Karl Kautsky

Der Ursprung des Christentums


Vorwort


Christentum und Bibelkritik sind Themata, die mich schon lange beschäftigen. Vor fünfundzwanzig Jahren veröffentlichte ich bereits im Kosmos eine Abhandlung über die Entstehung der biblischen Urgeschichte, und zwei Jahre später in der Neuen Zeit eine über die Entstehung des Christentums. Es ist also eine alte Liebe, zu der ich hier zurückkehre. Die Veranlassung dazu wurde gegeben, als eine zweite Auflage meiner Vorläufer des Sozialismus wünschenswert erschien.

Die Kritik dieses Buches, soweit sie mir zu Gesicht gekommen ist, hatte hauptsächlich die Einleitung bemängelt, in der ich den Kommunismus des Urchristentums kurz kennzeichnete: Das sei eine Auffassung, die vor den neuesten Ergebnissen der Forschung nicht standhalten könne.

Bald nach solchen Kritiken wurde aber auch, namentlich aus dem Munde des Genossen Göhre, verkündet, jene zuerst von Bruno Bauer verfochtene und dann in wesentlichen Punkten von Mehring und mir akzeptierte Auffassung sei überholt, der ich schon 1885 Ausdruck gegeben, daß über die Person Jesu gar nichts Bestimmtes zu sagen sei und das Christentum ohne Heranziehung dieser Person erklärt werden könne. Ich wollte daher eine Neuauflage meines Buches, das vor dreizehn. Jahren erschienen war, nicht bewerkstelligen, ohne meine durch ältere Studien gewonnenen Anschauungen vom Christentum einer Nachprüfung an der Hand der neuesten Literatur darüber unterzogen zu haben.

Ich kam dabei zu dem angenehmen Ergebnis, daß ich nichts zu revidieren habe. Wohl aber eröffneten mir die jüngeren Forschungen eine Fülle neuer Gesichtspunkte und Anregungen, so daß aus der Nachprüfung meiner Einleitung zu den Vorläufern ein ganzes neues Buch erwuchs.

Natürlich beanspruche ich nicht, den Gegenstand zu erschöpfen. Dazu ist er zu riesenhaft. Ich bin zufrieden, wenn es mir gelungen ist, zum Verständnis jener Seiten des Christentums beizutragen, die mir vom Standpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung als die entscheidenden erscheinen.

Ich kann mich sicher auch an Gelehrsamkeit in Fragen der Religionsgeschichte mit den Theologen nicht messen, die deren Studium zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, während ich das vorliegende Buch in den Mußestunden zu schreiben hatte, die redaktionelle und politische Tätigkeit mir in einer Zeit ließen, in der die Gegenwart jeden an den modernen Klassenkämpfen teilnehmenden Menschen völlig gefangen nahm, so daß für die Vergangenheit kaum Platz blieb: in der Zeit, die zwischen dem Beginn der russischen und dem Ausbruch der türkischen Revolution liegt.

Aber vielleicht ist es gerade meine intensive Beschäftigung mit dem Klassenkampf des Proletariats, wodurch mir Einblicke in das Wesen des Urchristentums ermöglicht werden, die den Professoren der Theologie und Religionsgeschichte ferne liegen.

J.J. Rousseau sagt einmal in seiner Julie:

„Ich finde, es ist eine Narrheit, die Gesellschaft (le monde) als bloßer Zuschauer studieren zu wollen. Derjenige, der bloß beobachten will, beobachtet nichts, denn da er unnütz bei den Geschäften ist und lästig bei den Vergnügungen, wird er zu nichts ·zugezogen. Man sieht das Handeln der anderen nur in dem Maße, in dem man selbst handelt. In der Schule der Welt wie in der der Liebe muß man mit der praktischen Ausübung dessen anfangen, was man erlernen will.“ (Zweiter Teil, 17. Brief)

Man kann diesen Satz vom Studium der Menschen, auf das er hier beschränkt wird, auf die Erforschung aller Dinge ausdehnen. Nirgends kommt man weit mit bloßem Zusehen ohne praktisches Eingreifen. Das gilt sogar von der Erforschung so weit entfernter Dinge wie der Sterne. Wo wäre die Astronomie, wenn sie sich auf reines Beobachten beschränkte, wenn sie sich nicht mit der Praxis verbände, mit dem Teleskop, der Spektralanalyse, der Photographie! Aber noch mehr gilt das von den irdischen Dingen, denen unsere Praxis ganz anders an den Leib rücken kann als bloßes Zusehen. Was uns das reine Anschauen von ihnen lehrt, ist blutwenig im Vergleich zu dem, was wir durch unser praktisches Wirken auf diese Dinge und mit diesen Dingen erfahren. Man denke nur an die ungeheure Bedeutung, die das Experiment in der Naturwissenschaft erlangt hat.

In der menschlichen Gesellschaft sind Experimente als Mittel ihrer Erkenntnis ausgeschlossen, aber deswegen spielt die praktische Betätigung des Forschers hier keineswegs eine weniger bedeutende Rolle, freilich mir unter den Voraussetzungen, die allein auch das Experiment zu einem fruchtbaren gestalten. Diese Voraussetzungen sind die Kenntnis der wichtigsten Erfahrungen, die andere Forscher schon vorher gemacht, und die Vertrautheit mit einer wissenschaftlichen Methode, die den Blick für das Wesentliche jeder Erscheinung schärft, es ermöglicht, das Wesentliche vom unwesentlichen zu scheiden und das Gemeinsame in verschiedenen Erfahrungen zu entdecken.

Ein Denker, der mit diesen Voraussetzungen ausgerüstet au das Studium eines Gebietes geht, auf dem er auch praktisch tätig ist, wird dabei leicht zu Ergebnissen gelangen können, die ihm als bloßem Zuseher unzugänglich blieben.

Das gilt nicht zum wenigsten von der Geschichte. Ein praktischer Politiker wird politische Geschichte, bei genügender wissenschaftlicher Vorbildung, leichter begreifen und sich eher in ihr zurechtfinden als ein Stubengelehrter, der mit den treibenden Kräften der Politik nie die geringste praktische Bekanntschaft gemacht hat. Namentlich dann wird der Forscher durch seine praktische Erfahrung begünstigt werden, wenn es sich um die Erforschung einer Bewegung jener Klasse handelt, in der er selbst wirkt, mit deren Eigenart er aufs beste vertraut ist. Das kam bisher freilich fast ausschließlich den besitzenden Klassen zugute, die die Wissenschaft monopolisierten. Die Bewegungen der unteren Volksklassen haben noch wenige verständnisvolle Erforscher gefunden.

Das Christentum war in seinen Anfängen unzweifelhaft eine Bewegung besitzloser Schichten der verschiedensten Art, die man unter dem Namen Proletarier zusammenfassen darf, wenn man unter diesem Ausdruck nicht Lohnarbeiter allein versteht. Wer die moderne Bewegung des Proletariats und das Gemeinsame ihrer Eigenart in den verschiedenen Ländern durch praktische Mitarbeit kennt, wer als Mitkämpfer des Proletariats dessen Fühlen und Sehnen mitempfinden gelernt hat, darf wohl erwarten, auch in den Anfängen des Christentums vieles leichter begreifen zu können als Gelehrte, die das Proletariat stets nur von der Ferne betrachtet haben.

Wenn sich aber der wissenschaftlich geschulte praktische Politiker vor dem bloßen Buchgelehrten bei der Geschichtschreibung in vielem begünstigt sieht, so wird dies freilich oft nur zu leicht wettgemacht dadurch, daß der praktische Politiker stärkeren Versuchungen unterliegt als der weltfremde Büchermensch, die seine Unbefangenheit trüben. Zwei Gefahren sind es insbesondere, welche die Geschichtschreibung der praktischen Politiker mehr als die anderer Forscher bedrohen: Einmal die Versuchung, die Vergangenheit ganz nach dem Bilde der Gegenwart zu modeln, und dann das Streben, die Vergangenheit so zu sehen, wie es den Bedürfnissen der Gegenwartspolitik entspricht.

Vor diesen Gefahren fühlen wir Sozialisten, soweit wir Marxisten sind, jedoch sehr geschützt durch die mit unserem proletarischen Standpunkt in Zusammenhang stehende materialistische Geschichtsauffassung.

Die herkömmliche Geschichtsauffassung sieht in den politischen Bewegungen nur den Kampf um bestimmte politische Einrichtungen – Monarchie, Aristokratie, Demokratie usw. –, die wieder das Resultat bestimmter ethischer Ideen und Bestrebungen sind. Bleibt man dabei stehen, sucht man nicht nach dem Grunde dieser Ideen, Bestrebungen und Einrichtungen, dann wird man leicht finden, daß sie im Laufe der Jahrhunderte sich nur äußerlich wandeln, im Kerne aber die gleichen bleiben; daß es dieselben Ideen, Bestrebungen und Einrichtungen sind, die immer wiederkehren, daß die ganze Geschichte ein ununterbrochenes Streben nach Freiheit und Gleichheit darstellt, das immer wieder auf Unfreiheit und Ungleichheit stößt, nie zu verwirklichen, aber auch nie gänzlich auszurotten ist.

Haben einmal irgendwo Kämpfer für Freiheit und Gleichheit gesiegt, so wandelt sich ihr Sieg in die Begründung neuer Unfreiheit und Ungleichheit. Sofort erstehen aber auch wieder neue Kämpfer für Freiheit und Gleichheit.

Die ganze Geschichte erscheint so als ein Kreislauf, der immer wieder in sich selbst zurückkehrt, eine ewige Wiederholung derselben Kämpfe, wobei nur die Kostüme wechseln, ohne daß die Menschheit vom Flecke kommt.

Wer diese Auffassung teilt, wird stets geneigt sein, die Vergangenheit nach dem Bilde der Gegenwart zu malen, und wird, je besser er die Menschen der Gegenwart kennt, um so eher auch die der Vorzeit nach ihrem Muster formen.

Dem wirkt eine Geschichtsauffassung entgegen, die bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Ideen nicht stehen bleibt, sondern deren Ursachen in den tiefsten Grundlagen der Gesellschaft zu erforschen sucht. Sie stößt dabei immer wieder auf die Produktionsweise, die wieder in letzter Linie vom Stande der Technik, wenn auch keineswegs von dieser allein, abhängt.

Sobald wir an die Erforschung der Technik und dann der Produktionsweisen der Vorzeit gehen, verschwindet sofort die Anschauung, als wiederhole sich auf der Weltenbühne immer wieder dieselbe Tragikomödie. Die Wirtschaft der Menschen weist eine stete, wenn auch keineswegs ununterbrochene und in gerader Linie vor sich gehende Entwicklung von niedrigen zu höheren Formen auf. Haben wir aber die wirtschaftlichen Verhältnisse der Menschen in den verschiedenen historischen Perioden erforscht, dann verschwindet auch sofort der Schein der ewigen Wiederkehr der gleichen Ideen, Bestrebungen und politischen Einrichtungen. Man sieht dann, daß dieselben Worte im Laufe der Jahrhunderte ihren Sinn ändern, daß Ideen und Einrichtungen, die einander äußerlich gleichen, einen verschiedenen Inhalt haben, weil sie den Bedürfnissen verschiedener Klassen unter verschiedenen Bedingungen entspringen. Die Freiheit, nach der der moderne Proletarier verlangt, ist eine andere als die, welche die Vertreter des dritten Standes 1789 anstrebten, und diese wieder war grundverschieden von der Freiheit, für welche zu Beginn der Reformation die deutsche Reichsritterschaft kämpfte.

Sobald man die politischen Kämpfe nicht mehr als bloße Kämpfe um abstrakte Ideen oder politische Einrichtungen auffaßt, sondern ihre ökonomische Grundlage bloßlegt, sieht man sofort, daß hier, ebenso wie in der Technik und der Produktionsweise, eine stete Entwicklung zu neuen Formen vor sich geht, daß keine Epoche völlig der anderen gleicht, daß dieselben Schlachtrufe und dieselben Argumente zu verschiedenen Zeiten sehr Verschiedenes bedeuten.

Wenn der proletarische Standpunkt es gestattet, diejenigen Seiten des Urchristentums, die es mit der modernen Bewegung des Proletariats gemein hat, leichter zu begreifen, als es bürgerlichen Forschern möglich ist, so bewahrt die aus der materialistischen Geschichtsauffassung entspringende Betonung der ökonomischen Verhältnisse davor, über der Erkenntnis der gemeinsamen Züge die Eigenart des antiken Proletariats zu vergessen, die aus seiner besonderen ökonomischen Situation entsprang und die bei aller Gemeinsamkeit so vieler Züge doch sein Streben so grundverschieden von dem des modernen Proletariats formte.

Indem uns die marxistische Geschichtsauffassung vor der Gefahr schützt, die Vergangenheit mit dem Maßstabe der Gegenwart zu messen und unseren Blick für die Besonderheit jedes Zeitalters und jedes Volkes schärft, entzieht sie uns aber auch der anderen Gefahr, die Darstellung der Vorzeit dem praktischen Interesse anzupassen, das man in der Gegenwart verficht.

Sicher wird sich ein ehrlicher Mensch, welches immer sein Standpunkt sein mag, nicht zu einer bewußten Fälschung der Vergangenheit verleiten lassen. Aber nirgends ist Unbefangenheit des Forschers notwendiger als in den Gesellschaftswissenschaften, und nirgends ist sie schwieriger zu erreichen.

Die Aufgabe der Wissenschaft besteht eben nicht darin, einfach darzustellen was ist, eine naturgetreue Photographie der Wirklichkeit zu geben, so daß jeder normal organisierte Beobachter dasselbe Bild erzielt. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, aus der verwirrenden „Fülle der Gesichte“, der Erscheinungen, das Allgemeine, das Wesentliche herauszuholen und dadurch einen Leitfaden zu schaffen, au dessen Hand man sich im Labyrinth der Wirklichkeit zurechtfindet.

Die Aufgabe der Kunst ist übrigens eine ähnliche. Auch sie hat nicht einfach eine Photographie der Wirklichkeit zu liefern, sondern der Künstler hat das wiederzugeben, was ihm an der Wirklichkeit, die er schildern will, als das Wesentliche, das Charakteristische erscheint. Der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft besteht darin, daß der Künstler das Wesentliche sinnlich erfaßbar darstellt und dadurch seine Wirkungen erzielt, indes der Denker das Wesentliche als Begriff, als Abstraktion zur Darstellung bringt.

Je komplizierter eine Erscheinung und je geringer die Zahl der Erscheinungen, mit denen die eine zu vergleichen ist, desto schwieriger, das Wesentliche in ihr von dem Zufälligen zu sondern, desto mehr wird die subjektive Eigenart des Forschers und Darstellers dabei zur Geltung kommen. Desto unerläßlicher aber auch die Klarheit und Unbefangenheit seines Blicks.

Nun gibt es wohl keine kompliziertere Erscheinung als die menschliche Gesellschaft, die Gesellschaft von Menschen, von denen jeder einzelne schon komplizierter ist als jedes andere Wesen, das wir kennen. und dabei ist die Zahl der miteinander vergleichbaren gesellschaftlichen Organismen der gleichen Entwicklungsstufe eine relativ äußerst geringe. Kein Wunder, daß die wissenschaftliche Erforschung der Gesellschaft später beginnt als die eines anderen Gebiets unserer Erfahrung, kein Wunder auch, daß gerade hier die Anschauungen der Forscher weiter auseinandergehen als anderswo. Diese Schwierigkeiten werden aber noch enorm vergrößert dann, wenn, wie das bei den Wissenschaften von der Gesellschaft so häufig der Fall ist, die verschiedenen Forscher in sehr verschiedener, oft gegensätzlicher Weise an dem Ergebnis ihrer Forschungen praktisch interessiert sind, wobei dies praktische Interesse kein persönliches zu sein braucht, ein sehr sachliches Klasseninteresse sein kann.

Es ist offenbar ganz unmöglich, die Unbefangenheit gegenüber der Vergangenheit zu bewahren, wenn man an den gesellschaftlichen Gegensätzen und Kämpfen seiner Zeit in irgend einer Weise ein Interesse nimmt und gleichzeitig in diesen Erscheinungen der Gegenwart eine Wiederholung der Gegensätze und Kämpfe der Vergangenheit sieht. Letztere werden nun Präzedenzfälle, die die Rechtfertigung oder Verurteilung jener in sich schließen, von der Beurteilung der Vergangenheit hängt jetzt die der Gegenwart ab. Wer, dem seine Sache teuer ist, könnte da unbefangen bleiben? Je mehr er an ihr hängt, desto wichtiger werden ihm in der Vergangenheit jene Tatsachen erscheinen, und er wird sie als wesentliche hervorheben, die den eigenen Standpunkt zu stützen scheinen, indes er Tatsachen, die das Gegenteil zu bezeugen scheinen, als unwesentliche in den Hintergrund schieben wird. Der Forscher wird zum Moralisten oder Advokaten, der bestimmte Erscheinungen der Vergangenheit verherrlicht oder brandmarkt, weil er ähnlichen Erscheinungen der Gegenwart – Kirche, Monarchie, Demokratie usw. – entweder als Verteidiger oder als Feind gegenübersteht.

Ganz anders dagegen, wenn man auf Grund ökonomisch Einsicht erkennt, daß nichts in der Geschichte sich wiederholt, daß die ökonomischen Verhältnisse der Vergangenheit unwiederbringlich dahin sind, daß die früheren Gegensätze und Kämpfe der Klassen wesentlich verschieden sind von den heutigen, daß daher auch die modernen Einrichtungen und Ideen bei aller äußerlichen Übereinstimmung mit denen der Vergangenheit doch einen ganz anderen Inhalt haben als diese. Man sieht nun ein, das; jede Zeit mit ihrem eigenen Maße zu messen ist, daß die Bestrebungen der Gegenwart durch die Verhältnisse der Gegenwart zu begründen sind, daß Erfolge oder Mißerfolge der Vergangenheit darüber an sich sehr wenig sagen, daß die einfache Berufung auf die Vergangenheit zur Rechtfertigung von Forderungen der Gegenwart direkt irreführend werden kann. Das haben Demokraten und Proletarier Frankreichs im letzten Jahrhundert oft genug erfahren, wenn sie sich mehr auf die „Lehren“ der französischen Revolution als auf die Einsicht in die bestehenden Klassenverhältnisse stützten.

Wer auf dem Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung steht, der vermag die Vergangenheit mit vollster Unbefangenheit anzusehen, auch wenn er an den praktischen Kämpfen der Gegenwart den lebhaftesten Anteil nimmt. Die Praxis kann seinen Blick für viele Erscheinungen der Vergangenheit nur noch schärfen, dicht mehr trüben.

So bin auch ich an die Darstellung der Wurzeln des Urchristentums gegangen ohne die Absicht, es zu verhimmeln oder zu brandmarken, sondern nur mit dem Streben; es zu begreifen. Ich wußte, zu welchen Resultaten immer ich kommen mochte, die Sache, für die ich kämpfe, konnte darunter nicht leiden. Wie immer mir die Proletarier der Kaiserzeit erschienen, wenn es immer ihre Bestrebungen und deren Resultate sein mochten, sie waren jedenfalls völlig verschieden von dem modernen Proletariat, das in einer ganz anderen Situation und mit ganz anderen Hilfsmitteln kämpft und wirkt. Welche Großtaten und Erfolge, welche Erbärmlichkeiten und Niederlagen jene Proletarier aufweisen mochten, sie konnten nichts bezeugen für das Wesen und die Aussichten des modernen Proletariats, weder Günstiges noch Ungünstiges.

Wenn dem aber so ist, hat dann die Beschäftigung mit der Geschichte noch irgend einen praktischen Zweck? Nach der gewöhnlichen Ansicht betrachtet man die Geschichte wie eine Seekarte für die Schiffer auf dem Meere des politischen Handelns; sie soll die Rife und Untiefen zeigen, an denen frühere Seefahrer gestrandet sind, und soll deren Nachfolger instand setzen, mit heiler Haut daran vorbeizukommen.

Wenn aber das Fahrwasser der Geschichte sich ununterbrochen ändert, die untiefen sich immer wieder an anderen Stellen bilden, jeder Pilot von neuem erst selbst wieder durch stete Untersuchungen des Fahrwassers seinen Weg suchen muß, wenn das bloße Richten nach der alten Karte nur zu oft irre führt, wozu studiert man dann noch Geschichte, außer etwa am antiquarischer Liebhaberei?

Wer das annähme, würde gar sehr das Kind mit dem Bade ausgießen.

Wollen wir in dem eben gebrauchten Bilde bleiben, so ist die Geschichte als ständige Seekarte freilich für den Piloten eines politischen Fahrzeugs unbrauchbar. Aber das besagt nicht, daß sie nun überhaupt nutzlos für ihn wäre. Nur der Gebrauch ist ein anderer, den er von ihr zu machen hat. Er muß sie als Lot benutzen, als Mittel, das Fahrwasser, in dem er sich befindet, zu erkennen und sich darin zurecht zu finden. Der einzige Weg, eine Erscheinung zu begreifen, ist der, zu erfahren, wie sie sich gebildet hat. Ich kann die heutige Gesellschaft nicht begreifen, wenn ich nicht weiß, auf welche Weise sie entstanden ist, wie sich die einzelnen ihrer Erscheinungen, Kapitalismus, Feudalismus, Christentum, Judentum usw. entwickelt haben.

Will ich mir klar werden über die gesellschaftliche Stellung, die Aufgaben und Aussichten der Klasse, der ich angehöre oder der ich mich angeschlossen habe, dann muß ich Klarheit erlangen über den bestehenden gesellschaftlichen Organismus, ich muß ihn allseitig begreifen, was unmöglich ist, wenn ich ihn nicht in seinem Werden verfolgt habe. Ohne Einsicht in den Entwicklungsgang der Gesellschaft ist es unmöglich, ein bewußter und weitblickender Klassenkämpfer zu sein, bleibt man abhängig von den Eindrücken der nächsten Umgebung und des Augeublicks, ist man nie sicher, sich dadurch in ein Fahrwasser treiben zu lassen, das anscheinend vorwärts führt, bald aber zwischen Klippen endet, durch die es kein Entkommen gibt. Sicher gab es manchen erfolgreichen Klassenkampf, ohne daß die daran Beteiligten ein klares Bewußtsein vom Wesen der Gesellschaft hatten, in der sie lebten.

Aber in der heutigen Gesellschaft schwinden die Bedingungen eines derartigen erfolgreichen Kampfes, ebenso wie es in dieser Gesellschaft immer schwerer wird, sich etwa in der Wahl seiner Nahrungs- und Genußmittel bloß vom Instinkt und dem Herkommen leiten zu lassen. Die mochten in einfachen, natürlichen Verhältnissen genügen. Je künstlicher durch den Fortschritt der Technik und der Naturwissenschaften die Lebensbedingungen werden, je mehr sie sich von der Natur entfernen, um so notwendiger wird für den einzelnen die naturwissenschaftliche Erkenntnis, um in der Fülle der ihm gebotenen künstlichen Produkte die für seinen Organismus zweckmäßigsten herausfinden zu können. Solange die Menschen nur Wasser tranken, genügte der Instinkt, der sie gutes Quellwasser suchen und faules Sumpfwasser verschmähen heißt. Er versagt aber vollständig als Führer gegenüber den fabrizierten Getränken. Hier wird die wissenschaftliche Einsicht zur Notwendigkeit.

Und ebenso ist es in der Politik, im gesellschaftlichen Wirken überhaupt. In den oft winzigen Gemeinwesen der Vorzeit mit ihren einfachen und durchsichtigen Verhältnissen, die sich jahrhundertelang nicht änderten, genügten das Herkommen und der „gesunde Menschenverstand“, das heißt die aus persönlichen Erfahrungen gewonnene Einsicht des einzelnen, ihm in der Gesellschaft seinen Platz und seine Aufgaben zu zeigen. Heute, in einer Gesellschaft, deren Markt das ganze Weltenrund umfaßt, die in beständiger Umwälzung begriffen ist, technischer und sozialer Umwälzung, in der die Arbeiter sich in Millionenheeren organisieren, die Kapitalisten Summen von Milliarden in ihren Händen konzentrieren, da ist es unmöglich, daß eine aufstrebende Klasse, die sich nicht auf das Festhalten des Bestehenden beschränken kann, die eine völlige Erneuerung der Gesellschaft anstreben muß, ihren Klassenkampf zweckmäßig und erfolgreich führt, wenn sie sich auf den gesunden Menschenverstand und die Kleinarbeit der Praktiker beschränkt. Da wird es vielmehr zu einer dringenden Notwendigkeit für jeden Kämpfer, seinen Horizont durch wissenschaftliche Einsicht zu erweitern, sich die Erkenntnis der großen räumlichen und zeitlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erschließen, nicht um die Kleinarbeit aufzuheben oder auch nur zurückzudrängen, sondern um sie in bewußten Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß zu bringen. Das wird um so notwendiger, je mehr dieselbe Gesellschaft, die immer mehr den gesamten Erdball umfaßt, gleichzeitig die Arbeitsteilung immer weiter treibt, den einzelnen immer mehr auf eine Spezialität, aus eine Einzelverrichtung beschränkt und dadurch die Tendenz erzeugt, ihn geistig immer mehr zu degradieren, unselbständiger und unfähiger zu machen zum Verständnis des Gesamtprozesses, der gleichzeitig ins Riesenhafte anschwillt.

Da wird es zur Pflicht für jeden, der den Aufslieg des Proletariats zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, dieser Tendenz anf Geistesverödung und Borniertheit entgegenzuwirken, das Interesse der Proletarier auf große Gesichtspunkte, große Zusammenhänge, große Ziele zu lenken.

Es gibt kaum etwas, wodurch dies wirksamer erreicht werden könnte, als durch die Beschäftigung mit der Geschichte, durch das Überschauen und Begreifen des Entwicklungsganges der Gesellschaft durch große Zeiträume hindurch, namentlich wenn diese Entwicklung gewaltige soziale Bewegungen umfaßte, die in heute herrschenden Mächten fortwirken.

Das Proletariat zu gesellschaftlicher Einsicht, zu Selbstbewußtsein und politischer Reife, zu weitumfassendem Denken zu bringen, dazu ist unentbehrlich das Studium des geschichtlichen Prozesses an der Hand der materialistischen Geschichtsauffassung. So wird für uns die Erforschung der Vergangenheit, weit entfernt, bloße antiquarische Liebhaberei zu sein, vielmehr eine mächtige Waffe in den Kämpfen der Gegenwart, um die Erringung einer besseren Zukunft zu beschleunigen.

Berlin, September 1908

K. Kautsky


Zuletzt aktualisiert am 26.12.2011