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Vorwort zu der deutschen Ausgabe von Louis B. Boudins Das Theoretische System von Karl Marx
(Vgl. die amerikanische Originalausgabe „The theoretical system of Karl Marx in the light of recent criticism“),
übers. Luise Kautsky, Dietz, Stuttgart 1909, S. VII–XX.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
Der Verfasser, ein in Amerika lebender russischer Parteigenosse, ließ vorliegende Schrift vor zwei Jahren in unserem Chicagoer Parteiverlag Charles Kerr englisch erscheinen. Sie war bestimmt, das Englisch sprechende Publikum über das Wesen des Marxismus und der an ihm geübten Kritik aufzuklären. Die deutsche Literatur ist weit reicher als die englische an Schriften über und gegen den Marxismus, trotzdem scheint mir auch eine deutsche Ausgabe des Buches sehr am Platz. Als eine deutsche Übersetzung fertiggestellt wurde, unter der Mitwirkung meines Freundes G. Eckstein, dem an dieser Stelle dafür gedankt sei, habe ich sie freudig begrüßt. Ich glaube, gerade wegen des Reichtums der deutschen Literatur über den Marxismus dürfte die deutsche Ausgabe einem größeren Bedürfnis entsprechen als die englische. Die Fülle jener Literatur erdrückt nur zu leicht den Leser, der sich in ihrem Wirrwarr schwer zurechtfindet. Eine zusammenfassende Darstellung, die die springenden Punkte des Marxschen Systems kurz entwickelt und im Anschluß daran die wichtigsten Einwände der hervorragendsten seiner neueren Kritiker untersucht, wird vielen als Einführung in das Studium der Marxkritik und des Marxismus selbst willkommen sein.
Wir hatten bisher mannigfache Polemiken zwischen einzelnen Marxisten und einzelnen Marxkritikern, aber keine Auseinandersetzung, die sämtliche wichtigeren Marxkritiker in ihr Bereich zog. Und bei unseren Polemiken gegen die Marxkritiker haben wir uns vorwiegend an die aus dem Kreise des Sozialismus hervorgehenden gehalten. Sie interessierten uns in erster Linie; ihre Angriffe hätten, wenn sie unwidersprochen blieben, am verwirrendsten gewirkt.
Das besagt aber nicht, daß sie wissenschaftlich die bemerkenswertesten waren. Sie werden in der vorliegenden Schrift nur gestreift, die auch darin die vorhandene marxistische Literatur ergänzt, da sie die sozialistische Marxkritik möglichst wenig beachtet und vorwiegend die bürgerliche untersucht.
Natürlich vermochte der Verfasser nicht immer Neues zu sagen; daran hinderte ihn schon die Monotonie der Marxkritik, die sich seit Jahrzehnten immer in den gleichen Geleisen bewegt. Immerhin war er überall bestrebt, in eigenen Bahnen zu wandeln, und auch derjenige, der mit der deutschen Literatur des Marxismus wohl vertraut ist, wird neue Gedanken und zahlreiche Anregungen bei Boudin finden.
Daß der Verfasser nicht auf Vollständigkeit Anspruch machte, bloß einzelne Typen vornahm und nicht sämtliche Marxkritiker in seine Darstellung einbezog, werden die Leser wohl nur wohltätig empfinden.
Auf den ersten Blick erscheint es etwas befremdend, die Gesamtheit der Marxkritiker in einzelnen Typen kennzeichnen zu wollen. Ist doch jeder eine Individualität für sich, die in eigener Weise vorgeht und ihre besonderen Ziele verfolgt. Aber trotz aller Verschiedenheiten, die in Einzelheiten unter ihnen herrschen, weisen sie alle so viel übereinstimmendes auf, daß man sie sehr wohl als eine bestimmte Richtung zusammenfassen und behandeln darf. Diese Übereinstimmung ist eben kein Zufall, sondern entspringt den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Alle die Marxkritiker sehen dieselben Tatsachen und werden durch sie zu denselben Schlußfolgerungen geführt.
Sind aber die Tatsachen nicht etwa die gleichen für Marxkritiker wie für Marx oder die Marxisten? Woher dann der Unterschied zwischen beiden?
Die Tatsachen sind eben nicht die gleichen, die von Marxkritikern und Marxisten beobachtet werden. Von ihren verschiedenen Standpunkten aus sehen sie ganz verschiedene Erscheinungen. So stützen sich beide auf Tatsachen, die sie beobachten, und kommen doch zu entgegengesetzten Schlüssen; darum ist es aber auch unmöglich, daß sie sich verständigen.
Die Unterschiede, die zwischen Marx und seinen Kritikern in bezug auf die Erscheinungen obwalten, die sie beobachten, kann man kurz folgendermaßen kennzeichnen. Marx sieht Prozesse; die Marxkritiker sehen Dinge. Marx sieht die Gesellschaft, wo die Marxkritiker nur Individuen sehen.
Mit der Gesellschaft wissen die Marxkritiker nichts anzufangen. Sie ist ihnen eine bloße Häufung von Individuen, gesellschaftliche Erscheinungen suchen sie zu erklären durch Beobachtung des Individuums, das die Gesellschaft bildet. Die Ethik oder der Wert sind ihnen nicht Produkte der Gesellschaft, sondern des Individuums. Das achtzehnte Jahrhundert suchte die Ethik, jene große die Gesellschaft zusammenhaltende Kraft, zu erklären entweder aus dem Egoismus, der Lust des Individuums, oder aus einem ihm angeborenen altruistischen Empfinden oder aus seiner Vernunft. Und die heutigen ethischen Marxkritiker wissen nichts Besseres zu tun, als ins achtzehnte Jahrhundert zurückzukehren.
Andererseits suchte die bürgerliche Ökonomie die Quelle des Wertsgesetzes ebenfalls im Individuum, seinen persönlichen Bedürfnissen und Neigungen. Das gilt auch von der Arbeitswerttheorie. So sagt Adam Smith:
„Der wirkliche Preis eines jeden Dinges, das, was jedes Ding den Mann wirklich kostet, der es zu erwerben wünscht, ist die Mühe und Arbeit, es zu beschaffen. Was jedes Ding wirklich dem Mann wert ist, der es sich verschafft hat und es für etwas anderes abgeben oder austauschen will, ist die Mühe und Arbeit, die er dadurch ersparen oder auf einen anderen abwälzen kann.“ (Wealth of Nations, 5. Kapitel)
Ricardo zitiert diesen Satz und bemerkt dazu:
„Daß dies in der Tat der Ursprung des Tauschwertes aller Dinge ist, ausgenommen jener, die menschlicher Fleiß nicht zu vermehren vermag, ist eine Lehre von der größten Bedeutung für die politische Ökonomie.“ (Principles, 1. Kapitel)
Aus der Psychologie des einzelnen Individuums wird hier der Wert erklärt. Daher spielen auch die Robinsonaden in der politischen Ökonomie gerade zur Begründung des Wertes eine so große Rolle. Auch die neuere österreichisch-englische Schule weiß in der Beziehung nichts Besseres zu tun, als ins achtzehnte Jahrhundert zurückzukehren. Sie verwirft die Theorie des Arbeitswertes, akzeptiert aber den Robinson zur Erklärung des Wertes. Sie verbessert nur die Robinsonaden des achtzehnten Jahrhunderts dadurch, daß ihr Robinson seine Gebrauchsgegenstände nicht durch Arbeit produziert, sondern vom Himmel gefallen findet: sicher eine wertvolle Bereicherung unserer gesellschaftlichen Einsicht.
Natürlich konnte sich das achtzehnte Jahrhundert nicht der Erkenntnis verschließen, daß es eine Gesellschaft gebe. Aber es sah sie nur in der Form fest begrenzter und gesetzlich geregelter Gebilde – Gemeinden und Staaten, Zünfte und Stände. Es nahm daher an, die menschlichen Individuen hätten ursprünglich jedes für sich oder höchstens gepaart gelebt und die Gesellschaft sei das Produkt der Individuen, die bewußt und planmäßig darauf ausgingen, ein geregeltes Zusammenleben herbeizuführen. Ob man sich dann den „Gesellschaftsvertrag“ als das Produkt einer freiwilligen Übereinkunft der beteiligten Individuen vorstellte oder annahm, die stärkeren oder klügeren Individuen hätten die schwächeren und dümmeren unterjocht und dadurch das gesellschaftliche Leben begründet, stets erschien die Gesellschaft als ein Werk von Individuen, die sie gründeten zur Befriedigung ihrer individuellen Bedürfnisse.
Auch da weiß die heutige Marxkritik nur ins achtzehnte Jahrhundert zurückzukehren; die Stammlersche Überwindung des Marxismus ist nichts als eine Modernisierung der alten Lehre vom contrat social, wenn sie die Gesellschaft als ein Produkt „äußerlich gesetzter und gebietender Regeln“ betrachtet.
Alle diese Marxkritiker sehen nur das Individuum; die einzelne Persönlichkeit ist es, die den Wert bestimmt; sie ist es, die die Gesellschaften bildet, ihnen ihre Zwecke und ihre Ziele vorschreibt, sich selbst ihre gesellschaftlichen Ausgaben bestimmt. Hören die Herren von den Marxschen Auffassungen der Gesellschaft, dann messen sie diese an den Beobachtungen, die sie an den Individuen gemacht haben, und finden, daß sie den Tatsachen nicht entsprechen.
Für die Erscheinungen, von denen Marx ausgeht, sind sie blind.
Seit den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts kamen immer mehr Tatsachen zutage, die das Individuum in vollständiger Abhängigkeit von der Gesellschaft, diese selbst aber in steter Entwicklung zeigten, die nicht durch bewußtes Eingreifen der Individuen erklärt werden konnte. Sowohl die Statistik wie die Ethnologie zeigten eine gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit, von der das Individuum abhängig war; zeigten uns gesellschaftliche Zustände, die völlig bar jeder „äußerlichen Regelung“, nie von Individuen bewußt geschaffen waren und geschaffen sein konnten, und deren scharf ausgeprägte Eigenart die der Individuen bestimmte.
Woher diese Gesetzmäßigkeit, woher dieser starke gesellschaftliche Zusammenhalt? Lange wußte man auf diese Fragen nichts zur Antwort zu geben, als Bilder oder Mysterien, die Vergleichung der Gesellschaft mit einem menschlichen Organismus oder den Hinweis auf einen mystischen „Zeitgeist“ oder einen nicht minder mystischen „Altruismus“, der aus der „Kultur“, man wußte nicht wie und warum, entsproß.
Seit Darwin hat nicht bloß der tierische, sondern auch der gesellschaftliche Organismus aufgehört, ein Mysterium zu sein. Wir wissen, daß es Tiere gibt, zu deren Lebensbedingungen der gesellschaftliche Zusammenhalt gehört. Die Gesamtheit der Lebensbedingungen, in denen sie existieren, bestimmt nicht bloß die Formen und das Funktionieren ihrer einzelnen Organe, sondern auch die Formen und das Funktionieren ihres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die sozialen und ethischen Instinkte und Triebe des Individuums sind nicht die Ursache der Gesellschaft, sondern das Produkt der aus den Lebensbedingungen der Individuen erwachsenen gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die menschliche Gesellschaft selbst unterscheidet sich von der tierischen bloß dadurch, daß der Mensch als Erfinder die Technik und damit seine Lebensbedingungen selbst ändert und infolgedessen auch eine stete Änderung der Formen und Funktionen der Gesellschaft erforderlich macht, die den neuen Lebensbedingungen anzupassen ist, ein Prozeß, der um so bewußter vor sich geht, je mehr das Wesen der Gesellschaft erkannt ist.
Das war es, was Marx und Engels entdeckt hatten – schon vor Darwin. Für die menschliche Gesellschaft hatten sie deren Bedingtheit durch die allgemeinen Lebensbedingungen der Individuen festgestellt, die Darwin für die tierische Gesellschaft erkannte – und für die menschliche Gesellschaft an Grenze der tierischen, für jenes Stadium, in dem die technische Entwicklung noch keine Rolle in ihr spielte.
Wohl ist auch für diese Auffassung das Individuum der Ausgangspunkt. Die Gesellschaft gehört zu den Organen der Erhaltung des Individuums; aber nicht das Bewußtsein des Individuums ist es, das den Charakter der Gesellschaft bestimmt, sondern seine Lebensbedingungen sind es, die es veranlassen, bestimmte Arten des Zusammenwirkens und Zusammenlebens mit anderen Individuen zu wählen, die jedes Individuum ausmerzen, das sich diesem Zusammenwirken und Zusammenleben entzieht. Und da diese Bedingungen für alle Individuen der gleichen Art und Gegend die gleichen sind, auf sie alle gleichzeitig in gleicher Weise wirken, erzeugen sie in allen normal organisierten das gleiche Streben, das durch seine Massenhaftigkeit unwiderstehlich wirkt und jede Besonderheit und Eigenwilligkeit einzelner Individuen überwindet, die sich dem in den Weg stellen sollten. Andererseits aber sind diese Bedingungen vielfach seit Generationen, ja manche seit Jahrtausenden dieselben. Soweit das der Fall, findet das Individuum die ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse bereits fertig vor, als eine Macht, die auf sein Bewußtsein von seinen ersten Anfängen an einwirkt und es bestimmt. So wird die Gesellschaft durch ihre Ausdehnung im Raume und der Zeit über das Individuum hinaus übermächtig gegenüber diesem nicht bloß in Fragen, wo es sich direkt um die Lebenserhaltung handelt und wo die Bedeutung der Gesellschaft für das Individuum klar zutage liegt, sondern auch in anderen, nur mittelbar damit zusammenhängenden Fragen.
Natürlich darf man sich die Gesellschaft nicht mystisch als ein besonderes Wesen vorstellen, das außerhalb der Individuen besteht. Die Gesellschaft ist nur ein Sammelname für alle die Beziehungen, die die Individuen miteinander eingehen, um sich im Leben zu behaupten, emporzubringen, fortzupflanzen. Die Gesellschaft wird bloß dadurch zu einer Macht, die über den Individuen steht, weil und soweit die Lebensbedingungen, unter denen diese leben und wirken, unabhängig sind von ihnen und über ihnen stehen. Die Gesetzmäßigkeit der Gesellschaft, die Naturnotwendigkeit ihrer Vorgänge und Verhältnisse rührt aber daher, daß die gleichen Lebensbedingungen auf normal organisierte Individuen in gleicher Weise wirken; sie rührt daher, daß die große Masse der menschlichen Individuen alle gleich organisiert sind, auf gleiche Reize in gleicher Weise reagieren.
Der Ausgangspunkt jeder gesellschaftlichen Erscheinung ist stets das Individuum; aber nicht das vereinzelte Individuum, das die Marxkritiker ebenso wie Forscher des achtzehnten Jahrhunderts zur Klarlegung der Gesellschaft untersuchen, sondern das Individuum in Verbindung mit anderen Individuen, die Masse der Individuen, in der die Besonderheit des einzelnen verschwindet und in der der einzelne selbst ein anderes Geistesleben entwickelt wie in der Vereinsamung. Marx geht daher bei der Beobachtung der Gesellschaft nicht von einzelnen Individuen, sondern von Massen aus.
Freilich kann die Masse nur Keime entfalten, die schon im vereinzelten Individuum liegen, insofern ist dessen geistiges Leben der Ausgangspunkt des gesellschaftlichen, aber eben nur dessen Ausgangspunkt, nicht dessen Erklärung.
Nehmen wir zum Beispiel die Werttheorie. Adam Smith und Ricardo suchen wohl mit Recht deren Ausgangspunkt darin, daß das Individuum ein Gut um so mehr schätzt, je mehr Arbeit es darauf verwenden mußte. Es hätte sich nie ein Gesetz des Arbeitswertes, das den Austausch regelt, bilden können, wenn nicht von Anfang an für die Individuen bei der Wertschätzung der verschiedenen Güter die Arbeit, die diese gekostet hatten, eine Rolle gespielt hätte. Aber Smith und Ricardo irren, wenn sie beim Individuum stehen bleiben und durch die individuelle Wertschätzung schon das Wesen des gesellschaftlichen Tauschwertes erklärt glauben. Ihnen gegenüber haben die Kritiker der Arbeitswerttheorie ganz recht, wenn sie sagen, daß für das Individuum der Arbeitsaufwand bloß einer unter mannigfachen Faktoren der Wertschätzung eines Gutes ist. Diese Herren übersehen nur, daß Marx derselben Ansicht ist. Er erklärt selbst, daß „in den Anfängen des Austausches der Waren, solange dieser nur ein vereinzelter Akt ist, ihr quantitatives Austauschverhältnis zunächst ganz zufällig ist“. (Kapital, I, 2. Kapitel) Alle möglichen subjektiven Momente der Wertschätzung spielen da mit.
Aber gerade weil sie subjektive Momente sind, treten sie immer mehr zurück gegenüber der Wertschätzung nach dem Arbeitsaufwand, je mehr der Austausch nicht ein gelegentlicher, sondern ein allgemeiner Vorgang wird, je mehr er aus einer vereinzelten zu einer Massenerscheinung wird. Nur diese interessiert Marx, nur diese beobachtet er. Die Wertschätzung nach dem Maßstab der verausgabten Arbeit ist die einzige nicht subjektive, für alle Individuen gleiche. Sie wird zu einer gesellschaftlichen Notwendigkeit, sobald Arbeitsteilung und Privateigentum an den Produktionsmitteln allgemein werden und die Regelmäßigkeit des Austausches und damit der Produktion für den Austausch unentbehrlich machen. Diese ist von da an nur noch möglich unter der Herrschaft des Arbeitswertes. Jede erhebliche, dauernde Verletzung des Wertgesetzes führt jetzt zu tiefgehenden Störungen der Produktion und des Austausches; die Gesellschaft entwickelt sich um so besser, je leichter in ihren Einrichtungen der Arbeitswert zur Geltung kommt.
Sobald aber der Austausch ein allgemeiner, sich immer wieder erneuernder Vorgang wird, bekommt auch die Wertschätzung des ausgetauschten Gutes, der Ware, nach dem Maße der in ihr enthaltenen Arbeit, einen neuen Sinn. Für das Individuum, das Smith und Ricardo sich vorstellen, wird der Wert des Gutes geschätzt nach der besonderen Arbeit, die es sie selbst kostet. Diese Wertschätzung gilt nicht für die anderen. Je mehr der Austausch ein allgemeiner gesellschaftlicher Prozeß wird, desto mehr tritt an Stelle der Wertschätzung nach dem individuellen Arbeitsaufwand die nach dem gesellschaftlich notwendigen. Und je mehr die Produktion für den Austausch die allgemeine Form der Produktion wird, je weniger die Zuteilung der in der Gesellschaft vorhandenen Arbeitskräfte an die einzelnen Arbeitszweige nach gesellschaftlichem Plane geschieht, sondern anscheinend zufällig ist, von den Ergebnissen des Austauschprozesses abhängig wird, desto mehr tritt in den Begriff der „gesellschaftlich notwendigen Arbeit“ neben die mit den gegebenen technischen Hilfsmitteln zur Herstellung eines bestimmten Stücken durchschnittlich notwendige Arbeit der Begriff der Menge von Arbeit, die die Gesellschaft bei der gegebenen Menge von Arbeitskräften, über die sie verfügt, auf die Herstellung der Gesamtmasse jeder besonderen Warengattung, deren sie bedarf, verwenden kann.
So wird das Wertgesetz immer Verwickelter, es entfernt sich immer mehr von seinem Ausgangspunkt, der individuellen Schätzung nach der aufgewendeten Arbeit, der ökonomische Mechanismus der Produktion und des Austausches wird immer undurchsichtiger, aber auch gewaltiger dem Individuum gegenüber, und seine Forderungen, die sich in dem Wertgesetz durch den Austauschprozeß durchsetzen, verlieren immer mehr den Zusammenhang mit der individuellen Wertschätzung, mit der der Prozeß des Austausches begann. Das Wertgesetz der allgemeinen Warenproduktion, der kapitalistischen Produktionsweise, wird nur noch erklärlich durch deren Mechanismus – und umgekehrt bleibt jener Mechanismus unbegreiflich ohne den Arbeitswert: Jene weisen Marxkritiker, die das Wertgesetz nicht durch Erforschung des kapitalistischen Mechanismus, sondern durch Erforschung des vereinzelten menschlichen Individuums gewinnen wollen, kommen zu einem Werte, der jeder Gesetzlichkeit und damit auch jeder wissenschaftlichen Bedeutung bar ist. Im besten Falle könnte er zum Verständnis des vereinzelten Individuums etwas beitragen, nie etwas zum Verständnis der Gesellschaft, von der er ja absieht. Aber selbst das Verständnis des Individuums dürfte dadurch nicht erheblich gefördert werden, da der wirkliche Mensch eben nicht isoliert, sondern in einer Gesellschaft lebt, und zwar jeder in einer bestimmten Gesellschaft, ohne deren Verständnis man auch nicht dahin gelangen kann, ihn zu begreifen.
Mit den letzten Ausführungen haben wir bereits den zweiten Unterschied gestreift, der Marx von seinen Kritikern trennt: diese betrachten Dinge, er Vorgänge, Prozesse. Tugan-Baranowsky sagt in seinem jüngsten Buche:
„Leider gehört eine äußerst unwissenschaftliche Gleichgültigkeit in bezug auf die genaue Definition der von ihm gebrauchten Ausdrücke und Begriffe zu einer besonderen Eigenheit des Marxismus.“ (Der moderne Sozialismus, S. 3.)
Ähnliches konstatieren andere Marxkritiker, zum Beispiel Stammler. Sie sehen darin eine wissenschaftliche Schwäche, aber sie selbst werden nicht behaupten, daß sie einem Unvermögen oder einem Mangel an Genauigkeit im Denken und Ausdruck bei Marx entspringe. Hätten sie näher zugesehen, dann dürften sie gefunden haben, das, was auf den ersten Blick als Schwäche erscheint, in Wirklichkeit Stärke ist, als der Marx’ Philosophie entspringt.
So wie Kant gelangte auch Marx zur Überzeugung, daß wir Dinge an sich nicht erkennen können. Aber er schloß daraus nicht, daß wir die Wirklichkeit nicht erkennen können.
In Wirklichkeit gibt es eben gar keine Dinge an sich. Was jedes Ding ist und bedeutet, ist es nur im Zusammenhang mit anderen Dingen. Ein Ding erkennen heißt seine Zusammenhänge aufdecken. Und diese Zusammenhänge sind in steter Veränderung, die Dinge in steter Bewegung begriffen.
Statt nach den Begrenzungen und Zergliederungen des einzelnen ruhenden Ding und seiner Definition suchte Marx daher nach der Aufdeckung von Bewegungen. Bewegungen aber lassen sich nicht definieren, sondern nur verfolgen. Nun sagt man freilich, daß beide Methoden gleich notwendig seien und einander ergänzten. Man müsse die Dinge ebensowohl in der Ruhe wie in der Bewegung untersuchen. Zur Erkenntnis eines Muskels zum Beispiel können wir nicht bloß auf biologischem Wege kommen, durch Erforschung seiner Entwicklung und seiner Funktionen, sondern auch auf anatomischem Wege durch seine Bloßlegung, mikroskopische Untersuchung usw. Die eine dieser Methoden ergänze die andere.
Dies ist nicht unrichtig, nur stehen die beiden Methoden einander nicht als zwei voneinander unabhängige, nebeneinander wirkende Arten der Untersuchung gegenüber. Sie bilden tatsächlich nur zwei Stadien der gleichen Methode.
So kann ich, um bei dem Beispiel vom Muskel zu bleiben, natürlich von diesem nichts sagen, solange ich seine Existenz nicht kenne. Seine anatomische Bloßlegung ist die Vorbedingung seiner wissenschaftlichen Erkenntnis. Aber um ihn zu begreifen, muß ich ihn in seinem Zusammenhang und in seiner Bewegung sehen. Ich muß wissen, wie er mit dem Organismus zusammenhängt, von dem er einen Teil bildet, und welches seine Funktionen sind. Erfahre ich etwa, daß er ein Kaumuskel ist, welcher Art das Tier, dem er gehört, dessen Lebensweise und Nahrung; sehe ich, wie die Kaumuskeln anderer Tiere beschaffen sind, mit anderer Lebensweise und Nahrung; erfahre ich weiter, wie dieser Muskel sich in den Verschiedenen Lebensaltern gestaltet, wie er hier wächst und dort schrumpft; wie er sich allmählich bei den Vorahnen des Tieres gebildet hat, wie manche seiner Eigenheiten nicht aus der heutigen Lebensweise zu erklären, sondern vererbte Überlebsel jener Vorahnen sind – weiß ich das alles, dann wird mir erst der durch die Anatomie bloßgelegte Muskel begreiflich werden.
Die Betrachtung der Welt als einer Sammlung von festbegrenzten, für sich bestehenden Dingen, deren Vorhandensein mich der Augenschein lehrt, ist der Ausgangspunkt der Wissenschaft. Ihr Fortschreiten besteht darin, an den Dingen ihre Verhältnisse, Bewegungen und Veränderungen zu beobachten, wobei die Dinge immer mehr ihre festen Grenzen und bestimmten Gestalten verlieren. Die Welt verwandelt sich immer mehr, je näher man sie betrachtet, aus einem Komplex festbegrenzter ruhender Dinge in einen Komplex unendlicher Bewegungen, die sich ununterbrochen wandeln.
So suchte auch Marx die gesellschaftlichen Erscheinungen nicht als Dinge, sondern als gesellschaftliche Prozesse zu erfassen. Wenn seine Kritiker, um auf die Werttheorie zurückzukommen, deren Aufgabe darin sehen, ein einmaliges, gegebenes Verhältnis eines Individuums zu bestimmten Dingen oder einen einmaligen Austausch zweier Dinge darzustellen, forscht er nach dem Zusammenhang zwischen dem Wertgesetz und dem ununterbrochenen Vorgang, Prozeß, des Tauschens, aber auch des Produzierens. Er untersucht, wie es möglich ist, daß dieser auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln ununterbrochen vor sich geht, sich immer wieder erneuert und ausdehnt. Seine Werttheorie hat also etwas ganz anderes im Auge, als die der österreichisch-englischen Schule. Deren Vertreter haben ganz recht, daß Marx den Tatsachen nicht Rechnung trägt, jenen Tatsachen nämlich, von denen sie ausgehen. Die Tatsachen eines gelegentlichen Austausches von Dingen, die zufällig gefunden werden, schienen ihm nicht der Beachtung wert. Ein solcher einmaliger Austausch, der sich nicht wiederholt, wird durch seine Werttheorie sicher nicht erklärt. Andererseits aber sehen die Herren Grenznutzentheoretiker auch nicht die Tatsachen, die Marx sah. Ihre Theorie bietet nicht die mindeste Möglichkeit, zu erklären, wie und unter welchen Bedingungen der Prozeß der Produktion und Zirkulation von Waren als immer sich erneuernder Prozeß möglich ist.
Sehr gut wird der Unterschied zwischen der Denkweise der Marxkritiker und der des Marxismus in dieser Beziehung auch gekennzeichnet durch die jüngsten Ausführungen Tugan-Baranowskys. Dieser erhebt seinen Vorwurf, daß Marx die Definitionen vernachlässigte, deshalb, weil Marx den Sozialismus nicht als festbegrenztes, ruhendes Ding beobachtete, keine bestimmte Formel und kein bestimmtes Zukunftsbild des Sozialismus gab. Er sieht eine wissenschaftliche Schwäche darin, daß Marx „bloß“ den gesellschaftlichen Prozeß darlegte, der den Sozialismus entwickelt: den Klassenkampf und die kapitalistische Konzentration. So besteht Tugans Fortschritt über Marx in seinem jüngsten Buche darin, daß er den Ruf erhebt: Zurück auf Fourier!
Zurück! Zurück! Das ist die Parole aller Marxkritiker. Keiner vermag zu sagen: Vorwärts, über Marx hinaus. Und das ist ganz selbstverständlich, da sie die großen Errungenschaften nicht benutzen, die er gebracht, und auf dem Boden stehen bleiben, den die Denker der revolutionären Bourgeoisie schon im achtzehnten Jahrhundert betreten hatten, weil sie nur Individuen und Dinge sehen und die Gesellschaft und deren Bewegungen nicht sehen wollen oder können. Wohl müssen sie alle die Größe von Marx anerkennen, wohl müssen sie zugestehen, daß er große Resultate erreicht, unsere Erkenntnis der Gesellschaft ungemein vertieft hat. Wohl suchen sie sich dieser Resultate und Erkenntnisse zu bemächtigen, aber nur, soweit sie ihnen passen, nur stückweise, systemlos, und so bleibt in ihren Händen die neue Erkenntnis unfruchtbar; sie zerstört bei ihnen bloß die Sicherheit und Einheitlichkeit der alten.
Daß die Gegner des Proletariats und seines Klassenkampfes eine Lehre ablehnen, die seine Kraft so unendlich vermehrt, ist leicht begreiflich. Aber auch für uns Sozialisten, die wir uns auf den Boden dieses Klassenkampfes und seines Theoretikers stellen, ist das Marxsche Denken nicht immer leicht faßlich. Um es völlig zu begreifen, müssen wir die Fähigkeit erlangt haben, weiter zu sehen, als der handgreifliche Augenschein lehrt; jenseits der Individuen die Gesellschaft zu sehen; jenseits der Dinge die Prozesse. Dieser handgreifliche Augenschein beherrscht unser Denken um so mehr, da er durch unsere ganze bürgerliche Wissenschaft gestützt wird. Es gibt wohl kaum einen unter uns Marxisten, der nicht eines langen Ringens bedurfte, ehe er fähig wurde, dem Marxismus völlig gerecht zu werden. Er bedeutet eine Revolution des Denkens, ähnlich jener, durch die Kopernikus die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt warf. Aber die theoretische Revolution des Marxismus geht noch tiefer, da sie die praktische Revolution der Gesellschaft in sich begreift.
Möge vorliegende Schrift sich als wirksamer Beitrag zu dieser doppelten Revolutionierung erweisen.
Berlin, Januar 1909.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012