig zu, wenn er in der schon zitierten Rede sagt:
„Ich bin nicht dafür, unsere Gegner zu beruhigen, daß sie vor dem Generalstreik sicher sind. Wir würden in ihnen damit eine gefährliche Illusion nähren. Abschwören wollen wir den Generalstreik nicht. Wann, wie, ob, das steht dahin.“
Wenn wir über die zukünftige Anwendung des politischen Streiks noch gar nichts Bestimmtes sagen können, welchen Zweck hat es dann, über diese Kampfesmethode zu diskutieren, zu deren Ausführung wir vielleicht gar nicht kommen werden und die, wenn sie notwendig wird, um so energischer wirkt, je unvermuteter sie angewandt wird? Heißt das nicht auf der einen Seite über ungelegten Eiern brüten, andererseits sich von dem Gegner vorzeitig in die Karten schauen lassen?
Ueber die Zukunft sich den Kopf zu zerbrechen, ist dann zwecklos, wenn unser heutiges Tun nicht die Gestaltung der Zukunft, wenn unsere Anschauung von der Zukunft nicht unser heutiges Tun beeinflussen kann. Wo dagegen eine solche Wechselwirkung vorhanden, ist es nicht bloß gestattet, sondern geboten, die Zukunft zu erforschen. Ist aber die Anwendung des politischen Massenstreiks in der Zukunft nicht unbedingt geboten, so ist er doch nichts weniger als unbedingt ausgeschlossen. Gerade deswegen aber, weil er, wenn er wirksam sein soll, nicht das für einen bestimmten Zeitpunkt vorbereitete Werk einer kleineren Organisation, nicht ein Putsch sein darf, sondern der spontane Ausbruch eines tiefgehenden, allgemeinen Zornes des Proletariats, müssen wir ihn öffentlich diskutieren. Wenn die Barrikadenkämpfe von 1848 spontan entstanden, die Bevölkerung mit sich rissen und zu einem erfolgreichen Ende kamen, so war dies nur möglich, weil eine viele Jahrzehnte hindurchgehende, vom Bastillensturm anhebende Praxis des bewaffneten Aufstandes die Gemüter des Volkes mit dieser Methode vertraut gemacht hatte. Ein derartiger Lehrgang ist heute weder notwendig noch wünschenswert. Der heutige stand der politischen Rechte gestattet uns theoretisch die Mittel des politischen Kampfes vor aller Welt zu diskutieren, was vor 1848 unmöglich war. Wir sind in der Lage, durch diese Diskussionen einigermaßen die Notwendigkeit des Lernens aus der Praxis zu ersetzen, und wir wären Narren, wenn wir es nicht täten. Die heutigen Formen der Demokratie machen nicht, wie die Revisionisten glauben, die großen Entscheidungskämpfe der Klassen um die politische Macht überflüssig. Aber sie beseitigen einen großen Teil der so opfervollen fehlschlagenden Versuche, Entscheidungsschlachten vorzeitig zu provozieren, ehe die aufsteigenden Klassen noch die Kraft und die Reife besitzen, die politische Gewalt tatsächlich zu übernehmen und erfolgreich auszuüben. Wollen wir aber von allen Experimenten mit dem politischen Streik absehen, dann müssen wir um so mehr seine Theorie entwickeln und ins Bewußtsein der Genossen überführen, denn wenn es einmal dahin kommen sollte, daß das Proletariat zur Waffe des politischen Streiks greift und greifen muß, wird es sie nur dann zweckentsprechend anwenden, wenn es vorher schon klare Vorstellungen über ihn erlangt hat.
Aber die öffentlichen Diskussionen des politischen Streiks sind nicht zur ein Notbehelf, die Schule der praktischen Erfahrungen zu ersetzen, sie können auch einen sehr wertvollen Einfluß auf unser politisches Leben gewinnen.
Nach wie vor gilt das Wort von Marx, daß die Gewalt die Geburtshelferin jeder neuen Gesellschaft ist. Freiwillig, ungezwungen, dankt keine herrschende Klasse ab. Aber damit ist nicht notwendig gesagt, daß Gewalttätigkeit die Geburtshelferin einer neuen Gesellschaft sein muß. Eine aufsteigende Klasse muß über die nötigen Gewaltmittel verfügen, soll sie die alte herrschende Klasse depossedieren können, aber es ist nicht unbedingt geboten, daß diese Gewaltmittel auch zur Anwendung kommen. Das Bewußtsein der Existenz solcher Mittel kann unter Umständen genügen, eine niedergehende Klasse zu friedlichem Paktieren mit dem übermächtig gewordenen Gegner zu veranlassen.
Je zahlreicher und kraftvoller die Machtmittel des Proletariats, je verbreiteter ihre Kenntnis, desto größer die Möglichkeit des friedlichen Ueberganges vom Kapitalismus zum Sozialismus. Soweit diese Art der sozialen Revolution überhaupt erreichbar ist, hängt sie nicht ab von unseren friedlichen Beteuerungen, von dem Verzicht auf die „Freßlegende“, nicht ab von Versicherungen oder Nachgiebigkeiten, die entweder nicht ernst genommen werden, nur als Heuchelei gelten, oder aber als Zeichen der Furcht ausgelegt werden und unsere Gegner in der Verweigerung aller nennenswerten Konzessionen nur bestärken. Nur durch unsere Machtmittel imponieren wir unseren Gegnern und veranlassen wir sie, eine friedliche Auseinandersetzung mit uns zu suchen, die auch wir wünschen, wenn sie ohne Gefährdung oder Verzögerung der Emanzipation des Proletariats möglich ist. Das alte Wort: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg“ gilt hier mehr als in jedem anderen Falle. Sollte aus unseren Diskussionen hervorgehen, daß wir im politischen Streik eine zwar zweischneidige und nur in den extremsten Fällen anwendbare, aber stets auch für unsere Gegner gefährliche, unter Umständen vernichtende Waffe besitzen und daß die Wahrscheinlichkeit der schließlichen Anwendung dieser Waffe um so mehr wächst, je mehr uns alle anderen Waffen des politischen Kampfes genommen oder verkümmert werden, dann haben nur unsere Position zur Wahrung unserer politischen:Rechte und zur Hintanhaltung politischer Katastrophen sehr verbessert.
Freilich, allzugroße Hoffnung auf friedliche Entwicklung wird man auch dann nicht hegen dürfen. Immerhin, wenn mir ein Räuber auflauert, wird die Gefahr, daß er mich überfällt und ich ihn zu meiner Verteidigung niederschießen muß, jedenfalls geringer sein, wem er einen Revolver in meiner .Hand sieht, als wenn ich meine Waffe verberge und er mich wehrlos wähnt. Und so ist auch von diesem Standpunkt aus die öffentliche Diskussion des politischen Streiks geboten.
Ebensosehr aber endlich durch die Rücksicht auf die eigene Partei. Die ganzen Diskussionen der letzten Jahre in unseren Reihen entsprangen im Grunde dem Empfinden, daß wir bei der Fortsetzung unserer bisherigen Taktik und unseres Anwachsens rasch einem entscheidenden Zusammenstoß mit den herrschenden Klassen entgegengehen. Können wir dabei über keine anderen politischen Waffen verfügen als über die uns von diesen Klassen selbst verliehenen, namentlich das allgemeine Wahlrecht, dann steht’s freilich schlimm um unsere Aussichten; dann liegt es nahe, nach einer Taktik zu suchen, die den Entscheidungskampf entweder auf Jahrhunderte hinausschiebt oder in eine endlose Reihe bedeutungsloser Zwergkämpfe auflöst oder aber nach proudhonistischer Manier das Kampfobjekt, die politische Macht, umgeht. Bei allen diesen Versuchen, dem Feinde auszuweichen oder gar seine gute Meinung zu gewinnen, gerät man jedoch in Gefahr, um der Existenz der Partei willen alles zu opfern, was die Grundlage und Berechtigung dieser Existenz ausmacht und damit die Partei der Entmannung und langsamen Auflösung entgegenzuführen.
Ganz anders, wenn im Proletariat das Bewußtsein lebt, daß es über eine Reihe von Machtmitteln verfügt, die ugabhängig sind von dem guten Willen der herrschenden Klassen, und daß diese Mittel ihm schließlich die Kraft verleihen können, über seinen Gegner zu obsiegen, auch wenn diese zu den brutalsten Methoden greifen. Es wird dann den Weg, den es für den richtigen erkannt hat und auf dem es schon soweit gekommen ist, ruhig weitergehen, ohne sich provozieren zu lassen durch die Scharfmacher, die das kämpfende Proletariat gern in seinem Blute ersäufen möchten, aber auch ohne sich einschüchtern zu lassen durch die Warnungen jener ängstlich besorgten Freunde, die seinen Sieg wünschen, aber seinen Kampf verabscheuen.
Als eines der wirksamsten Mittel, im Proletariat dies erhebende und stählende Gefühl der eigenen Kraft und der Siegeszuversicht zu entfachen, erscheint mir die Verbreitung des Bewußtseins von der schließlichen Möglichkeit und Wirksamkeit des politischen Streiks. Und vor allem um dieser unschätzbaren Wirkung willen ist heute eine Untersuchung seiner Möglichkeiten und Methoden so notwendig.
1. „Wie wenig die Slawen (von der Regierung Beleredis in Oesterreich 1866) befriedigt waren, zeigte ... der Jubel mit welchem die Tschechen die (man sagt vom Polizeidirektor Stieber eingegebene) Prager Proklamation des preußischen Generals Rosenberg-Gruczynski An die Bevölkerung des glorreichen Königreichs Böhmen begrüßten, weil dieselbe ihnen die Erfüllung ihrer nationalen Wünsche in Aussicht stellte. Nicht das Waffenglück von Königgrätz markiert den Gipfelpunkt der harten Prüfungen, die über Oesterreich hereingebrochen, sondern jene Zeit, wo die Tschechenblätter unter dem Schutze des vom Hradschin wehenden schwarz-weißen Banners die Deutsch-Oesterreicher mit Kot bewarfen und selbst dem Grafen Beleredi offen ins Gesicht satten . Graf Bismarck werde ihnen verleihen, was er ihnen aus Angst vor der Zentralistenclique nicht zu geben sich getaue.“ (W. Rogge, Oesterreich von Vilagos bis zur Gegenwart, II., S. 335)
2. Seitdem haben sich diese Zahlen noch weiter zuungunsten der Landwirtschaft verschoben. Der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung ist von 35,74 Proz. im Jahre 1895 und 42,52 Prozent im Jahre 1882 auf 28,03 Proz. im Jahre 1907 herabgegangen, der der industriellen Bevö1kerung dagegen von 35,51 (1882) und 39,12 (1895) auf 42,75 Proz. im Jahre 1907 gewachsen. Und das Verhältnis der männlichen Erwerbstätigen im Alter von 20–30 Jahren zur gesamten erwerbstätigen Bevölkerung der gleichen Kategorie betrug in der Industrie 1907 27,98 Proz. (gegen 26,76 Proz. im Jahre 1882 und 27,01 Proz. im Jahre 1895). In der Landwirtschaft dagegen 1907 nur noch 18,26 Proz. (gegen 20,19 Proz. im Jahre 1882 und 18,96 im Jahre 1895). Die absoluten Zahlen der männlichen Erwerbstätigen Männer von 20–30 Jahren betrugen in der Landwirtschaft 1907 965.149, in der Industrie 2.560.534, also fast das Dreifache.
Da ist es höchst erstaunlich, daß das Heeresergänzungsgeschäft für 1912 fast die gleichen Ziffern lieferte, wie 1902. Wir finden
Gruppen |
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Zahl der |
Von je 100 Tauglichen |
Von je 100 abgefertigten |
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I. |
Auf dem Lande geboren: |
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a) In Land- oder Forstwirtschaft beschäftigt |
79.960 |
25,18 |
60,51 |
|
b) Anderweit beschäftigt |
109.128 |
34,36 |
57,84 |
||
I zusammen |
189.088 |
59,54 |
58,94 |
||
II. |
In der Stadt geboren: |
|
|||
|
a) In Land- oder Forstwirtschaft beschäftigt |
10.825 |
3,41 |
55,54 |
|
b) Anderweit beschäftigt |
117.678 |
37,05 |
50,75 |
||
II zusammen |
128.503 |
40.46 |
55,11 |
||
I und II zusammen |
317.591 |
100,00 |
55,51 |
Vergleichen wir diese Tabelle mit der obigen, so zeigt sich, daß sich die absoluten Zahlen innerhalb jeder Kategorie seit zehn Jahren kaum geändert haben, trotz der großen sozialen Aenderungen in diesem Zeitraum. Dies wurde dadurch erreicht, daß in der ländlichen Bevölkerung die Zahl der Mililärtauglichen auffallend stieg, und in der städtischen und außerhalb der Landwirtschaft beschäftigten ebenso auffallend abnahm. Nicht das mindeste deutet darauf hin, daß inzwischen die Landbevölkerung um so viel gesünder geworden wäre. Im Gegenteil, die Verwandlung ihrer Produkte aus Lebensmitteln, die sie selbst konsumierte, in Waren, die sie auf den Markt schickt, erzeugt die Tendenz zunehmender Degenerierung auch in ihren Reihen. Die Zunahme der Militärtauglichen unter ihnen läßt sich nur dadurch erklären, daß die Militärbehörden ebenso gut wissen wie wir, welche Gefahren für das herrschende Regime ein starker Prozentsatz industrieller Arbeiter in der Armee bedeutet, daß sie daher, je mehr die Industrialisierung voranschreitet, ihren Folgen dadurch zu entgehen suchen, daß sie bei der Auswahl tauglicher aus der Industriebevölkerung immer strenger und dafür gegenüber der Landbevölkerung immer weniger kritisch werden. Dadurch verlangsamen sie zwar die Zunahme industrieller Arbeiter im Heer, sie können sie aber nicht ganz hindern. Wenn 1902 die Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten tauglichen Rekruten noch 29,36 Proz. aller Rekruten ausmachte, so 1912 nur noch 28,59 Proz. Dabei hat sich aber die Armee von 1902–1912 kaum vergrößert. Die Zahl der ausgehobenen Tauglichen stieg von 293.955 auf 317.591. Das neue Wehrgesetz vermehrt die Armee bedeutend, da aber augenscheinlich aus der Landbevölkerung schon alle wirksamen Tauglichen herangezogen sind, wird die jetzige Vermehrung nur durch erhöhte Einstellung städtischer und industriejjer Elemente erreicht werden können. Dann werden die der Landwirtschaft entnommenen Rekruten wohl nur noch ein Viertel der Armee ausmachen.
3. Diese Zahlen haben sich nicht gebessert. Sie lauten für 1912:
|
In der Landwirtschaft |
|||
---|---|---|---|---|
Armeekorps |
Taugliche |
Absolut |
In Prozent |
|
1. Bayerisches |
|
10.445 |
4.753 |
45,6 |
7. Preußisches |
30.444 |
4.481 |
14,7 |
|
2. Sächsisches |
12.883 |
1.517 |
12,1 |
In den Industriegegenden verschwinden also die landwirtschaftlich beschäftigten Rekruten bereits vollständig in der Masse der anderen.
4. Von 1895 bis 1907 wuchs die Zahl der Erwerbstätigen in
Landwirtschaft |
|
um |
19,18 |
Prozent |
Industrie |
|
35,93 |
|
|
Handel und Verkehr |
48,71 |
Also auch diesmal wieder am meisten der Verkehr. Dabei ist die starke Zunahme der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft nur eine scheinbare, weil 1907 viele als Erwerbstätige gezählt wurden, die man 1895 zu den Angehörigen rechnete. Die landwirtschaftliche Gesamtbevölkerung hat von 1895 bis 1907 abgenommen, von 18.501.307 auf 17.081.176, die der als Angehörige in der Landwirtschaft Gezählten gar von 9.833.9i8 auf 7.034.090, also um mehr als zwei Millionen.
Im Eisenbahnbetrieb wuchs die Zahl der Erwerbstätigen von 1895 bis 1907 um 151 Proz. (1882–1895 um 53 Proz.) Im Postbetrieb um 83 Proz.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011