K. Kautsky

 

Der charakterlose Engels

(1909)


Quelle: Die neue Zeit, 27. Jg., 1908–1909, 2. Bd. (1909), H. 39, S. 414-416.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In der Kommunalen Praxis hatte ein S. (offenbar der Abgeordnete Südekum) bei der Besprechung meines Weges zur Macht unter anderem geschrieben:

„Zu dem Behufe (zu zeigen, daß wir mit einer proletarischen Revolution zu rechnen haben) bringt Kautsky diesmal eine Enthüllung; nämlich die, daß das bekannte Vorwort von Friedrich Engels zu dem Buche von Karl Marx über die Klassenkämpfe in Frankreich – oft sein politisches Testament genannt – nicht den wahren Ansichten seines Verfassers entsprochen habe; Engels habe es so, wie es vorliegt, nur aus Rücksicht auf die damals drohende Umsturzvorlage geschrieben, wie aus einigen Briefstellen zur Evidenz hervorgehe. Ob diese Stellen zu dem von K. Kautsky gewünschten Beweis ausreichen oder ob sie nicht auch wieder ‚einiges gelitten haben‘, das heißt ob sie nun Engels’ definitive Meinung in der Sache enthalten, wird schwer zu ergründen sein.“

Ich faßte diese Phrase als eine Anklage auf, ich hätte die Engelschen Briefe zurechtgefälscht, und forderte S. auf, sich unzweideutig darüber zu äußern.

Darauf erklärt dieser in der Nr. 25 der Kommunalen Praxis vom 19. Juni:

„K. Kautsky fordert mich in einer Notiz in Nr. 86 der Neuen Zeit vom 4. Juni 1909 auf, ihm eine ,klare und unzweideutige Ehrenerklärung‘ zu geben, weil man aus meiner Besprechung seiner Broschüre Der Weg zur Macht in Nr. 21 der Kommunalen Praxis schließen müsse, ich wolle ihm vorwerfen, er habe sich die darin abgedruckten Briefstellen von Engels ‚zu seinem Gebrauch zurechtgefälscht‘. Wenn ich das hätte sagen wollen, würde ich es deutlich ausgesprochen haben; ich habe aber daran nicht einmal gedacht, sondern – wie der Wortlaut meiner Rezension jeden Unbefangenen klar erkennen läßt – nur darauf aufmerksam gemacht, daß, wie Engels eines schönen Tages den ‚opportunistischen‘ Bedürfnissen des damaligen Parteivorstandes bei der Abfassung des Vowortes nach eigenem Eingeständnis Rechnung getragen hat, er eines anderen schönen Tages vielleicht in dem von K. K. zitierten Briefe die ‚revolutionären‘ Bedürfnisse des Adressaten zu befriedigen für gut befunden hat. Das ist in der Tat nicht zu ergründen. Und deshalb ist die Benutzung des Engelschen Briefes zu dem von K. K. gewollten Zwecke nach meiner Ansicht unzulässig.

„Im übrigen möchte ich durch Kautskys Notiz doch nicht die Tatsache verdunkeln lassen, daß ich zum Glück mit dem Urteil, seine Broschüre widerstreite dem Parteiwohl, in der Partei nicht allein stehe. K. K. weiß sehr wohl, wer alles meine Ansicht teilt; aber viele Parteigenossen scheinen sich noch nicht klar gemacht zu haben, wie weit die ‚revolutionären‘ Anschauungen Kautsky von der bisherigen Haltung der sozialdemokratischen Partei abweichen.

„Über die Beschimpfungen, in die K. K. seine Notiz eingekleidet hat, gehe ich mit dem Gefühl aufrichtigen Mitleids hinweg.“

S.

So weit S. Die Herablassung, mit der der große Mann mir sein aufrichtiges Mitleid ausspricht, weiß ich gebührend zu schätzen.

„Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen“,

sagt Mephistopheles vom Herrgott.

Trotz seines „aufrichtigen Mitleids“ bin ich aber nicht in der Lage, etwas von den „Beschimpfungen“ zurückzunehmen, die in meiner Notiz zu finden waren. Ich beschuldigte dort S., er greife zu dem „Mittel der Verdächtigung“, um revolutionäre Anschauungen zu diskreditieren, und nannte das eine „Methode des Reichsverbandes“.

Diese Anschuldigung halte ich aufrecht, trotz der Erklärung, S. habe gar nicht daran gedacht, mich der Brieffälschung anzuklagen. Denn diese Erklärung hebt die anscheinend gegen mich gerichtete Verdächtigung nur dadurch auf, daß sie eine fast noch schlimmere gegen Friedrich Engels schleudert, nur zu dem Zwecke, meine revolutionären Anschauungen zu diskeditieren. S. behauptet nichts Geringeres als es sei nicht ausgeschlossen, daß Engels in seinen Briefen gar nicht seine wirklichen Anschauungen ausdrückte; daß seine Briefe an mich bloß den Zweck hatten, „die ‚revolutionären‘ Bedürfnisse des Adressaten zu befriedigen“. Engels habe also zu den charakterlosen Subjekten gehört, die den Leuten nach dem Munde reden, vor Revolutionären sich revolutionär gebärden, vor Opportunisten opportunistisch.

Allerdings will S. damit Engels nicht beleidigen. Er schreibt diese Auffassung mit größter Gemütsruhe hin, ohne die leiseste Ahnung der Herabsetzung, die darin zum Ausdruck gelangt, Aber andere Leute denken anders, sie würden alle Achtung vor Engels verlieren, wenn die S.sche Auffassung richtig wäre und sie in unserem großen Denker nicht mehr den unbeugsamen Charakter, sondern eine Art Liman sehen müßten, der sich heute opportunistisch gebärdet und morgen revolutionär, je nach den Leuten, an die und für die er schreibt.

Habe ich aber nicht selbst, wie mich S. sagen läßt, „enthüllt“, daß Engelssche Vorwort habe „den wahren Ansichten des Verfassers nicht entsprochen“? Keineswegs, ich habe in keiner Weise „enthüllt“, daß Engels etwas schrieb, was er nicht glaubte. Was ich „enthüllte“, war etwas ganz anderes.

Nie habe ich geäußert, Engels habe in seinem Vorwort opportunistische Gedanken geäußert. Ich habe mich im Gegenteil ebenso wie jetzt in meinem Weg zur Macht, so schon vor zehn Jahren gegen den opportunistischen Schein gewendet, den man der Engelsschen Vorrede verleihen wollte. Es geschah in meiner damaligen Polemik mit Bernstein (Neue Zeit, XVII, 2, Nr. 28, S. 46 ff.). Ich zeigte dort, daß in der Vorrede kein Wort zu finden ist das unvereinbar wäre mit dem revolutionären Standpunkt, den Engels sein Leben lang vertrat, daß die Vorrede von früheren Engelschen Schriften sich höchstens dadurch unterscheidet, daß der revolutionäre Standpunkt nicht so stark hervorgehoben wird. Ich teilte aber auch schon damals mit, Engels trage daran keine Schuld. In seinem Manuskript sei der revolutionäre Standpunkt energisch betont gewesen, die. revolutionären Stellen wurden ihm jedoch in Berlin gestrichen, wenn ich recht berichtet bin vom Genossen Richard Fischer. Friedrich Engels hat nie eine Zeile geschrieben, die eine Konzession an irgend einen Opportunismus enthalten hätte. Aber er, der in England wohnte, hielt sich nicht für berechtigt, angesichts der drohenden Umsturzvorlage auf der Veröffentlichung von Sätzen zu bestehen von denen deutsche Freunde fürchteten, sie könnten der Partei Schwierigkeiten bereiten deren Konsequenzen sie zu tragen hätten, nicht er.

Das ist natürlich ein ganz loyalees Verfahren und hat nichts zu tun mit jener feigen Doppelzüngigkeit, die Engels besessen haben müßte, wenn seine Briefe an seine vertrautesten Freunde nicht seine wirkliche Denkweise, „seine definitive Meinung“, wie S. sich ausdrückt, aussprächen, so das diese „schwer zu ergründen“ und die Benutzung seiner Briefe zur „Ergründung“ seiner Anschauungen „unzulässig“ sei.

Ob aber eine derartige Verdächtigung Engelscher Briefe zu dem Zwecke, den Gedanken der Revolution zu diskreditieren, auf gleicher Höhe mit den Methoden des Reichsverbandes steht oder nicht – die Entscheidung darüber kann ich ruhig den Parteigenossen überlassen.

S. ist indes nicht einseitig, er versteht noch andere feine Künste als die Verdächtigung. Er ruft mir zu: „K. K. weiß sehr wohl, wer alles meine Ansicht teilt!“ Was soll das? Soll der Hinweis auf die Mächte, die hinter S. stehen, eine versteckte Drohung sein, ein Versuch der Einschüchterung! Ein wissenschaftliches: Argument ist es jedenfalls nicht. Aber wozu das Versteckenspielen? Haben die Leute, die hinter S. stehen, etwas zu bedeuten, dann heraus mit dem Flederwisch!

Wenn unser S. sich schon nicht anders zu helfen weiß, als daß er sich an fremde Rockschöße anklammert, dann möge er uns doch wenigstens auch das geheimnisvolle Wesen nennen, das sie trägt. Anonyme Rockschöße allein imponieren denn doch zu wenig.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012