Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


7. Der österreichische Parteitag von 1894


In der deutschen Sozialdemokratie blieb es zunächst bei diesen akademischen Betrachtungen. Einen praktischen Widerhall fand bei uns der belgische Streik von 189s nicht. Der preußische Landtag kümmerte uns noch wenig, zum Reichstag besaßen wir das Wahlrecht. Ein dringendes Bedürfnis, uns mit dem Massenstreik zu beschäftigen, lag nicht vor.

Anders in Oesterreich, wo die Partei eben um jene Zeit in eine Wahlrechtsbewegung eingetreten war. Diese wurde durch das belgische Beispiel mächtig angefeuert. Unsere österreichischen Genossen kannten von nun an jahrelang keinen heißeren Wunsch, als möglichst bald „belgisch reden“ zu können. Freilich, die Mehrheit unter ihnen wußte genau, daß der bloße „Wille zur Tat“ allein nicht genügt. Entscheidend sind die Bedingungen der Tat. Und diese lagen in Oesterreich ganz anders als in Belgien.

Eine Minderheit hätte am liebsten gleich losgeschlagen. Der Wiener Parteitag von 1894 sollte sich mit der Frage des Massenstreiks zur Erringung des Wahlrechts beschäftigen.

Unter den zu diesem Kongreß Geladenen suchten sowohl Engels wie ich in Zuschriften beruhigend zu wirken. Engels ging in seiner Zuschrift auf die Frage des Massenstreiks nicht ein. Er bemerkte nur kurz:

„Der diesjährige Parteitag hat besonders wichtige Aufgaben zu erfüllen. Es handelt sich in Oesterreich um die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts, jener Waffe, die in der Hand einer klassenbewußten Arbeiterschaft weiter trägt und sicherer trifft als das kleinkalibrige Magazingewehr in der Hand des gedrillten Soldaten. Die herrschenden Klassen – Feudaladel wie Bourgeoisie – sträuben sich aus allen Kräften dagegen, den Arbeitern diese Waffe zu überliefern. Der Kampf wird langwierig und heftig sein. Aber wenn die Arbeiter die politische Einsicht, die Geduld und Ausdauer, die Einmütigkeit und Disziplin beweisen, denen sie nun schon so viele schöne Erfolge verdanken, so kann der endliche Sieg ihnen nicht entgehen. Auf ihrer Seite kämpft die ganze geschichtliche, die ökonomische wie die politische Notwendigkeit. Und mag auch das volle, gleiche Wahlrecht nicht auf den ersten Schlag erkämpft werden, schon jetzt dürfen wir ein Hoch ausbringen den künftigen Vertretern des Proletariats im österreichischen Reichsrat.“

Also an die Geduld, Ausdauer, Disziplin appellierte Engels und nicht an die „kühne Initiative“ ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.

In gleichem Sinne war meine Zuschrift gehalten, nur ging sie auf die Frage des Massenstreiks näher ein. Hatte ich in Zürich ihn Jahr vorher den Massenstreik akzeptiert, so hieß es jetzt vor unzeitigem Gebrauch der neuen Waffe warnen, auf ihre Zweischneidigkeit, ihre Bedingtheit durch bestimmte Verhältnisse hinzuweisen. Ich schrieb:

„In dem Kampf ums Wahlrecht, der jetzt entbrannt ist, und namentlich in der Frage des politischen Streiks, die ja so sehr die Gemüter bewegt, können die österreichischen Genossen sich an keine fremden Beispiele halten.

Wohl hat die Geschichte der Arbeiterbewegung bereits zwei Beispiele politischer Streiks zu verzeichnen: das eine der Ausstand von 1842 in England, das andere der belgische Streik des vorigen Jahres, jener verunglückt, dieser erfolgreich, beide hervorgegangen aus einem Kampf ums Wahlrecht. Aber wie verschieden waren die Verhältnisse, unter denen sie stattfanden, von den jetzigen Verhältnissen Oesterreichs! England wie Belgien sind hochentwickelte Industrieländer ohne zuverlässige stehende Armee. Beide Male fiel der Streik zusammen mit einem, namentlich in England, heftigen Kampf zwischen zwei bedeutenden Fraktionen der herrschenden Klassen, und beide Male kam es zum Streik erst, nachdem durch eine längere Reihe von Jahren – in England von 1835 bis 1842, in Belgien von 1886 bis 1893 – eine mächtige Wahlrechtsbewegung die gesamte Volksmasse aufs tiefste aufgewühlt hatte.

In Oesterreich, einem ökonomisch rückständigen Agrarland, einem Lande des Militarismus, rüstet sich die Sozialdemokratie, nach kaum einjähriger allgemeiner Agitation für das allgemeine Wahlrecht, dieses einer Koalition der besitzenden Klassen zu entreißen: das ist eine Situation, wie sie noch nicht dagewesen ist, die einzig in ihrer Art besteht. Sie allein bezeichnet schon einen Triumph des österreichischen Proletariats und eine Bankerotterklärung der herrschenden Klassen; sie beweist ebensosehr deren Schwäche, Feigheit und Ratlosigkeit, wie die Kühnheit und Kraft des organisierten Proletariats Oesterreichs.

Diese Eigenschaften, verbunden mit seiner Einsicht und Besonnenheit, sind es, die aus der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung seit dem Parteitag von Hainfeld eine Kette von Siegen gemacht haben; sie sind es, die alle Gewähr bieten, daß das organisierte Proletariat und seine Vertretung sich der gegenwärtigen Situation völlig gewachsen zeigen, so ausnehmend schwierig und beispiellos sie auch ist, und so mannigfaltig auch die Fragen sind, die ihrer Lösung harren.“

Man sieht, auch hier die Mahnung zur Besonnenheit, die Warnung vor unzeitigem Losschlagen, so deutlich ausgesprochen, wie ein Außenseiter sprechen durfte. Außerdem wies ich schon damals auf die Notwendigkeit hin, sich nicht durch Beispiele aus dem Auslande blenden zu lassen, sondern die Bedingungen des Massenstreiks im eigenen Lande zu studieren.

Zu dem Punkt der Tagesordnung: Das allgemeine Wahlrecht und der Generalstreik sprach unter anderem Viktor Adler. Auch er mahnte zur Vorsicht:

„Die Regierung und das Parlament sollen überzeugt werden, daß die Arbeiterschaft sich im äußersten Notfall nicht scheut, auch die äußersten Mittel zu ihrer politischen Selbsterhaltung anzuwenden.

Das zwingt uns zur genauen Ueberlegung dessen, was in unseren Kräften steht. Wir können nicht mehr Kraft einsetzen, als wir haben. Und wenn wir über unsere Kräfte die Gegner täuschen, so mag das für uns von Vorteil sein; wehe aber der Partei, wenn sie sich selbst über ihre eigene Kraft täuscht. Das zu verhindern, ist unsere Aufgabe und dazu war dieser Parteitag notwendig ...

Ich bin der Ansicht, daß man den Massenstreik nur anwenden darf, wenn man muß. Es gilt für jeden von uns, daß unser Leben uns nichts gilt gegenüber dem Zweck, der zu erreichen ist. Das gilt für den einzelnen. Auch die Partei hat ein Leben. Auch für die Partei handelt es sich in gewissen Momenten um Tod und Leben. Es handelt sich da nicht nur um die aufgespeicherte Arbeit von jahrelanger Organisation von Hunderten und Tausenden von Genossen, sondern es handelt sich vor allem auch um die Zukunft der Partei, und wir sind verantwortlich nicht nur für die Unterlassung eines solchen Mittels, sondern wir sind auch verantwortlich für die Niederlage in einem solchen Falle, der gleichbedeutend ist mit dem ungeheuersten Rückschlag für das ganze Proletariat überhaupt. (Sehr richtig!) Wir dürfen diese Mittel nicht früher anwenden, bis wir sagen können, es ist unsere Ueberzeugung, daß erstens die Aussichten, daß dieses Mittel Wirkung hat, so groß als möglich sind, und zweitens, daß um kein anderes Mittel mehr übrig bleibt, und drittens, daß der Preis dieser Anwendung auch diesem Mittel halbwegs gleich sei ...

Ich beantrage folgende Resolution:

„Die von der Regierung vorgeschlagene Wahlreform wird als Verhöhnung der Arbeiterschaft mit Entrüstung zurückgewiesen. Der Parteitag erklärt, das Wahlrecht mit allen der Arbeiterklasse zur Verfügung stehenden Mitteln erkämpfen zu wollen, dazu gehört neben den angewendeten Mitteln der Agitation und Organisation auch der Massenstreik.

Die Parteivertretung mit den Vertretern der Organisationskreise wird beauftragt, alle Vorkehrungen zu treffen, um, falls die Hartnäckigkeit der Regierung und der bürgerlichen Parteien das Proletariat zum Aeußersten zwingen sollte, den Massenstreik als letztes Mittel im geeigneten Zeitpunkt anordnen zu können.“

Diese Resolution unterscheidet sich von den bisher eingebrachten dadurch, daß ein bestimmter Zeitpunkt nicht genannt ist und daß der Parteivertretung ausdrücklich gesagt wird, der Parteitag weiß, daß er ein scharfes, ein zweischneidiges Schwert in ihre Hand legt und der Parteitag die Parteivertretung beauftragt, von diesem Schwerte nur dann Gebrauch zu machen, wenn es an der Zeit ist, und nicht früher als sie muß. Anders kann ich mir Ihre Verantwortung und auch die der künftigen Parteivertretung nicht vorstellen, aus wem immer sie bestehen möge.“

Adler akzeptierte also den Massenstreik als letztes, äußerstes Mittel des Kampfes, doch lehnte er jede bedingungslose Verpflichtung zu seiner Anwendung ab.

Ein starker Bruchteil des Parteitages war anderer Meinung. Der Parteivorstand wurde hart getadelt, weil er die Diskussion des Massenstreiks gehindert und gebremst habe; andererseits wurde gefordert, daß der Wahlrechtskampf mit dem Kampf um den Achtstundentag verquickt werde. Am meisten erbitterte das Hinausschieben des Massenstreiks, endlich wurde auch die Anschauung ausgesprochen, man solle sich bei der Massenstreikagitation mehr an die Unorganisierten als an die Organisierten halten. So meinte Nesel, er sei „überzeugt, daß die Unorganisierteu leichter in den Streik eintreten, weil die organisierten Genossen es sich überlegen werden, die Organisation aufs Spiel zu setzen, während die anderen nichts zu verlieren haben“.

Man sieht, schon auf jenem Parteitag wurden bei der Besprechung des politischen Massenstreiks eine Reihe von Momenten ins Treffen geführt, mit denen wir uns auch jüngst wieder zu beschäftigen hatten.

Zu den schärfsten Kritikern der Genossen vom Parteivorstand gehörte Hueber. Er warf ihnen vor, sie hätten den richtigen Moment zum Massenstreik bereits verpaßt und damit Parteiverrat begangen. Nach den großen Massenversammlungen und Demonstrationen sei weitere Zurückhaltung nicht mehr am Platze gewesen, deshalb habe Unsicherheit und Mutlosigkeit in unseren Reihen Platz gegriffen.

Da Hueber einmal in seiner Rede Bebel zitierte, der als Gast anwesend war, meldete sich dieser zum Wort und führte unter anderem aus:

„Genosse Hueber hat meine Worte: ‚Marschieren Sie vorwärts, immer vorwärts‘ für seine Anschauung verwertet. Ich nehme es ihm nicht übel, aber wenn das in meiner Gegenwart geschieht, muß ich meinen Worten eine gewisse Interpretation geben. Ich bin überzeugt, daß, was immer der Parteitag in den nächsten Stunden beschließt, es kein Schritt nach rückwärts, sondern nur ein Schritt nach vorwärts sein wird. (Sehr richtig!) Aber es ist auch notwendig, daß man, wenn man in so schwieriger Situation ist wie Sie, jeden Schritt genau erwägt. Es liegt in dem Wesen der Sozialdemokratie, daß ihr Streben beständig nach vorwärts gerichtet ist. Aber das Maß des Vorwärtsschreitens hängt von den jeweiligen Umständen ab, ob das Tempo langsamer oder schneller geht. Ich bin unter Umständen auch ein Freund des Stürmens. Es gibt aber Momente, wo der Sturm das Verderblichste ist, was geschehen kann. Und es scheint mir, als ob Genosse Hueber, der als Stürmer aufgetreten ist, die Machtfaktoren nicht genügend an Betracht gezogen hat, die berücksichtigt werden müssen.

Gerade in Ihrer Situation kann unter Umständen ein Stürmen dazu führen, geschlagen zu werden, und das wäre das Bedenklichste, was geschehen könnte. Das Stürmen wäre dann der größte Rückschritt.“

Bei der Abstimmung wurde zunächst mit allen gegen eine Stimme ein Antrag der tschechischen Genossen angenommen, der im Prinzip den Massenstreik anerkannte. Alle anderen Anträge wurden abgelehnt, mit Ausnahme der Resolution Adlers, die aber auf eine starke Opposition stieß. Sie erhielt nur 66 gegen 42 Stimmen.

Unter den „Stürmern“ von damals ist indes wohl keiner mehr, der nicht heute ebenfalls für die Resolution Adlers stimmen würde.

Sollten jetzt deutsche Genossen die damalige Haltung Adlers als „opportunistische“ und „revisionistische“ bezeichnen wollen, so muß ihnen entgegengehalten werden, daß dann vor zwanzig Jahren zu den Opportunisten und Revisionisten neben mir auch Bebel und Engels zählten.

Tatsächlich haben die österreichischen Genossen noch lange arbeiten müssen, ehe sie das Wahlrecht eroberten. Sie gewannen es erst im Jahre 1905, und das unter dem Drucke ungarischer Unruhen und der russischen Revolution. Es gibt aber heute keinen Sozialdemokraten in Oesterreich, der die Meinung hegte, es wäre anders möglich gewesen, man hätte den Sturm schon 1894 wagen sollen.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011