Karl Kautsky

Die Folgen des japanischen Sieges
und die Sozialdemokratie

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5. Indien und England


Die neue Zeit, 23 Jg. 2 Bd. (19. Juli 1905), H. 43, S. 534–537.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Neben Japan und China gibt es aber noch ein gewaltiges Gebiet in Asien, das durch die japanischen Siege aufgestachelt und vielleicht mehr noch revolutioniert wird als das Reich der Mitte. Es ist dies Indien mit seinen 300 Millionen Einwohnern.

Wie China war auch Indien bisher schwach durch den Mangel eines einheitlichen nationalen Bewusstseins. Dieselbe Produktionsweise wie in China machte auch in Indien jede Dorfgemeinde zu einer Welt für sich, die sich um die übrige Welt nicht kümmerte. Wenn aber in China wenigstens eine gemeinsame Sprache, Religion, Literatur Bande sind, die die ganze Nation umfassen und das Aufkommen eines einheitlichen nationalen Gefühls sehr erleichtern, so fehlt diese Gemeinsamkeit in Indien. Weit leichter fremden Eroberern zugänglich, hat es von Zeit zu Zeit Masseneinbrüche fremder Völker gesehen, die sich nicht immer mit den früheren Bewohnern völlig vermischten. So hat sich im Laufe der Jahrtausende auf dem weiten Gebiet eine bunte Musterkarte der verschiedensten Völkerschaften, Sprachen, Religionen und Kasten entwickelt, die einander nicht bloß fremd, sondern oft direkt feindselig gegenüberstehen. Das ist eine der stärksten Wurzeln des absoluten Regimes, welches die Engländer in Indien errichtet haben. Und daneben stützt es noch der durch so viele Niederlagen in Kriegen und Empörungen bekräftigte Glaube an die Unüberwindlichkeit europäischer Kriegskunst.

Diesem Glauben wurde ein Ende bereitet durch die glänzende Kriegführung Japans, seine Niederwerfung jenes Feindes, den die Herren Indiens selbst so sehr fürchteten, dass sie ihm eine Konzession nach der anderen machten und ihn widerstandslos bis an die Tore ihres Reiches gelangen ließen. Aber diese Kriegführung hat nicht nur das Selbstgefühl der Asiaten gehoben, sondern auch eine Art asiatisches Nationalgefühl erzeugt, in dem die bisherigen Stammesgefühle wenn auch nicht ganz verschwinden, so doch so weit zurücktreten, dass ein gemeinsames Handeln gegen den gemeinsamen Feind dadurch erheblich erleichtert wird.

In den letzten Tagen ging ein Artikel durch die Parteipresse über „Das Erwachen Asiens“, der einige sehr bemerkenswerte Tatsachen darüber mitteilt, dass man in Indien beginnt, auf den höheren Schulen Japanisch zu lehren, dass indische Studenten nicht mehr nach England, sondern nach Japan studieren gehen und Japan dort in allen Dingen für vorbildlich gehalten wird. Ähnliches wird auch von anderer Seite berichtet, unter anderem hat Genosse Hyndman, der genaue Kenner Indiens, darauf hingewiesen, dass unter dem Einfluss der japanischen Siege das Selbstgefühl und die oppositionelle Stimmung gegen England in Indien rasch wächst. Bei den gut entwickelten Kommunikationen, der großen Vereins- und Versammlungsfreiheit, der gut entwickelten Presse kann aber eine solche Stimmung dort rasche Verbreitung finden, und wie leicht, selbst bei mangelnder Presse- und Vereinsfreiheit, die Opposition gegen einen unerträglichen Druck die Angehörigen der verschiedensten Nationen zu einheitlichem Vorgehen vereinigen kann, zeigt eben jetzt Russland im großartigsten Maße.

Die Niederlage Russlands kann aber noch in anderer Weise das Wachstum der indischen Opposition gegen die britische Herrschaft begünstigen. Solange ein starkes, angriffslustiges Russland an den Grenzen Indiens lauerte, lief jede energische Bewegung gegen das englische Regime Gefahr, nur die Pläne Russlands zu fördern. Wie drückend aber auch die britische Verwaltung empfunden werden mag, so steht sie doch noch hoch über der russischen. Die Indier kämen vom Regen in die Traufe, würden sie das englische Joch mit dem russischen vertauschen. Diese Erwägung musste gerade die intelligentesten und weitest blickenden Inder davon zurückhalten, eine Bewegung zu fördern, die Englands Position zu schwächen vermochte.

Jetzt, nach Russlands Niederlage, sind diese Befürchtungen für lange hinfällig geworden. England in Indien schwächen, heißt jetzt nicht mehr, Russlands Eindringen dort fördern. Schon einmal haben ähnliche Erwägungen die Engländer eine Kolonie gekostet. Solange die Franzosen in Nordamerika ein großes Kolonialreich besaßen, dicht an den Grenzen der englischen Kolonien, und durch ihr Vordringen deren Unabhängigkeit bedrohten, waren diese voll der größten Loyalität für das Mutterland, das sie schützte und dessen Oberhoheit sie dem Regime der Soldaten, Bürokraten und Jesuiten des französischen Absolutismus vorzogen. Als aber Frankreich geschlagen war und im Pariser Frieden auf seine nordamerikanischen Besitzungen verzichten musste, da begann sich sofort in den englischen Kolonien der Geist der Unabhängigkeit und der Widerspenstigkeit gegen das Mutterland zu regen, dessen Schutz man nicht mehr brauchte, und es dauerte nur wenige Jahre, so hatten sie dem Stammland den Krieg erklärt und sich von ihm losgerissen. 1763 wurde der Pariser Friede geschlossen, und schon 1773 brach die Rebellion in Boston los, mit der der Unabhängigkeitskrieg begann, der dann, wieder zehn Jahre später, 1783, durch die Anerkennung der .Vereinigten Staaten seinen Abschluss fand.

Natürlich ist nicht zu erwarten, dass die anregenden Wirkungen des japanischen Krieges auf Indien sich sofort in einer Losreißungsbewegung äußern werden. Wohl aber dürften sie die Opposition gegen das jetzige Regime erheblich verstärken und verschärfen. Das kann zweierlei Folgen haben: entweder das Streben, die Opposition durch Gewaltmittel niederzudrücken, was darin der Bewegung erst recht einen rebellischen Charakter verleihen müsste; oder das Streben, sie durch Konzessionen zu entwaffnen, wodurch freilich England sich den Besitz von Indien noch für längere Zeit sichern könnte, aber nur durch Verzicht auf die reiche Beute, die es bisher jahraus jahrein aus dem Lande zog. Die allgemeinen Tendenzen der englischen Kolonialpolitik und der englischen Politik überhaupt sprechen für das letztere Verfahren. Aber man darf nicht vergessen, dass die Engländer die Methode der Konzessionen in der Regel nur dort anwenden, wo sie durch die entgegengesetzte wenig zu gewinnen haben. Es ist die Methode des berechnenden Kaufmanns. Aber so sehr ein solcher sonst bereit sein mag, mit sich handeln zu lassen und durch Entgegenkommen die Kundschaft zu fesseln, er wird unerbittlich, brutal, grausam, wo großer Gewinn lockt oder auf dem Spiele steht. Das hat England erst jüngst in Südafrika bewiesen.

In Indien handelt es sich aber um noch viel mehr als in Südafrika. Es ist heute die einzige große Kolonie alten Stils. Während die Kolonien der anderen Länder alle viel kosten, die anderen englischen Kolonien mindestens keinen erheblichen Ertrag abwerfen, alle aber, englische wie andere, Kapitalien bloß importieren, nicht exportieren, ist das britische Indien noch ein Überbleibsel jener Periode, in der die Kolonien ein Mittel ursprünglicher Akkumulation von Kapital waren, Kapitalien exportierten oder vielmehr Reichtümer, die zu Kapital werden konnten, sehr unfreiwillig abgaben und dadurch den Kapitalreichtum des Stiefmutterlandes rasch vergrößerten. Enorme Reichtümer wandern heute noch jedes Jahr von Indien nach Großbritannien. Dadabhai Naorodschi berechnet sie in seinem Buche über Indien (Poverty and unbritish Rule in India, London 1901, Swan Sonnenschein) auf 600 Millionen Mark, in einem Artikel der Justice vom 24. Juni dieses Jahres auf 700 Millionen (über 34 Millionen Pfund Sterling) jährlich.

Seit Jahrhunderten wird Indien von England geplündert. Aber anfangs waren es die großen Machthaber, deren Schatzkammern geleert wurden; das konnte das Land ertragen. Je leerer diese wurden, desto mehr trat die Ausplünderung durch Besteuerung der armen Volksmasse in den Vordergrund, und diese Art der Plünderung wächst zusehends und wird immer verderblicher. Ihr Betrag hat sich in den letzten hundert Jahren verzehnfacht. Das bedeutet eine Verelendung der Volksmasse, eine Lähmung des Hauptproduktionszweigs, der Landwirtschaft, in einem nicht geringeren Maße, als dies in Russland der Fall. Hier wie dort ist denn auch die Hungersnot ein ständiger Gast, ist eine Umwälzung dieses Systems zu einer Lebensfrage geworden.

Aber sie bedeutet eine Lebensfrage nicht bloß für Indien, sondern, wenn auch in anderer Weise, für die herrschenden Klassen Englands. Der eine Pfeiler seiner ökonomischen Macht, seine industrielle Alleinherrschaft, ist freilich schon geborsten, aber noch steht der andere: die Ausbeutung Indiens. Und je mehr der erstere zusammenbricht, um so wichtiger wird der zweite. Mit Recht erklärte Lord Curzon, der Vizekönig Indiens, in der Times (3. Dezember 1898):

„Indien ist der Angelpunkt unseres Reiches. Den Verlust jeder anderen seiner Besitzungen könnte es überleben, aber wenn wir Indien verlören, ginge die Sonne für unser Reich unter.“

Das heißt, die Sonne für das Reich der Reichen. Dieses versänke in finstere Nacht. Sein ganzes ökonomisches System erlitte einen Zusammenbruch, aus dem der Sozialismus den einzigen Ausweg zu erneutem Wohlstand böte.

Aber schon eine Politik der Konzessionen an Indien, die, um dem Verlust vorzubeugen, seine Ausbeutung erheblich verminderte und damit die Summe der Reichtümer einschränkte, die nach England fließt und bis in einen Teil seiner arbeitenden Klassen hinein Wohlstand verbreitet, schon eine solche Politik müsste die Arbeitslosigkeit und die Staatskosten in England vermehren, die Staatseinnahmen aus den bisherigen Quellen vermindern, die Klassengegensätze verschärfen.

Wohl hoben sich alle Erwartungen bisher als trügerische erwiesen, die wir seit einem Vierteljahrhundert immer wieder von neuem auf das Erwachen der englischen Arbeiterklasse auf der Tatsache ableiteten, dass die Ausnahmestellung Englands als industrieller Alleinherrscher auf dem Weltmarkt ihr Ende erreicht hat. Bisher hat nur die Kapitalistenklasse Englands die Konsequenzen daraus gezogen durch wachsende Feindseligkeit gegen jegliche Art proletarischer Kampforganisationen. Aber vielleicht wird die Erhebung Indiens endlich zum Anstoß werden, das schlafende Proletariat Englands zu erwecken, indem dadurch der zweite Pfeiler jener Ausnahmestellung Englands ins Wanken gebracht wird, die gegenüber dem Ausland eine Art Interessenharmonie zwischen seinen Kapitalisten und Proletariern wenigstens für kurzsichtige Beschauer herstellte. Wachsende Schwierigkeiten in Indien, ökonomische Krise, vermehrte Steuern, vielleicht Lebensmittelzölle in England, zusammenfassend mit der russischen Revolution in Permanenz, mit großen politischen Kämpfen in Deutschland und Frankreich, mit Umwälzungen in Österreich und der Türkei, vielleicht gar noch internationalen Kriegen – wenn das die englischen Arbeiter nicht aufrüttelt, dann ist auf sie in unseren nächsten Befreiungskämpfen überhaupt nicht mehr zu rechnen, dann wird das auserwählte Volk der Nurgewerkschaftlerei für den Sozialismus erst dann reif werden, wenn auch Japaner, Chinesen, Hindus dazu reif sind – von den Botokuden wollen wir vorläufig noch absehen.

Aber trotz aller trüben Erfahrungen ist zu einer derartigen pessimistischen Auffassung noch keine Veranlassung. Noch dürfen wir hoffen, dass die gewaltige Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse des gesamten Erdballs, die der russisch-japanische Krieg entfesselt hat, auch am britischen Proletariat nicht spurlos vorübergeht und dass er es vermag, jede der drei großen konservativen Mächte, die jeglicher Revolution unzugänglich schienen, China, Russland, England, mitten in die Strömung der großen Emanzipationskämpfe unserer Zeit hineinzuziehen und damit deren Tempo enorm zu beschleunigen.

Wie immer diese Kämpfe in Wirklichkeit sich gestalten, wie Unerwartetes sie bringen, wie sehr sie die Schlussfolgerungen, die ich hier aus den vorliegenden Tatsachen zu ziehen versucht, modifizieren mögen, eines kann man jetzt schon mehr als wahrscheinlich, kann man als sicher betrachten: eine Ära revolutionärer Entwicklung hat begonnen; das Zeitalter langsamen, mühsamen, fast unmerklichen Fortschreitens wird weichen einer Epoche der Revolution, sprunghaften Vorwärtsschnellens – freilich vielleicht auch zeitweiliger großer Niederlagen, aber, so viel Zutrauen müssen wir zur Sache des Proletariats haben, auch schließlicher großer Siege. Damit werden wir aber nur ernten, was wir und unsere Vorgänger gesät. Ohne die Aufklärungsarbeit unserer großen Theoretiker und Redner, ohne die unermüdliche propagandistische und organisatorische Kleinarbeit unserer zahllosen anonymen Kämpfer, ohne alle jene Arbeiten, die oft als Sisyphusarbeiten erschienen, deren geringe äußerliche Erfolge manchen entmutigten, indes sie manchem anderen den Blick so verengten, dass er andere Methoden des Fortschreitens nicht mehr für möglich hielt – ohne all diese emsige Vorbereitungsarbeit von Jahrzehnten, ebenso wie ohne die unermüdliche revolutionierende Tätigkeit des Kapitalismus, der alle alten Verhältnisse ausgehöhlt und haltlos gemacht –, ohne alles das wäre es unmöglich, dass jetzt das kleine, ferne Japan eine solche Summe revolutionärer Energie in der Welt auslöste.

Dass aber Japan dies vermochte, dass der Sieg einer weit entfernten ostasiatischen Macht den proletarischen Klassenkampf in Europa so gewaltig anzustacheln vermag, beweist auch, wie sehr das Proletariat eine Weltmacht geworden ist, dass nichts Großes mehr in der Welt sich vollziehen kann, das nicht den Siegeszug des Sozialismus beschleunigt.


Zuletzt aktualisiert am 21. Oktober 2024