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Zuerst erschienen in Die Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band, 1910.
Abgedruckt in Antonia Grunenberg (Hrsgb.): Die Massenstreikdebatte, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1970, S. 96–121.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
Die Genossin Luxemburg hat durch einen Artikel in unserem Dortmunder Parteiorgan die Frage des Massenstreiks zur Diskussion gestellt. [1]
Es gibt manche Gründe, die gegen die Ersprießlichkeit einer derartigen Diskussion im jetzigen Moment sprechen. Ich ging ihr möglichst lange aus dem Wege. Aber es würde falsch ausgelegt werden, wollte ich ihr noch weiter ausweichen, namentlich nach dem Angriff, den ein Verfechter der Auffassung der Genossin Luxemburg in der Bremer Bürgerzeitung gegen Mehring richtet, mit dem ich in dieser Frage vollkommen übereinstimme. Da Mehring augenblicklich verreist ist und nicht selbst entgegnen kann, erscheint es mir um so mehr geboten, an seiner Stelle zu antworten.
Ob eine Diskutierung der Frage des Massenstreiks zweckmäßig ist, hängt davon ab, in welchem Sinne man sie führt. Es kann sich hier nicht darum handeln, darüber zu diskutieren, ob der Massenstreik als Waffe für uns überhaupt in Betracht kommt. Diese Frage ist seit dem Jenaer Parteitag entschieden.
Sollen wir aber in eine Diskussion darüber eintreten, ob der Massenstreik im jetzigen Augenblick Aussichten auf Erfolg bietet oder nicht? Eine solche Diskussion hieße nicht bloß die Momente darlegen, die für ihn, sondern auch jene, die gegen ihn sprechen; es hieße, beide gegeneinander abwägen. Geschieht das in der Öffentlichkeit, so ist das gleichbedeutend damit, daß man dem Gegner die schwachen Punkte der eigenen Position mitteilt. Die ganze Diskussion wäre ebenso zweckmäßig, als wollte man einen Kriegsrat darüber, ob man dem Gegner eine Schlacht liefern soll, in Hörweite des Feindes abhalten. Wenn die Genossen unter sich diese Frage erörtern, kann es nur nützlich sein. Ich würde es aber sehr bedauern, wenn der Artikel der Genossin Luxemburg den Erfolg hätte, in der Parteipresse eine Diskussion zu entfachen, in der die eine Seite ihre Gründe für die augenblickliche Aussichtslosigkeit eines Massenstreiks auseinandersetzte. Sie mögen recht oder unrecht haben, anfeuernd zur Aktion wirkt eine derartige Erörterung auf keinen Fall.
Auf diese Seite der Frage will ich daher nicht eingehen. Aber man kann ihr noch eine andere Seite abgewinnen, und deren öffentliche Diskutierung wird auf keinen Fall schaden. Genossin Luxemburg stellt die Behauptung auf, wir hätten nur die Wahl, den Massenstreik als nächstes Mittel der Massenaktion der Partei zu wählen oder diese gänzlich zusammenbrechen zu lassen. Danach wäre es also ein Gebot der Selbsterhaltung der Partei, den Massenstreik mit allen Mitteln schon für die nächste Zeit anzustreben.
Wenn wir diese Auffassung teilten, dann brauchten wir freilich nicht zu erwägen, ob der Massenstreik im gegebenen Moment Aussichten auf Erfolg bietet, dann müßten wir ihn provozieren um jeden Preis, weil selbst die Niederlage besser wäre als tatloses Kapitulieren vor dem Feinde.
Diese Frage ist es, die im folgenden untersucht werden soll. Zunächst aber einige Vorbemerkungen. Wir müssen uns vor allem klar werden darüber, was wir unter Massenstreik verstehen wollen. Genossin Luxemburg schreibt:
„Der Massenstreik, namentlich als ein kurzer, einmaliger Demonstrationsstreik, ist sicher nicht das letzte Wort der begonnenen politischen Kampagne.“
Bei unseren taktischen Erwägungen müssen wir den Massenstreik als Mittel der Demonstration und den Massenstreik als Mittel des Zwanges streng auseinanderhalten, denn jeder setzt andere Bedingungen voraus und erfordert eine andere Taktik. Zwischen beiden ist der Unterschied ebenso groß wie zwischen einem Manöver und einer wirklichen Entscheidungsschlacht. Der politische Massenstreik als Zwangsmittel wird unternommen, um die politischen Machthaber, etwa Regierung oder Parlament, zu zwingen, irgend etwas zu tun oder zu lassen. Er scheitert, er führt zu einer Niederlage, wenn ihm das nicht gelingt. Er wird mit allen Kräften so lange durchgeführt, bis er sein Ziel erreicht oder die Massen ermattet zusammenbrechen. Ein Demonstrationsstreik hat von vornherein eine begrenzte Dauer, ohne Rücksicht darauf, ob er irgendein praktisches Resultat erzielt oder nicht. Die Massen werden nach seiner Beendigung ebenso geschlossen wieder aus der Aktion herausgeführt, wie sie in diese eintraten. Ein Demonstrationsstreik kann lokaler Natur sein, als Protest gegen ein lokales Vorkommnis, etwa Polizeibrutalitäten. Solche Demonstrationsstreiks hatten wir bereits in der gegenwärtigen Wahlrechtsbewegung. Sollten die Polizeibrutalitäten sich mehren oder steigern, wird das gleiche mit den Proteststreiks der Fall sein. Ein politischer Massenstreik als Zwangsmittel gegenüber einer zentralen politischen Einrichtung, wie Regierung oder Parlament, muß dagegen allgemeiner Natur sein; er muß möglichst die Arbeiterklasse des ganzen Staates ergreifen und möglichst alle Arbeiterschichten. Er wird nur dann gelingen, wenn seine Wucht so gewaltig ist, daß sie auch Arbeiterschichten mitreißt, die für einen Demonstrationsstreik nicht zu haben sind, zum Beispiel Eisenbahner.
Will die Genossin Luxemburg bloß lokale Demonstrationsstreiks propagieren oder die augenblickliche Bewegung bis zum allgemeinen Zwangsstreik weitergetrieben sehen? Das ist aus ihrem Artikel nicht deutlich zu erkennen, und doch ist es wichtig, darüber klar zu sein. Gar mancher wird lokale Proteststreiks in der heutigen Situation für wünschenswert halten, der den Gedanken eines Zwangsstreiks als verbrecherische Torheit zurückweisen würde. Andererseits, wenn wir den Gedanken des Massenstreiks ohne jede Unterscheidung propagieren, obwohl wir nur Demonstrationsstreiks für notwendig halten, kann es uns passieren, daß wir bei lebhafteren Naturen wider unseren Willen den Gedanken des Zwangsstreiks großziehen und Aktionen hervorrufen, die wir nicht beabsichtigen, die weder der Situation noch den Kräfteverhältnissen entsprechen und zu Niederlagen führen. Vergessen wir nicht, daß der Massenstreik als Zwangsstreik unsere letzte Waffe ist, die wir einzusetzen haben.
Genossin Luxemburg spricht vom Massenstreik „namentlich als kurzem, einmaligem Demonstrationsstreik“. Sie hat also auch andere Formen des Massenstreiks im Auge. Das geht auch daraus hervor, daß sie den politischen Massenstreik in Zusammenhang bringt mit ökonomischen Streiks und dabei die Ansicht entwickelt, der eine dieser Faktoren fördere den anderen:
„Bei näherem Zusehen kann das Zusammentreffen eines umfangreichen Massenstreiks im Kohlenbergbau mit einer politischen Streikbewegung für beide nur von Nutzen sein. In jeder großen Massenbewegung des Proletariats wirken zahlreiche politische und wirtschaftliche Momente zusammen, und sie voneinander künstlich losschälen, sie pedantisch auseinanderhalten zu wollen, wäre ein vergebliches und schädliches Beginnen. Eine gesunde, lebensfähige Bewegung, wie die gegenwärtige preußische Kampagne, muß und soll aus allem aufgehäuften sozialen Zündstoff Nahrung schöpfen. Andererseits kann für den Erfolg der engeren Bergarbeitersache nur von Nutzen sein, wenn sie dadurch, daß sie in eine breitere, politische einmündet, den Gegnern – den Kohlenmagnaten und der Regierung – mehr Furcht einflößt. Um so eher würden diese sich gezwungen sehen, durch Konzessionen die Bergarbeiter zu befriedigen und sie von der politischen Sturmflut zu isolieren suchen.“
Ein ökonomischer Streik ist von vornherein ein Zwangsstreik, kein bloßer Demonstrationsstreik. Mit einem solchen läßt sich ein ökonomischer Streik kaum vereinbaren. Aber auch der politische Zwangsstreik und der ökonomische Streik sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Ich muß aber offen gestehen, daß ich „pedantisch“ genug bin, das „vergebliche und schädliche Beginnen“ zu wagen, beide Arten des Kampfes „auseinanderhalten“ zu wollen. Das Leben ist nämlich bisher so pedantisch gewesen, dies ebenfalls zu tun, schon aus dem einfachen Grunde, weil jede der beiden Arten von Streiks ganz verschiedenen Bedingungen des Erfolges unterliegt.
Genossin Luxemburg wird mich vielleicht auf Rußland 1905 verweisen. Dort herrschte damals die Revolution. In einer solchen Situation, wo die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens umgewälzt wird, vereinigen sich natürlich politische und ökonomische Forderungen in einer gleichzeitigen Streikbewegung. Indes vorläufig haben wir in Preußen noch nicht die Revolution.
In den Wahlrechtskämpfen Westeuropas wurde aber bisher das ökonomische und das politische Moment streng geschieden. Im österreichischen Wahlrechtskampf versuchten einmal Gewerkschafter, namentlich Bergarbeiter, mit der Bewegung für das allgemeine Wahlrecht eine Bewegung für den Achtstundentag zu vereinigen. Die Mehrheit unserer österreichischen Genossen war pedantisch genug, darin nicht eine Förderung, sondern eine Erschwerung des Wahlrechtskampfes zu sehen (vgl. darüber die Verhandlungen des Wiener Parteitags 1894). Auch aus anderen Ländern Westeuropas ist mir eine Vereinigung von Wahlrechtskampf mit ökonomischen Forderungen nicht bekannt geworden. Und daß es hier zu einer solchen Vereinigung nicht kam, ist nicht schwer zu begreifen.
Nehmen wir an, die Bergarbeiter streikten, um auf die Regierung und den Landtag wegen des Wahlrechtes und gleichzeitig auf die Zechenherren wegen der Verkürzung der Arbeitszeit einen Druck zu üben.
In welcher Weise könnte die eine dieser Bewegungen die andere fördern? Die Grubenbesitzer würden doch, wenn der Streik sie bedrängt, nur zu dem Zwecke nachgeben, die Arbeiter wieder zur Arbeit zurückzuführen. Wenn aber diese weiterstreiken wollen, bis das Wahlrecht reformiert ist, welchen Zweck hätte es, ihre ökonomischen Forderungen zu bewilligen?
Oder aber, die Grubenherren geben nach, bewilligen den Arbeitern ihre ökonomischen Forderungen unter der Bedingung, daß sie die Arbeit sofort wieder aufnehmen. Das ist der Fall, den die Genossin Luxemburg im Auge hat: die Kohlenmagnaten würden sich gezwungen sehen, „durch Konzessionen die Bergarbeiter zu befriedigen und von der politischen Sturmflut zu isolieren“.
Die Verquickung des allen Arbeitern gemeinsamen politischen Kampfesziels mit besonderen, für verschiedene Arbeitszweige verschiedenen gewerkschaftlichen Zielen böte also ein Mittel, die einzelnen Arbeiterschichten voneinander zu isolieren. Wie dadurch der Massenstreik als Mittel des Wahlrechtskampfes gestärkt werden soll, ist mir nicht ganz klar.
Wenn wir die Frage diskutieren, müssen wir also Demonstrationsstreik und Zwangsstreik, ebenso wie politischen und ökonomischen Streik streng auseinanderhalten.
Andererseits aber geht es nicht an, sich für die gegenwärtige Situation in Preußen auf das Vorbild anderer Länder zu berufen. Genossin Luxemburg schreibt:
„Es gilt zu entscheiden, ob die deutsche Sozialdemokratie, die sich auf die stärksten Gewerkschaftsorganisationen und das größte Heer der Wähler in der Welt stützt, eine Massenaktion zustande bringen kann, die im kleinen Belgien, in Italien, in Österreich-Ungarn, in Schweden – von Rußland gar nicht zu sprechen – in verschiedenen Zeiten mit großem Erfolg zustande gebracht worden ist.“
Was Österreich in diesem Zusammenhang zu tun hat, weiß ich nicht. Dort ist es zum Massenstreik im Wahlrechtskampf überhaupt nicht gekommen.
Wohl hätien dort die Straßendemonstrationen schließlich den Kampf nicht entschieden; ohne die Unruhen in Ungarn und die russische Revolution wäre der Massenstreik wahrscheinlich auch in Österreich unerläßlich geworden. Ich bin der letzte, der das leugnen möchte. Aber auf keinen Fall beweist das österreichische Beispiel, daß die rasche Steigerung der Bewegung von der Straßendemonstration zum Massenstreik binnen weniger Monate, ja Wochen unter allen Umständen ein Gebot der inneren Logik einer modernen Massenaktion des Proletariats sei. Was das russische Beispiel anbelangt, so vollzog sich dort, wie schon bemerkt, der erste erfolgreiche Massenstreik unter Bedingungen, wie sie heute in Preußen nicht bestehen: ein Krieg schmählich verloren, die Armee desorganisiert, alle Klassen der Bevölkerung voll Haß und Verachtung gegen die Regierung. Hier war der Massenstreik der letzte Stoß, der ein wankendes Regime zum Fallen brachte. Mit diesem Beispiel ist bei uns augenblicklich auch nichts anzufangen. Die anderen Beispiele von Massenstreiks entsprangen ökonomischen Kämpfen, nicht einem Wahlrechtskampf, außer dem des „kleinen Belgien“. Warum Genossin Luxemburg die Kleinheit Belgiens besonders hervorhebt, ist nicht recht ersichtlich. Sollte in einem kleinen Gebiet ein Streik schwerer durchführbar sein als in einem großen, etwa in ganz Deutschland leichter als im Ruhrrevier allein? Ich dächte, das Umgekehrte wäre der Fall. Andererseits besitzt aber Belgien bis heute noch nicht das gleiche Wahlrecht. Mit diesem Beispiel kommen wir also auch nicht weit.
Der Bück ins Ausland nützt uns demnach nichts. Wir müssen unsere Taktik aus den Bedingungen der heutigen Situation in Preußen selbst entwickeln.
Die moderne Kriegswissenschaft unterscheidet zwei Arten von Strategie, die Niederwerfungs- und die Ermattungsstrategie. Die erstere zieht ihre Streitkräfte rasch zusammen, um dem Feinde entgegenzugehen und entscheidende Stöße zu versetzen, in denen dieser niedergeworfen und kampfunfähig gemacht wird. Bei der Ermattungsstrategie dagegen weicht der Feldherr zunächst jeder entscheidenden Schlacht aus; er sucht die gegnerische Armee durch Manöver aller Art stets in Atem zu erhalten, ohne ihr Gelegenheit zu geben, ihre Truppen durch Siege anzufeuern; er strebt danach, sie durch ewige Ermüdung und Bedrohung allmählich aufzureiben und ihre Widerstandskraft immer mehr herabzudrücken und zu lähmen. Die gewöhnliche Strategie des Krieges ist die der Niederwerfung. Von vornherein muß sie größere Anziehungskraft für jeden Kämpfer haben; sie ist einfacher, klarer, anfeuernder. Zur Ermattungsstrategie wird sich ein Feldherr nur dann verstehen, wenn er keine Aussicht hat, durch die Niederwerfungsstrategie zu seinem Ziele zu kommen. Aber auch da ist sie ihm nicht immer verstattet. Die Ermattungsstrategie setzt Kämpfer voraus, die nicht die Aussicht auf Sieg und Beute zu den Fahnen führt; die unter allen Umständen, mag kommen, was da will, mit Leib und Seele an ihrer Sache hängen. Sie setzt ferner voraus, daß die Lebensquellen der Armee dem Gegner unzugänglich sind. Die Ermattungsstrategie findet ihr Ende, wenn es dem Gegner gelingt, die Gebiete zu besetzen, aus denen die eigene Armee ihre Rekruten, Lebensmittel, Waffen bezieht.
In dem Kampfe Hannibals gegen Rom war für jenen die Niederwerfungstaktik gegeben, denn er stand an der Spitze eines Söldnerheers, das nur durch Erfolge angefeuert, durch Sold und Beute zusammengehalten wurde und das bei längerer Dauer des Krieges an Kriegstüchtigkeit durch Strapazen und Krankheiten nur verlieren konnte.
Anders die Römer. Ihre Soldaten waren bäuerliche Milizen, den kriegsgewohnten Söldnern Hannibals in offener Feldschlacht zunächst nicht gewachsen. Je länger der Krieg dauerte, desto ebenbürtiger wurden sie dem Feinde. Dabei war nicht zu befürchten, daß hinhaltende Taktik sie kampfesmüde machen werde. In dem Kampfe handelte es sich für sie um ihre Existenz, um den eigenen Herd. Trotzdem hätte Fabius Cunctator seine anscheinende Zaudertaktik Hannibal gegenüber nicht durchführen können, wenn er nicht sicher gewesen wäre, daß dieser nicht über die Kräfte verfüge, die erheischt seien, Rom zu erobern oder auch nur zu belagern.
Einen Unterschied ähnlicher Art bietet ein Vergleich der Strategie der revolutionären Klassen in den ersten und den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. Durch ein Zusammentreffen günstiger Umstände war es den Revolutionären in Frankreich während der Zeit von 1789 bis 1793 gelungen, in kühnem Angriff durch einige entscheidende Schläge das herrschende Regime niederzuschlagen. Diese Niederwerfungsstrategie war damals, im absoluten Polizeistaat, der jede Möglichkeit der Bildung von Parteien, der gesetzlichen Beeinflussung der Regierungen durch die Volksmasse ausschloß, die einzig gegebene für eine revolutionäre Klasse. Jede Ermattungsstrategie wäre daran gescheitert, daß die Regierung stets die Möglichkeit hatte, ihren Gegnern, die sich zu dauerndem Widerstand gegen sie vereinigen wollten, alle Mittel der Organisierung und des Zusammenhaltes abzuschneiden. Diese Niederwerfungsstrategie war noch in voller Blüte, als unsere Partei gegründet wurde. Die Erfolge Garibaldis in Süditalien, die glänzenden, wenn auch schließlich erfolglosen Kämpfe der polnischen Insurrektion gingen unmittelbar der Lassalleschen Agitation und der Gründung der Internationale vorher. Bald folgte ihnen die Pariser Kommune. Aber gerade diese zeigte deutlich, daß die Tage der Niederwerfungstaktik vorläufig vorüber seien. Sie hatte gepaßt für politische Zustände, in denen eine Großstadt dominiert, bei unzureichenden Transportmitteln, die es unmöglich machten, rasch große Truppenmassen aus dem Lande zusammenzuziehen; bei einer Technik des Straßenbaues und der Bewaffung, die für den Straßenkampf manche Chancen bot.
Gerade damals wurden jedoch die Grundlagen gelegt für die neue Strategie der revolutionären Klasse, die Engels in seinem Vorwort zu den Marxschen Klassenkämpfen in Frankreich der alten revolutionären Strategie so scharf gegenüberstellte und die man sehr wohl als Ermattungsstrategie bezeichnen kann. Sie hat uns bisher die glänzendsten Resultate gebracht, dem Proletariat von Jahr zu Jahr wachsende Kraft verliehen, es immer mehr in den Mittelpunkt der europäischen Politik gedrängt.
Man darf aber nicht etwa meinen, die Einführung der neuen Strategie sei bloß das Produkt höherer Einsicht gewesen. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Ermattungsstrategie für eine revolutionäre Klasse früher unmöglich war. Dazu mußte erst der Boden geschaffen werden durch das allgemeine Wahlrecht, das Koalitionsrecht, die Pressefreiheit, die Vereinsfreiheit.
Ebensowenig darf man andererseits meinen, als mache die Ermattungsstrategie jede Schlacht überflüssig. Das dürfte kaum je der Fall gewesen sein. Die Ermattungsstrategie unterscheidet sich von der Niederwerfungsstrategie nur dadurch, daß sie nicht, wie diese, direkt auf den Entscheidungskampf losgeht, sondern ihn lange vorbereitet und sich ihm erst dann stellt, wenn sie den Gegner genügend geschwächt weiß. Aber dieser müßte schon außergewöhnlich demoralisiert sein, sollte es gelingen, ihm ohne großes, entscheidendes Ringen die Quellen seiner Machtmittel zu entreißen. Die Ermattungsstrategie der Römer gegenüber Hannibal befreite sie nicht von der Notwendigkeit, dem Feldherrn der Karthager schließlich die entscheidende Schlacht von Zama zu liefern. Aber auch schon vor der letzten Entscheidung vermag die Ermattungsstrategie nicht jeder Schlacht ausweichen, die der Gegner herbeizuführen sucht.
So war auch, um im Bilde zu bleiben, Friedrich Engels durchaus nicht der Ansicht, die Ermattungsstrategie des Proletariats werde ausreichen und ihm den großen Endkampf um die politische Macht ersparen. Wenn sein „politisches Testament“ von revisionistischer Seite so ausgelegt wurde, so tat sie ihm damit Gewalt an.
Auch darin unterscheidet sich die Ermattungsstrategie, wie sie Engels in seinem „Testament“ formulierte, von der Taktik des Revisionismus, daß jene von der Unversöhnlichkeit und steten Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen dem Proletariat und den besitzenden Klassen ausgeht, indes diese die Milderung der Klassengegensätze erwartet. Um im Bilde zu bleiben, verzweifelt diese an der Kraft der eigenen Armee, ohne Allianz mit einer anderen Armee zum Ziele zu gelangen; sie glaubt, in einem Flügel der feindlichen Streitkräfte einen Bundesgenossen zu finden und mit dessen Hilfe so weit zu kommen, daß der Gegner aus seinen Positionen hinausmanövriert wird, ohne jede Entscheidungsschlacht.
Die Ermattungsstrategie im Engelsschen Sinne hegt dagegen das stärkste Vertrauen zur Kraft und Zuverlässigkeit der eigenen Armee, sobald man sie zweckmäßig anwendet. Nur unter der Voraussetzung eines solchen Vertrauens ist diese Strategie möglich. Dagegen ist sie voll des stärksten Mißtrauens zu allen bürgerlichen Parteien. Wohl verkennt sie nicht deren Verschiedenheiten und Gegensätze, und sie sucht sie nach Möglichkeit auszunutzen. Aber sie betrachtet jede dieser Parteien als Feind, sucht jede von ihnen zu schwächen, zu desorganisieren, ihr Selbstvertrauen, ihre Achtung in der Volksmasse zu untergraben, indes sie gleichzeitig die Stärkung der eigenen Organisation, sowie des Zutrauens der Massen zu uns aufs unermüdlichste betreibt, und so den Zusammenbruch der Gegner und den eigenen Sieg vorbereitet. Engels hätte eine Politik für Dummheit oder für Verrat gehalten, die darauf hinauslief, unsere Partei und ihre Macht dadurch stärken zu wollen, daß man den Massen Zutrauen zu einer bürgerlichen Partei einflößte und vor ihnen die Verantwortung für diese Partei übernahm. Welche Vorteile diese famose Taktik bringt, konnte sie in Frankreich zeigen, wo sie Gelegenheit hatte, sich in ausgiebiger Weise praktisch zu erproben. Die Teilnahme an der politischen Macht hat das erbauliche Resultat gezeitigt, daß die sozialistische Partei die Gesinnungslumpen lieferte, die jetzt als Minister den Diebstahl an Staatsgeldern verteidigen, und daß die sozialistische Partei in weiten Kreisen des französischen Proletariats als die Brutstätte gleicher Lumperei und Korruption betrachtet wird.
Sicher ist es nicht leicht, die Ermattungsstrategie im Engelsschen Sinne zu handhaben. Und doch gelang es der deutschen Sozialdemokratie glänzend unter dem Sozialistengesetz, wo sie diese Strategie sowohl gegen die Forderung der Mostianer nach Anwendung der Niederwerfungsstrategie wie gegen die Bestrebungen der damaligen Revisionisten von Höchberg und Schramm bis Viereck nach Gewinnung bürgerlicher Sympathien durch Abschwächung des Kampfescharakters unserer Bewegung durchzuführen verstand. Eine Lücke bot aber jenes Engelssche „Testament“ insofern, als es nichts darüber sagte, welche Kampfesmittel dem Proletariat für den Fall zu Gebote ständen, den er für sicher ansah, daß unsere Gegner, durch das unaufhaltsame Wirken unserer Ermattungsstrategie zur Verzweiflung gebracht, eines schönen Tages einen Gewaltstreich versuchen, um uns von unserer Basis abzuschneiden. Die Antwort war in der belgischen Praxis bereits gegeben, als Engels sein „Testament“ schrieb, sie hat ein Jahrzehnt später die Zustimmung der deutschen Sozialdemokratie gefunden, nachdem eine Reihe weiterer praktischer Erfahrungen gesprochen. Der Massenstreik kann unter Umständen ein Mittel werden, die Ermattungsstrategie im politischen Kampfe des Proletariats in die Niederwerfungsstrategie überzuführen, wenn die erstere unzureichend oder unmöglich wird. Hier ist das Wort Massenstreik im Sinne von Zwangsstreik zu nehmen. Über den Demonstrationsstreik brauchte man nicht so lange zu diskutieren. Den hat unsere Partei bereits seit 1890 ohne weiteres akzeptiert, als sie die Arbeitsruhe für die würdigste Feier des 1. Mai erklärte.
Wenn heute die Frage aufgeworfen wird, ob es unsere Aufgabe ist, auf den Ausbruch eines Massenstreiks hinzuarbeiten, so heißt das nichts anderes als die Frage aufwerfen, ob die Fortführung der bisherigen Ermattungsstrategie unserer Partei jetzt schon unmöglich geworden ist oder unsere Partei schwer bedroht.
Wohlgemerkt, es handelt sich nicht darum, zu untersuchen, welche Aussichten ein Massenstreik haben mag, den irgendein plötzliches Ereignis, sagen wir ein Blutbad nach einer Straßendemonstration, ganz spontan ohne unser Zutun herbeiführt. Darüber sich den Kopf zu zerbrechen, wäre zwecklos, weil wir über die Bedingungen eines derartigen Ereignisses nichts wissen, darauf auch gar keinen Einfluß haben. Was hier zur Erörterung steht, ist die Frage, ob unsere Ermattungsstrategie nicht länger mehr am Platze ist; ob die Situation sich so geändert hat, daß die Niederwerfungsstrategie bessere Erfolge verspricht, oder ob gar die erstere Strategie unmöglich wird, ob sie bei längerer Fortdauer zur Demoralisierung der eigenen Reihen führen muß; ob, um diese zusammenzuhalten und mit Kampfesmut und Zuversicht zu erfüllen, die Einleitung einer neuen Taktik unerläßlich ist, die wir, unter Übertragung eines militärischen Begriffs in die Welt der Politik, als die der Niederwerfung bezeichnet haben, als Taktik der Niederwerfung des Widerstands der Gegner des gleichen Wahlrechts durch einen gewaltigen Stoß.
Die erste Frage, die wir da zu erörtern haben, geht dahin: Ist unsere Situation wirklich eine solche, daß uns nur die Wahl bleibt zwischen Massenstreik oder Zusammenbruch der Massenaktion?
Wie jede Strategie ist auch die Ermattungsstrategie an bestimmte Bezwingungen geknüpft, die allein sie möglich und zweckmäßig machen. Es wäre Torheit, sie unter allen Umständen durchführen zu wollen, und der Umstand, daß wir jahrzehntelang mit ihr die glänzendsten Erfolge erzielten, ist für sich allein kein Grund, an ihr festzuhalten, geänderte Umstände können sehr wohl ein Abgehen von ihr erheischen.
Die Ermattungsstrategie wird im Kriege unmöglich oder unzweckmäßig dann, wenn der Feind uns von unserer Basis abzuschneiden der diese selbst wegzunehmen droht. Da wird es ein Gebot der Selbsterhaltung, ihn niederzuwerfen, ehe er dazu gelangt. Ebenso muß die Ermattungsstrategie aufgegeben werden, wenn sie die eigenen Truppen demoralisiert und entmutigt, wenn sie Feigheit und Fahnenflucht herbeizuführen droht und nur ein kühner Schlag die Armee aufzurichten und zusammenzuhalten vermag.
Das Eingreifen der Offensive zu einem solchen Schlage wird auch dann unvermeidlich, wenn wir in eine Sackgasse geraten sind, in der wir nur die Wahl haben zwischen Niederwerfung des Feindes oder schimpflicher Kapitulation.
Endlich ist der Übergang zur Niederwerfungsstrategie geboten, wenn der Feind selbst in eine Klemme geraten ist, wenn sich uns eine günstige Situation bietet, deren rasche und energische Ausnutzung es ermöglicht, ihm einen gewaltigen, vielleicht tödlichen Schlag zu versetzen.
Die Übertragung dieser Darlegungen aus dem Militärischen ins Politische bedarf keiner langen Auseinandersetzung.
Als der Parteitag von Jena den Massenstreik, jedenfalls im Sinne des Zwangsstreiks, als eines unserer Kampfesmittel anerkannte und es damit für möglich erklärte, daß wir einmal von der Ermattungsstrategie zur Niederwerfungsstrategie übergehen, da faßte er zunächst nur den ersten der eben entwickelten Fälle ins Auge, daß der Feind unsere Basis bedroht, unseren Kampf in der bisherigen Weise durch de Antastung des Reichstagswahlrechtes oder sonstiger Lebensbedingungen der proletarischen Organisation und Propaganda unmöglich macht.
Ein solcher Fall liegt in der jetzigen Situation nicht vor. Wird aber der Massenstreik etwa deshalb notwendig, weil wir augenblicklich nur noch durch stete und rasche Steigerung unserer Aktionsmittel die Massen an unsere Fahne heften können? Da sie uns sonst verlassen und anderen Parteien zuströmen oder mißmutig und enttäuscht der ganzen Politik den Rücken kehren, weil bei ihr doch nichts herauskommt?
Genossin Luxemburg scheint das zu glauben, wenn sie von dem „Dilemma“ spricht, vor dem die „Dreimillionenpartei“ steht: „Entweder um jeden Preis vorwärts, oder die begonnene Massenaktion bricht erfolglos in sich zusammen.“
Dies Dilemma soll die Folge der inneren Logik einer jeden Massenbewegung sein. Genossin Luxemburg erklärt, daß
„die Massenkundgebungen ihre eigene Logik und Psychologie haben, mit denen zu rechnen ein dringendes Gebot für Politiker ist, die sie meistern wollen. Die Äußerungen des Massenwillens im politischen Kampfe lassen sich nämlich nicht künstlich auf die Dauer auf einer und derselben Höhe erhalten, in ein und dieselbe Form einkapseln. Sie müssen sich steigern, zuspitzen, neue, wirksamere Formen annehmen. Die einmal entfachte Massenaktion muß vorwärts kommen. Und gebricht es der leitenden Partei im gegebenen Moment an Entschlossenheit, der Masse die nötige Parole zu geben, dann bemächtigt sich ihrer unvermeidlich eine gewisse Enttäuschung, der Elan verschwindet und die Aktion bricht in sich zusammen.“
Also nicht aus den Bedingungen der gegebenen Situation leitet die Genossin Luxemburg die Notwendigkeit des Massenstreiks ab, sondern aus allgemeinen psychologischen Erwägungen, die für jede Massenaktion gelten sollen, wo und wann immer diese vor sich gehen mag. Stets muß sie sich zuspitzen, neue, wirksamere Formen annehmen. Hat man einmal eine Massenaktion eingeleitet, so muß sie rasch vorwärts gehen, von Straßendemonstrationen zum Demonstrationsstreik, vom Demonstrationsstreik zum Zwangsstreik – und was dann? Welche „Zuspitzung“ bleibt uns dann noch übrig? Die Auffassung, die Genossin Luxemburg hier vorbringt, entsprach sehr wohl den Verhältnissen der russischen Revolution, also Bedingungen, unter denen die Niederwerfungstaktik am Platze war. Sie steht aber in vollem Widerspruch mit den Erfahrungen, auf denen die Ermattungsstrategie unserer Partei beruht. Diese beruht gerade auf der Erkenntnis, daß das Proletariat ein zäher Kämpfer ist, an Zähigkeit und Ausdauer den anderen Klassen überlegen; daß es Massenaktionen viele Jahre lang durchführen kann, ohne bei der Wahl seiner Aktionsmittel etwas anderes in Betracht zu ziehen als ihre jeweilige Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit; daß es, um zu seinen letzten und schärfsten Mitteln zu greifen, noch andere und triftigere Gründe haben muß als das Bedürfnis, die bisher angewandten zu überbieten.
Die Genossin Luxemburg ist ja mehrfach auf das österreichische Vorbild zu sprechen gekommen. Über ein Dutzend Jahre hat dort der Wahlrechtskampf gedauert; schon 1894 wurde die Anwendung des Massenstreiks von den österreichischen Genossen erwogen, und doch vermochten sie bis 1905 ihre glänzende Massenbewegung ohne jede Steigerung und Zuspitzung im Gange zu halten, die für die Genossin Luxemburg die „innere Logik“ einer jeden Massenbewegung ist. Nie sind die Genossen Österreichs in ihrem Wahlrechtskampf über Straßendemonstrationen hinausgegangen, und doch verschwand nicht ihr Elan, brach ihre Aktion nicht zusammen.
Und die Proletarier Deutschlands können es an Zähigkeit sicher mit denen Österreichs aufnehmen.
Gäbe es keinen anderen Grund, jetzt im Wahlrechtskampf über die Straßendemonstrationen und eventuelle lokale Proteststreiks hinaus zu schärferen Mitteln zu greifen und anstelle der Ermattungsstrategie die Niederwerfungsstrategie zu setzen – bestünde in der „inneren Logik“ jeder Massenaktion der einzige Grund für das Vorwärtstreiben zum Massenstreik, dann wäre dessen Begründung etwas dürftig. Wenn die Sozialdemokratie von ihren Anfängen an die Ermattungsstrategie akzeptierte und zur Vollkommenheit entwickelte, so geschah es nicht bloß deshalb, weil die damals gegebenen politischen Rechte ihr eine Basis dazu boten, sondern auch deshalb, weil die Marxsche Theorie des Klassenkampfes ihr die Gewähr gab, daß sie auf das klassenbewußte Proletariat stets rechnen kann, solange sie seine Klasseninteressen energisch verficht, mag sie die Massen durch Erfolge oder neue Sensationen begeistern oder nicht.
Sicher strebt der Proletarier mit allen Fasern seines Herzens nach dem raschesten Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung, die ihn so furchtbar mißhandelt. Wenn ihm die Möglichkeit winkt, diese Gesellschaftsordnung über den Haufen zu werfen, wird ihn niemand davon abhalten können, und wollte die Sozialdemokratie es versuchen, würde er sie verächtlich beiseite schieben.
Aber so steht die Sache heute nicht. Es gibt heute nur eine Partei, die der Feind der bürgerlichen Gesellschaft ist, die Sozialdemokratie. Das Proletariat findet keine andere, die es schneller zum Siege führen könnte, es findet keine andere, die es überhaupt zum Siege führen wollte und könnte; es findet keine, die auch nur innerhalb der heutigen Produktionsweise seine Klasseninteressen im Gegensatz zu den bürgerlichen Interessen verträte.
Proletarier können durch Unwissenheit einer bürgerlichen Partei zugeführt werden, nicht durch revolutionäre Ungeduld. Kann aber diese Ungeduld nicht in ihr Gegenteil umschlagen, in Erschlaffung und Mutlosigkeit, wenn sie enttäuscht wird, wenn die Sozialdemokratie ihre Erwartungen nicht erfüllt? Sicher ist das möglich. Wann aber wird das eintreten? Wenn unsere Partei Erwartungen rege macht, die sie nicht erfüllen kann; wenn sie mehr verspricht, als sie zu leisten vermag. Ist das heute der Fall?
Wenn die Sozialdemokratie den Massen versprochen hätte, binnen weniger Monate das gleiche Wahlrecht in Preußen um jeden Preis durchzusetzen, dann allerdings würde sie die Massen schwer enttäuschen, wenn sie nun nicht alles aufböte, die Aktion rasch zu steigern und die Massen zur Anwendung ihrer letzten und schärfsten Kampfesmittel anzuspornen. Dann stände sie wohl vor dem Dilemma: entweder das Äußerste zu wagen, mag daraus kommen, was da wolle, oder einen bedenklichen moralischen Zusammenbruch zu erleiden, der ihre Werbekraft für längere Zeit zu lähmen vermöchte. Aber die Sozialdemokratie Preußens hat nie derartiges versprochen. Im Gegenteil. Wir dürfen darauf hinweisen, daß gerade die Marxisten es waren, die stets betonten, der Wahlrechtskampf in Preußen sei noch schwieriger als anderswo, weil es sich hier nicht um eine bloße Wahlreform handle, die ein paar Mandatsverschiebungen nach sich ziehe, sondern um den Sturz der Junkerherrschaft. Diese verliert ihre Grundlage mit dem gegenwärtigen Wahlrecht in Preußen. Sie wird es mit Nägeln und Zähnen aufs äußerste verteidigen. Die Erringung des freien Wahlrechts bedeutet in Preußen etwas ganz anderes als etwa in Bayern oder Baden oder Österreich; sie fällt zusammen mit der Niederwerfung des Junkertums.
Ich darf hier wohl daran erinnern, daß ich diese Auffassung unter anderen in Polemiken gegen die Genossen Eisner und Stampfer in den Jahren 1905 und 1906 entwickelte, die damals zu den energischsten Aktionen trieben und mich angriffen, weil ich von einer Agitation abriet, die uns auf den politischen Massenstreik verpflichte, der unter den Verhältnissen Deutschlands nur in einer revolutionären Situation einen Sinn habe. Wie wurde ich von Eisner und Stampfer abgekanzelt, weil ich in der Frage des Wahlrechtskampfes den Standpunkt eines „opportunistischen Krämers“ einnehme und in der Frage des Massenstreiks die russische Revolution verraten habe! Ich verfocht damals die gleiche Auffassung wie heute. Es wäre höchst leichtfertig gewesen, hätte unsere Partei versprochen, mit einem so gewaltigen Gegner wie Junkertum und preußische Regierung binnen weniger Monate fertig zu werden. Das haben wir auch nie getan. Die deutsche Sozialdemokratie hat nie die Parole ausgegeben: Niederwerfung des gegenwärtigen Regimes durch eine sich rasch steigernde Aktion binnen weniger Monate, sondern nur die Parole: Keine Ruhe in Preußen, solange nicht das gleiche, geheime, direkte Wahlrecht erobert ist.
Das haben wir versprochen, dies Versprechen sind wir verpflichtet zu halten. Das besagt aber nur, daß es gilt, die Aktionsmittel, die unsere Genossen heute schon mit so großem Erfolg angewandt haben, vor allem die Straßendemonstration, weiter zur Anwendung zu bringen, darin nicht zu erlahmen, sie im Gegenteil immer machtvoller zu gestalten. Aber wir haben nicht die geringste Verpflichtung, „um jeden Preis vorwärts“ zu gehen und „die Straßendemonstration jetzt schon als ein bald von der Welle der Ereignisse überholtes Mittel“ zu betrachten, das durch ein schärferes zu ersetzen ist.
Das Dilemma, von dem die Genossin Luxemburg spricht, tritt erst dann ein, wenn wir eine Propaganda für den Massenstreik entfalten, wenn wir erklären, Straßendemonstrationen genügten uns nicht, eine rasche, stete Steigerung der Mittel der Massenaktion sei erforderlich. Wenn wir eine derartige Propaganda entfalten, wenn wir in den Massen die Erwartung wachrufen, nun gehe es mit Hurra, Marsch Marsch vorwärts an die Niederwerfung des Feindes durch die schärfsten Mittel, über die das Proletariat verfügt, dann werden wir allerdings binnen kurzem vor dem Dilemma stehen, entweder die Massen aufs tiefste zu enttäuschen oder mit einem gewaltigen Satze dem Junkerregime an die Gurgel zu fahren, um es niederzuwerfen oder von ihm niedergeworfen zu werden.
Heute besteht dies Dilemma noch nicht. Heute sind wir noch frei in der Wahl unserer Aktionsmittel.
Die Befürchtung, die Massen würden uns im Stich lassen, ist also kein Grund, uns zu veranlassen, zu schärferen Mitteln zu greifen, die ein Übergehen zur Niederwerfungstaktik bedeuten. Sicher verschärfen sich in jedem Kampfe die Gegensätze. Schon seine Dauer vermehrt die Erbitterung. Dazu kommt die Verschärfung der Klassengegensätze durch die ökonomische Entwicklung, das Wachsen der Machtmittel durch die Vergrößerung der Organisationen oder die Fortschritte der Technik. Aber nicht um diese allmähliche, von selbst eintretende „innere Logik“ der Verschärfung und Zuspitzung der Massenaktionen handelt es sich hier, sondern um ein Ergreifen neuer, schärferer Machtmittel, das durch eine „Parole“, eine planmäßige Agitation der Partei herbeigeführt werden soll.
Dafür ist ein Grund in der Furcht vor der Enttäuschung der Massen nicht gegeben. Das Dilemma, von dem die Genossin Luxemburg spricht, besteht für uns nicht, solange wir es nicht durch unsere Agitation selbst schaffen. Für uns dürfte es, außer dem in der Jenaer Resolution angeführten, nur noch einen Grund geben, die Ermattungsstrategie aufzugeben und zur Niederwerfungsstrategie durch rascheste Zuspitzung und Steigerung der Kampfesmittel der Massenaktion überzugehen: wenn unsere Gegner in eine Klemme gerieten, die es gälte, aufs rascheste auszunutzen, und die durch einen Massenstreik am wirksamsten auszunutzen wäre.
Ist die heutige Situation dieser Art? Das ist die entscheidende Frage. Von ihrer Beantwortung und nicht von der inneren Logik von Massenkundgebungen hängt es ab, ob eine Propagierung des Massenstreiks im gegebenen Moment zweckmäßig erscheint oder nicht. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als sei die jetzige Situation ein Produkt der Straßendemonstrationen. Man mag sagen: dank dem Umstand, daß die Sozialdemokratie zu schärferen Mitteln griff, hat sie die Massen begeistert und die Regierung in die Enge getrieben. Aber diese Begeisterung wird sich rasch verflüchtigen und die Regierung wieder an Ansehen, Kraft und Vernunft gewinnen, wenn wir nicht auf der einmal betretenen Bahn fortschreiten, das heißt unsere Mittel immer mehr verschärfen, dadurch die Massen immer mehr begeistern und die Regierung immer mehr in die Enge treiben, bis sie vor dem überwältigenden Ansturm der Massen zusammenbricht.
Wäre das die Situation, dann versündigte sich jeder schwer am Proletariat, der jetzt nicht mit allen Kräften daran arbeitete, es zu schärferen Kampfesmethoden anzutreiben. Aber mir scheint die Situation anders zu liegen.
Sicher haben die Straßendemonstrationen große Begeisterung erregt. Sicher ist die Regierung in die Enge getrieben. Aber wenn es so ohne weiteres möglich wäre, auf solche Weise Begeisterung zu wecken und das Ansehen sowie die Kraft der Regierung zu schwächen, warum haben wir nicht schon längst zu diesem einfachen Mittel gegriffen? Umgekehrt wird eben ein Schuh daraus. Unter den preußischen Verhältnissen war ein Gelingen der Straßendemonstrationen und ihre große moralische Wirkung erst möglich, nachdem die Sozialdemokratie eine Partei großer Massen geworden und diese in die größte Erregung geraten waren. Nur dadurch, daß sie aus der tiefsten Erregung der Massen geboren waren, haben die Straßendemonstrationen ihren gewaltigen Umfang und ihre tiefe Wirkung erreicht, haben sie Begeisterung und Ermutigung in den Massen, Verwirrung und Kopflosigkeit bei der Regierung und den Regierungsparteien hervorgerufen. Es sind sehr tiefgehende Ursachen, denen diese gewaltige Erbitterung der Massen entspringt, Ursachen, die schon seit Jahren wirken und noch jahrelang bestehen werden. Ich habe sie in meinem „Weg zur Macht“ bereits gezeigt und brauche sie hier nur kurz zu rekapitulieren. Da haben wir vor allem die gewaltige Ursache weitester Unzufriedenheit: die Teuerung der Lebensmittel. Als ich in meinem „Weg zur Macht“ auf diese Teuerung als eine der Ursachen hinwies, die die Klassengegensätze zuspitzen und die revolutionäre Stimmung der Massen vermehren, hielt es das „Korrespondenzblatt der Gewerkschaften“ für notwendig, mich deshalb als Feind der Gewerkschaften zu denunzieren. Es war sehr ungehalten darüber, daß ich nicht im angeblichen Interesse der Gewerkschaften den Kopf in den Sand steckte und daß ich Tatsachen sah, die für die Theorie des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus sehr unbequem sind. Heute ist es jedermann klar, daß eine derartige Straußenpolitik wirkliche „Sisyphusarbeit“ wäre. Kein vernünftiger Mensch zweifelt mehr daran, daß die Teuerung seit einiger Zeit alle Lohnerhöhungen hinter sich läßt – aber freilich wird es auch keinen vernünftigen Menschen geben, der darin ein Argument gegen die Gewerkschaften sieht. Nicht gegen diese, sondern gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung werden die Massen durch die Teuerung aufgereizt.
Deren Wirkungen werden noch verstärkt durch das Wettrüsten, das gerade in letzter Zeit die wahnsinnigsten Dimensionen annimmt, da zu den Landrüstungen nun die Seerüstungen kommen, die viel rascher wachsen als jene. Denn bei der Marine spielt die Höhe der Technik eine größere Rolle als die Menge der Streitkräfte, und diese Höhe der Technik läßt sich bei dem nötigen Aufgebot von Geld rasch steigern. Daher das Wachstum des Steuerdrucks, was die Klassengegensätze noch mehr verstärkt, gleichzeitig aber auch die internationale Lage immer drohender gestaltet, denn die herrschenden Klassen können sich zu einer Abrüstung nicht verstehen. Außer dieser gibt es aber nur einen Ausweg, der immer unerträglicheren Steuerlast zu entgehen: einen Krieg.
Diese Verhältnisse sind international, führen überall zu wachsender Erregung der Massen, gleichzeitig aber auch zu wachsenden Gegensätzen der herrschenden Klassen untereinander; nicht nur zu wachsender internationaler Nervosität, sondern auch zu steigendem Gegensatz der Masse der bürgerlichen Welt – Kleinbürger, Intellektuelle, Händler und kleinere Kapitalisten gegen Grundbesitz, hohe Finanz und große industrielle Monopolisten, die alle Vorteile dieser unerträglichen Zustände einheimsen und alle Lasten auf die anderen abzuwälzen suchen. In Preußen erhält diese allgemeine internationale Situation eine besondere Verschärfung dadurch, daß hier das ostelbische Junkertum den Staat beherrscht und dadurch die Vorteile, die es auf Kosten der anderen Klassen einheimst, noch größer, deren Lasten noch gewaltiger, die allgemeinen Zustände noch unerträglicher macht.
Es gibt vielleicht keine Klasse in Europa, die so viel der brutalen Gewalt verdankt, wie das preußische Junkertum. Dabei gibt es unter den herrschenden Klassen Europas wohl keine, die unwissender wäre als diese, geographisch ganz abseits vom Weltverkehr gelegen und nie in die Notwendigkeit versetzt, sich durch überlegenes Wissen zu behaupten.
So haben die Junker keine Ahnung davon, daß ihre brutale Gewalt nur dort eine wirkliche Wirkung erzielte, wo sie in der Richtung der ökonomischen Entwicklung wirkte, namentlich in der Richtung der nationalen Einigung Deutschlands. Ihre Erfolge haben in ihnen einen Kultus der brutalen Gewalt als solcher entwickelt, und sie kehren diese Seite um so trotziger und rücksichtsloser hervor, je mehr sie ihre privilegierte Stellung bedroht sehen, das heißt je mehr diese Stellung in Widerspruch zu den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung gerät. Je schädlicher sie werden, desto dümmer, frecher und brutaler werden sie.
Das tritt natürlich vor allem und am meisten dem Proletariat und seiner Klassenpartei gegenüber zutage. Aber zusehends bekommen auch die bürgerlichen Massen und Parteien in immer höherem Grade diese Brutalität und Rücksichtslosigkeit zu spüren in der Art und Weise, wie das Junkertum Lebensmittel und Rohstoffe künstlich verteuert, die Steuern von sich abwälzt, alle guten Posten in Bürokratie und Armee für sich allein in Anspruch nimmt, Regierung, Gerichte, Polizei als seine Werkzeuge behandelt, die jede unbequeme Opposition niederzuknüppeln haben.
Endlich aber wird dieses Junkerregime selbst sehr entschiedenen Ausbeutern und Gegnern des Proletariats lästig, ja es erscheint ihnen unheimlich und gefährlich, wenn sie zu der Einsicht gekommen sind, die außerhalb Rußlands, Preußens und Japans die gesamte kapitalistische Welt erfaßt hat, daß die Arbeiterklasse eine zu gewaltige Macht geworden ist, als daß es noch möglich wäre, sie mit brutalen Zwangsmitteln niederzuhalten. Regierungen und Ausbeuter hassen das kämpfende Proletariat überall in gleicher Weise, aber in vorgeschrittenen Staaten haben sie doch erkannt, daß die Möglichkeit, seinen Fortschritt noch einigermaßen zu hemmen, nur noch in der Anwendung feinerer Mittel liegt, als sie der Polizeistaat aufzuwenden weiß; daß dies weit eher erreicht wird durch anscheinendes Entgegenkommen, das die Reihen der Proletarier spaltet, einen Teil ihrer energischsten Elemente korrumpiert und die anderen entkräftet, wie das in England, Amerika, Frankreich zeitweise gelungen ist.
Mit Grauen sehen die klügeren Verfechter der kapitalistischen Ausbeutung in Preußen und außerhalb Preußens im übrigen Deutschland, wie die kopflosen Brutalitäten der Junker und ihrer Regierung die Reihen der arbeitenden Klassen immer enger zusammenschließen, sie immer mehr erregen, ihr Fühlen und Denken immer revolutionärer gestalten. So wenden sich nicht bloß die arbeitenden Massen, sondern auch weite Schichten der bürgerlichen Welt immer stärker gegen das Junkerregime; aus den verschiedensten, mitunter recht widersprechenden Ursachen, aber alle immer mehr einig in der Überzeugung, daß dieses Regime Deutschland einem Abgrund zutreibt.
Am stärksten und einheitlichsten ist die Erbitterung in den unteren Schichten, die am meisten unter Teuerung, Steuerdruck und bürokratischer Mißhandlung zu leiden haben. Sie lenkt diese Schichten naturgemäß der Sozialdemokratie zu, läßt sie in dieser ihren Hort und den Verfechter ihrer Interessen sehen. Das sind die Gründe, die unseren Straßendemonstrationen eine solche Wucht und Bedeutung geben, die aber auch die Reihen unserer Wähler schwellen, wie jede Nachwahl zum Reichstag zeigt, die die allgemeinen Reichstagswahlen im nächsten Jahre zu einem furchtbaren Tage des Gerichts für die Regierung der preußischen Junker und deren ganze oder auch nur halbe Bundesgenossen zu machen droht. Gegnerische Wahlstatistiker rechnen bereits mit der Möglichkeit, daß wir bei den kommenden Wahlen 125 Mandate erobern.
Bis dahin können freilich noch anderthalb Jahre vergehen und das Volk vergißt schnell. Müssen wir nicht befürchten, daß inzwischen sein Grimm verraucht? Daß die Regierung durch einen geschickten Schachzug eine populäre Wahlparole findet, die ihr Ansehen wiederherstellt und all den Haß, all die Verachtung von ihr abwäscht, die sie in der letzten Zeit so reichlich überschüttet haben? Begeisterung ist bekanntlich keine Heringware, die sich einpökeln läßt; wollen wir aus ihr Nutzen ziehen, dann muß es sofort geschehen; und da uns heute dazu nicht der Kampfboden der Reichstagswahlen zu Gebote steht, müssen wir einen anderen schaffen und der kann nur der des Massenstreiks sein.
So wird also mancher denken, und diese Argumentation hätte manches für sich, wenn wir erwarten müßten, die Ursachen, die die heutige Erregung der Massen herbeiführten, würden zur Zeit der nächsten Reichstagswahlen nicht mehr wirken. Zu dieser Annahme ist aber kein Grund vorhanden.
Teuerung und Steuerdruck, aber auch junkerliche Brutalität sind in Verhältnissen begründet, die sich so leicht nicht ändern, sie werden 1911 ebenso stark wirken wie 1910, eher noch stärker, denn das Wettrüsten geht weiter. Wohl wird die Regierung ihr möglichstes tun, alle neuen Forderungen für die Zeit nach den nächsten Wahlen zu verschieben – ein Grund für sie, diese zu beschleunigen –, aber sie wird nicht können wie sie will. In England sind die Konservativen obenauf. Sie haben bereits das liberale Kabinett gezwungen, die Seerüstungen zu verstärken. Kommen sie selbst, wie zu erwarten, noch im Laufe dieses Jahres ans Ruder, dann wird das Rüsten in noch rascherem Tempo betrieben werden.
Die Teuerung aber wird sich nicht mindern. Wer wissen will, was wir auf diesem Gebiet zu erwarten haben, tut gut, die amerikanischen Verhältnisse zu verfolgen, die für den internationalen Lebensmittelmarkt entscheidend sind. Diese aber lassen nur eine weitere Steigerung der Preise befürchten.
Man wird vielleicht einwenden, die Arbeitslosigkeit habe nicht wenig dazu beigetragen, die Arbeitermassen zu erbittern, und die werde nach einem Jahre bedeutend zurückgegangen sein, da die Krisis überwunden sei. Daran ist so viel richtig, daß das nächste Jahr wieder das eines günstigeren Geschäftsganges zu werden verspricht. Aber ob eines glänzenden Geschäftsganges, ist zweifelhaft. Und noch mehr als schon in der letzten Prosperitätsperiode werden diesmal die Unternehmerverbände den Rahm abschöpfen und die Arbeiter von der Prosperität nicht viel mehr zu verspüren bekommen als die Teuerung; denn die Prosperität bedeutet ein Steigen der Warenpreise.
Andererseits darf man aber nicht meinen, in Zeiten der Prosperität seien die Arbeiter so zufrieden, daß Erbitterung über Entrechtung und Mißhandlung in ihnen nicht aufkomme. Man könnte auch umgekehrt sagen, in Zeiten der Krise seien die Arbeiter zaghaft und kampfunfähig, vor allem zu jedem Streik, also auch politischem Massenstreik, nicht zu haben, weil jeder froh sei, Arbeit zu finden oder zu behalten. Das eine ist, absolut genommen, ebenso falsch wie das andere. An dem einen wie an dem anderen ist so viel richtig, daß jede Aktion des Proletariats Hindernisse findet, sowohl zur Zeit der Krise wie zur Zeit der Prosperität, die sie beeinträchtigen. Daß jene seine Kampffähigkeit, diese seinen revolutionären Drang nicht so stark in Erscheinung treten läßt, als es sonst der Fall wäre. Ein proletarischer Politiker wird auf diese Verhältnisse wohl Rücksicht nehmen müsen bei der Wahl seiner Kampfesmittel. In der Zeit der Krise werden große Straßendemonstrationen leichter durchzuführen sein als Massenstreiks. In der Zeit der Prosperität dürfte der Arbeiter sich für einen Massenstreik leichter begeistern als während der Krise.
Wir haben aber nicht bloß mit Prosperität und Krise zu rechnen, sondern auch mit dem Wechsel zwischen Prosperität und Krise, und diese Perioden des Überganges, scheint es, sind jene, in denen der Arbeiter am aktionslustigsten ist; namentlich scheint dies der Fall zu sein in den ersten Zeiten der Prosperität, wenn noch die Erinnerung an die Entbehrungen, die quälende Unsicherheit, die Degradation der Krise in ihm lebendig ist, gleichzeitig aber auch das Kraftgefühl und die Kampfeslust, die der Prosperität entspringen.
So war die revolutionäre Kampfesstimmung des deutschen Proletariats am Ende der achtziger Jahre, die den Zusammenbruch des Sozialistengesetzes und den glänzenden Aufschwung der Reichstagswahl von 1890 herbeiführte, mit durch die Prosperität bedingt, die nach langer Krise 1888 einsetzte.
Wer sich jener Zeit erinnert, wird manche Ähnlichkeit mit der heutigen Situation herausfinden: auch damals ein Regime, das seinem Ende entgegenging, das bei den arbeitenden Klassen immer energischeren Widerstand fand, in der Bourgeoisie selbst immer geringere Begeisterung und Zuversicht erweckte, mit wachsenden Schwierigkeiten der internationalen Beziehungen zu kämpfen hatte und dem nichts mehr gelingen wollte, weder innen noch außen, bis die Niederlage bei den Wahlen 1890 zum Zusammenbruch führte.
Aber in den zwei Jahrzehnten seitdem ist die Welt nicht stehengeblieben, die Situation ist heute weit gefahrdrohender für die herrschenden Klassen, weit hoffnungsvoller für uns.
Der leitende Staatsmann Preußens war damals noch ein Genie, getragen von dem glänzenden Prestige dreier glücklicher Kriege, in denen er alle seine Gegner niedergeworfen und das Sehnen des deutschen Volkes nach Einheit in einer wenigstens die deutsche Bourgeoisie befriedigenden Form erfüllt, das Deutsche Reich zur Vormacht Europas erhoben hatte. Heute ein Reichskanzler ohne jedes Ansehen bei Freund und Feind, der Gefangene der dümmsten und rückständigsten Partei des Reiches, das Gespött der Welt.
Damals internationale Schwierigkeiten teils unbedeutender Art – mit Spanien, der Schweiz –, teils aber solche, die die Nation selbst zu bedrohen schienen, durch den Gegensatz zu Frankreich und Rußland, bei denen die Regierung darauf rechnen konnte, im Ernstfall die ganze Nation hinter sich zu haben. Heute die Gefahr eines Krieges mit England, wobei weder hier noch dort die Nation als solche bedroht wäre. Wobei nicht Lebensfragen der Nation, sondern Fragen des kolonialen Besitzes, bloße Lebensfragen einiger Ausbeutercliquen ausgefochten würden. Sobald ein Krieg solcher Art Opfer kostet – und er wird furchtbare Opfer kosten –, trennt sich leicht die Masse des Volkes von der kriegführenden Regierung und wendet sich bei dem Ausbleiben von Erfolgen gegen sie. Und auch wenn es nicht zum Kriege kommt, so erwecken schon die Rüstungen dazu nichts weniger als Begeisterung, stoßen sie auf wachsenden Widerstand. Außer der Sozialdemokratie hätte in den achtziger Jahren niemand Abrüstung gegenüber Rußland und Frankreich verlangt. Heute ist das Verlangen nach Abrüstung gegenüber England weit über die Kreise unserer Partei hinausgedrungen. Und diese selbst, wie ist sie inzwischen gewachsen! Von 1887 bis 1907 hat sie ihre Stimmenzahl vervierfacht. Gelänge es ihr, bei der Wahl von 1911 einen gleichen Sprung zu machen wie 1890 – und die Situation ist vielverheißend –, das heißt ihre Stimmenzahl zu verdoppeln, so könnte sie die absolute Mehrheit aller abgegebenen Stimmen erreichen. Selbstverständlich sind wir nicht so sanguinisch, mit einem solchen Sprunge zu rechnen. Aber darin ist alle Welt einig, daß wir einen gewaltigen Sprung vorwärts machen werden, der die Erreichung der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu einer Frage weniger Jahre macht.
Wird dies in der nächsten Reichstagswahl offenbar, dann bedeutet das mehr als einen gewöhnlichen Wahlsieg. In der heutigen Situation, angesichts der gewaltigen Erregung der Volksmassen, der gespannten inneren und äußeren Situation, bedeutet ein solcher Sieg nichts Geringeres als eine Katastrophe des ganzen herrschenden Regierungssystems. Es unterliegt für mich gar keinem Zweifel, daß die nächsten Wahlen dieses System in seinen Grundfesten erschüttern werden. Entweder pauken die Wahlen den herrschenden Elementen endlich Dialektik ein, daß sie begreifen, in der bisherigen Weise nicht weiterwirtschaften zu können, und sich entschließen, westliche Methoden zur Abwehr der steigenden Flut des Sozialismus in Anwendung zu bringen; daß sie versuchen, größere Schichten des arbeitenden Volkes durch Konzessionen zu gewinnen.
Angesichts der hochgradigen Erbitterung und der gewaltigen Zuspitzung der Gegensätze müßten das schon erhebliche Konzessionen sein, sollten sie einige besänftigende Wirkung üben: mit Geringerem als der Gewährung des Reichstagswahlrechtes für Preußen wird's da nicht getan sein.
Oder aber, und das ist das Wahrscheinlichere, unser Sieg übt die entgegengesetzte Wirkung: er stachelt die herrschenden Klassen an, durch brutale Gewaltstreiche die Bewegung niederzuschlagen, mit der sie auf dem Boden des geltenden Rechtes nicht fertig werden. Endlich ist noch eine dritte Möglichkeit vorhanden, und sie ist die wahrscheinlichste von allen: das herrschende Regime verliert den Kopf, schwankt ratlos hin und her zwischen Brutalitäten und Konzessionen, verfolgt keine der beiden Richtungen konsequent, so daß seine Brutalitäten nur erbittern, seine Konzessionen nur den Eindruck der Schwäche hervorrufen, die einen wie die anderen die Flamme nur anblasen, die sie ersticken wollen.
Wie immer die Verhältnisse sich gestalten mögen, die Reichstagswahlen müssen eine Situation schaffen, die für unsere Kämpfe eine neue und breitere Basis erzeugt; eine Situation, die, wenn eine der beiden letzterwähnten Alternativen eintritt, allerdings durch ihre innere Logik rasch sich immer mehr zuspitzt zu großen Entscheidungskämpfen, die wir aber auf der neuen, breiten Basis ganz anders auszukämpfen imstande sein werden als heute.
Den Schlüssel zu dieser gewaltigen historischen Situation, den überwältigenden Sieg bei den nächsten Reichstagswahlen, haben wir bei der ganzen Konstellation der Dinge heute bereits in der Tasche. Nur eines könnte bewirken, daß wir ihn verlieren und die glänzende Situation für uns verpfuschen: eine Unklugheit von unserer Seite. Eine solche wäre es, wenn wir uns durch Ungeduld verleiten ließen, die Früchte pflücken zu wollen, ehe sie reif geworden sind; wenn wir eine Kraftprobe vorher provozieren wollten auf einem Terrain, auf dem uns der Sieg keineswegs sicher ist.
Gewiß muß man in jedem Kampfe vieles wagen; ein Feldherr, der Schlachten nur dann schlagen wollte, wenn seine Niederlage von vornherein ausgeschlossen ist, wird kaum große Triumphe feiern. Aber wenn man durch die Gunst der Verhältnisse und ihre geschickte Ausnutzung dahin gelangt ist, einen unzweifelhaften großen Sieg vor sich zu sehen, wenn dieser Sieg durch nichts gefährdet werden kann als durch den Übergang zu einer neuen Strategie, die eine Schlacht auf einem unübersichtlichen und zweifelhaften Kampfterrain provoziert, dann ist es eine gewaltige Torheit, eine derartige Schlacht vor dem sicheren Siege heraufzubeschwören und dadurch diesen selbst zu gefährden. Kein vernünftiger Feldherr wird einen Kampf von dem Schlachtfeld, auf dem er seines Sieges gewiß ist und auf dem sich ihm der Gegner stellen muß, auf ein anderes hinüberspielen, wo der Ausgang ein zweifelhafter.
Der schon im ersten Artikel erwähnte Artikelschreiber der „Bremer Bürgerzeitung“ hält Mehring freilich die Frage entgegen, „ob eine solche Niederlage (des Massenstreiks) die Chancen unseres künftigen Wahlkampfes nicht steigern würde“. Aber ich glaube nicht, daß diese verblüffende Auffassung viele Gläubige finden wird. Richtig ist es, daß jeder Kampf so viel Erregung und Erbitterung erweckt, daß er dadurch unsere Agitation befruchten kann, selbst wenn er mit einer Niederlage endet. Aber dann geschieht es trotz, nicht wegen der Niederlage, und nur dann, wenn die materielle Niederlage ein moralischer Sieg ist. Wenn der Kampf von unserer Seite so glänzend geführt wurde, daß wir selbst dem Gegner Achtung abnötigen, und wenn er unvermeidlich war, uns von den Gegnern aufgenötigt wurde. So erwarten wir von den Gewerkschaftskämpfen dieses Jahres auch eine Steigerung der Erbitterung und eine Verstärkung des Wahlrechtskampfes, selbst für den Fall, daß sie materiell nicht so erfolgreich sein sollten, wie wir es wünschen – audi das ist einer der Gründe, warum uns die augenblickliche Periode der Erregung nicht so kurzlebig erscheint wie der Genossin Luxemburg und ihren Freunden. Aber diese Verstärkung des Wahlrechtskampfes und des Wahlkampfes durch vorhergehende Kämpfe würde in ihr Gegenteil verkehrt, wenn sie uns Niederlagen brächten, die wir selbst verschuldet hätten, Niederlagen, dadurch hervorgerufen, daß wir aus freien Stücken das Proletariat in schwere Kämpfe mit höchst zweifelhaftem Ausgang verwickelt hätten, ohne es zu müssen, ohne uns darum zu kümmern, ob es ihnen gewachsen sei oder nicht.
Die schlimmste Niederlage aber wäre es – und auch diese Möglichkeit ist in Betracht zu ziehen –, wenn wir das Proletariat zum politischen Massenstreik aufriefen und es nicht in überwältigender Überzahl dem Appell folgte.
Wir würden alle die vielverspredienden Keime, die die kommende Reichstagswahl im Schöße trägt, ersticken, wenn wir vor ihr, ohne es zu müssen, Kämpfe provozierten, die uns schwere Niederlagen brächten. Die Regierung und ihre Parteien könnten sich nichts Besseres wünschen. Wir provozierten gerade das, wa“ sie braucht, um aus ihrer Klemme herauszukommen.
Nicht auf den Massenstreik haben wir heute unsere Agitation zuzuspitzen, sondern jetzt schon auf die kommenden Reichstagswahlen. Schon einmal suchten unsere Genossen für das Unrecht des Landtags-wahlrechtes Revanche bei den Reichstagswahlen, und es gelang glänzend: das war in Sachsen 1903, wo unsere Partei damals von 23 Mandaten des Landes 22 eroberte. Jetzt gilt es, die gleiche Revanche mit wahrscheinlich noch größerer moralischer Wirkung für Preußen zu nehmen.
Halten wir die Bewegung im Flusse, erlahmen wir nicht in Demonstrationen; benutzen wir jede Gelegenheit, die Autorität der herrschenden Klasse zu untergraben, ihre Schädlichkeit und Volksfeindlichkeit zu demonstrieren, aber zeigen wir auch den Massen, daß es sich im Wahlrechtskampf um mehr handelt als um einige Änderungen des Wahlgesetzes; daß es um die Niederwerfung des Junkerregimes geht, um die Niederwerfung aller Elemente, die aus hohen Preisen und neuen Steuern ihre Profite ziehen; daß ein solcher Kampf ein langer und zäher ist, daß er mit der Verabschiedung der Wahlrechtsvorlage nicht zu Ende sein kann; daß die absehbar nächste Gelegenheit, den schlimmsten Feinden des Volkes einen erschütternden Schlag zu versetzen, die kommenden Reichstagswahlen sind, daß es gilt, dafür alle Kräfte zusammenzuraffen und aufzubieten.
Fahren wir fort in der bisherigen Ermattungsstrategie, halten wir uns die Hand frei in der Wahl unserer Kampfesmittel und hüten wir uns vor einer Agitation, deren innere Logik die wäre, uns in ein Dilemma zu bringen, das uns zwingen könnte, am unrechten Orte und zur unrechten Zeit unsere letzten und schärfsten Kampfesmittel zur Anwendung bringen und dadurch verschwenden zu müssen. Gerade weil wir überzeugt sind, daß wir großen und schweren Kämpfen entgegengehen, daß wir dem Punkte nahe sind, auf dem die Ermattungsstrategie in die Niederwerfungsstrategie übergehen muß, gerade deswegen ist es um so notwendiger, uns nicht von Ungeduld zu verfrühten Aktionen fortreißen zu lassen und nicht unsere letzten Patronen in einleitenden Scharmützeln zu verschießen. Eine Agitation, die darauf angelegt ist, in den arbeitenden Massen die Erwartung wachzurufen, sie könnten darauf rechnen, daß wir in den nächsten Wochen schon zu immer schärferen Mitteln greifen und versuchen werden, den Widerstand der Regierung durch Massenstreiks zu brechen; eine Agitation, die darauf angelegt ist, uns in ein Dilemma, in eine Zwangslage zu bringen, in der nicht mehr wir die Situation beherrschen, sondern die Situation uns; die darauf angelegt ist, uns binnen kurzem vor die Alternative zu treiben, entweder loszuschlagen um jeden Preis, wie immer die Verhältnisse liegen mögen, oder zum Gespött der Welt zu werden: eine solche Agitation war nie gefährlicher als eben jetzt, wo wir ohne sie einem sicheren Siege entgegengehen, der uns die Bahn zum großen Endkampf freizulegen verspricht.
Sollte die Genossin Luxemburg mit ihrer Anregung eine Agitation in diesem Sinne herbeiführen wollen, dann könnten wir ihr nicht folgen. Anders wäre es, wenn sie nur beabsichtigte, den Massen die Beschäftigung mit der Idee des Massenstreiks nahezulegen und sie mit dieser vertraut zu machen. Sie hätte dafür freilich eine sehr unglückliche, mißverständliche Form gewählt, aber das braucht uns nicht zu hindern, ihr in diesem Sinne zuzustimmen.
Seit dem Bestand des Deutschen Reiches waren die sozialen, politischen, internationalen Gegensätze niemals so gespannt wie jetzt. Gerade weil die nächsten Reichstagswahlen für das herrschende System eine furchtbare Niederlage unvermeidlich machen, müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß dessen Heißsporne vorher große Kämpfe entfesseln, in denen sie besser abzuschneiden hoffen. Sie haben dazu viel mehr Ursache als wir. Wir haben keinen Grund, derartige Kämpfe zu provozieren. Aber das besagt nicht, daß wir alles ruhig hinnehmen müßten, was unsere Gegner verüben, und daß wir ihnen wehrlos gegenüberständen. Nichts leichter möglich als Überraschungen, die noch vor den nächsten Reichstagswahlen zu gewaltigen Entladungen und Katastrophen führen, in denen das Proletariat zum Aufgebot aller seiner Kräfte und Machtmittel hingerissen wird. Ein Massenstreik unter solchen Umständen könnte sehr wohl imstande sein, das bestehende Regime hinwegzufegen.
So falsch es mir scheint, eine Agitation zu entfalten, die uns in das Dilemma brächte: Massenstreik unter allen Umständen oder moralischer Bankrott; so sehr ich es für notwendig halte, unser Pulver für die nächste große Schlacht trocken zu halten, und so wahrscheinlich es mir erscheint, daß diese in den kommenden Reichstagswahlen geschlagen wird, so verkehrt erschiene es mir, nicht auch! mit der Möglichkeit von Überraschungen zu rechnen, und noch verkehrter, den Massenstreik für solche Fälle als völlig aussichtslos hinzustellen. Wir haben in der jetzigen Situation alle Trümpfe in der Hand, wenn wir es verstehen, begeisterte Kühnheit mit ausdauernder Zähigkeit und kaltblütiger Klugheit zu verbinden.
[1] Vgl. Rosa Luxemburg: Wie weiter?, Dortmunder Arbeiterzeitung, 14./15. März 1910.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012