Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


6. Bernstein über den politischen Massenstreik


In Deutschland beschränkte man sich zunächst auf die rein akademische Erörterung des Massenstreiks. Voran ging dabei E. Bernstein, der im Februar 1894 in der Neuen Zeit einen Artikel über den Streik als politisches Kampfmittel veröffentlichte, in dem er sich hauptsächlich auf die Erfahrungen des englischen Massenstreiks von 1842 stützte, aber auch auf den belgischen Streik Bezug nahm. Er kam zu folgendem Ergebnis:

„Unter ähnlichen Verhältnissen, wie sie in Belgien gegeben waren, halte ich den Streik in der Tat für eine brauchbare Waffe, auch des politischen Kampfes. Wie jeder Streik ist der politische Streik eine zweischneidige Waffe – er ist es in noch höherem Grade, weil er größere Massen der Arbeiterschaft in die Aktion ruft, weitere Kreise der Bevölkerung in Mitleidenschaft zieht. Er ist deshalb auch eine nur selten, nur in bestimmten Ausnahmefällen anzuwendende, die größte Umsicht, die kühlste Erwägung der in Betracht kommenden Verhältnisse erheischende Waffe. Wenn es nötig ist, sich aller Illusionen in bezug auf seine Wunderkraft zu entschlagen, so ist es nicht minder nötig, ihn nicht mit Argumenten a priori abzuweisen, die wohl auf diese Illusionen, nicht aber auf den Kern der Sache passen.

Als Generalstreik in dem Sinne, daß eines Tages alle Arbeiter den ‚Pflug‘ usw. in die Ecke legen und dadurch der heutigen Gesellschaftsordnung ein rapides Ende bereiten, ist er ein poetischer Traum, eine Utopie. Als Mittel, die Arbeiter auf die Barrikaden zu führen, ist er ein Wahnsinn, denn kein zurechnungsfähiger Mensch glaubt bei der heutigen Technik des in allen Ländern herrschenden Militarismus an nennenswerte Chancen des Volks im offenen Kampf gegen das Heer.

Aber in allen Ländern treten Momente ein, wo die bisher herrschenden Klassen und Gewalten an sich selbst irre geworden sind, wo im Volk, sei es infolge industrieller Krisen, sei es als Wirkung politischer Mißwirtschaft, tiefgehende Unzufriedenheit obwaltet, während oben Kopflosigkeit herrscht, Uneinigkeit und halbe Geneigtheit zu Konzessionen. Das sind Situationen, wo der politische Streik das bewirken kann, was einst der Barrikadenkampf leistete. Er stellt vielleicht noch größere Ansprüche als dieser. Er erfordert eine geschulte Arbeiterschaft, die sich dessen bewußt ist, daß es für bankerotte Regierungen kein besseres Lebenselixier gibt, als wenn sie ‚Retter der Gesellschaft‘ spielen können Er erheischt ferner das Vorhandensein guter Arbeiterorganisationen, stark genug, um auf die unorganisierten Arbeiter bestimmenden Einfluß auszuüben.

Ein solcher Streik, umsichtig und energisch geleitet, kann im entscheidenden Moment den Ausschlag für die Arbeiterklasse geben. Auf die Wahl des richtigen Momentes kommt allerdings alles an. Das ist den Arbeitern immer und immer wieder einzuprägen gegenüber der Vorstellung, daß man nur den Generalstreik zu wollen brauche, um ihn zu haben, und daß jede Provokation dazu recht sei. Nur wenn er im rechten Moment und mit der Wucht, die allerdings auch nur dieser möglich macht, eintritt, ist er geeignet, die schon verwirrten Gewalthaber zu denjenigen Zugeständnissen zu bewegen, zu denen sie sich bisher nicht entschließen konnten; nur dann stärkt er die Position der Fordernden und schwächt die der Verweigernden.

Der politische Streik kommt in erster Reihe für Länder in Betracht, wo die Arbeiter das Wahlrecht noch nicht oder nur in durchaus unzureichender Weise besitzen. Er kann aber auch in solchen Ländern erforderlich werden, wo ein ausgedehntes Wahlrecht bereits besteht. Auch dort werden die wichtigsten Entscheidungen oft genug von außerparlamentarischen Ereignissen bestimmt werden. Es ist deshalb keine verlorene Mühe, sich über die Mittel klar zu werden, die der Arbeiterklasse im außerparlamentarischen Kampf für die Erreichung politischer Zwecke zur Verfügung stehen.“

Diese vor zwanzig Jahren geschriebenen Ausführungen sind auch heute noch beachtenswert. Sie enthalten bereits die wesentlichsten Momente, die für den politischen Streik in Frage kommen.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011