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Die neue Zeit, 23 Jg. 2 Bd. (12. Juli 1905), H. 42, S. 492–499.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Heute schon wird durch die im letzten Artikel geschilderten Verhältnisse das Denken und Empfinden weiter Parteikreise beeinflusst, und zwar vor allem jener, die einen weiteren Blick haben über die Traditionen des Herkömmlichen und über die lokalen Schranken des „Vaterlandes“ hinaus. Dadurch wird es auch verständlich, warum das Interesse für die Idee des politischen Massenstreiks lawinenartig wächst, eine Idee, die vor zwei Jahren noch für unsere Partei eine rein akademische Bedeutung hatte.
Bömelburg meinte in Köln, je länger er sich die Frage des Generalstreiks überlegt habe, desto mehr habe er sich überzeugt, dass es sich dabei um eine Revolution handle; es könne dabei nichts herauskommen als die Revolution. Das ist nicht ganz richtig, wie schon das Beispiel Belgiens, Schwedens, Hollands, Italiens beweist. Der Massenstreik bedingt nicht notwendig die Revolution. Er ist ein Mittel politischer Pression, politischer Gewalt, das unter verschiedenen politischen Situationen und Bedingungen sehr Verschiedenes bedeuten kann. Aber eines ist richtig: unter den besonderen politischen Verhältnissen Deutschlands ist ein erfolgreicher Massenstreik nur denkbar in einer revolutionären Situation, und wäre es darum aussichtslos, ja verderblich, wollte man ihn anwenden in einer Situation, die zu einer revolutionären nicht werden kann. Es wäre zum Beispiel die größte Torheit, wollte man heute in Hamburg zur Verteidigung des dortigen Wahlrechtes einen Massenstreik inszenieren! Den Massenstreik für eine einzelne Stadt; das Aufgebot der letzten und schärfsten Waffe des Proletariats, die seine vollste Hingebung und seinen höchsten Opfermut erfordert, bloß zu dem Zwecke, um das jetzige, schon miserable Klassen-Wahlrecht gegen weitere Verschlechterungen zu schützen!
Aber selbst wenn es zur Aufhebung des Reichstagswahlrechtes käme, müsste man sich es noch sehr überlegen, ob man ohne Weiteres mit dem Massenstreik darauf antworten sollte; das käme ganz auf die Situation an, in der sich dies vollzieht. Wenn wir es für notwendig halten, den Massenstreik zu diskutieren und die proletarischen Massen mit seiner Handhabung vertraut zu machen, so vor allem deswegen, weil wir auch für Deutschland revolutionäre Situationen erwarten, die den Massenstreik ebenso geboten wie möglich machen. Eine Verschlechterung des Wahlrechtes zum Reichstag könnte zur Herbeiführung einer solchen Situation allerdings sehr viel beitragen und insofern eine Provokation zum Massenstreik werden. Wir halten es aber nicht minder für notwendig, ihn deswegen zu diskutieren, weil er nicht überall unter allen Umständen anwendbar ist und seine verkehrte Anwendung großes Unheil nach sich ziehen kann.
Wir müssen damit rechnen, dass die Situation in den verschiedensten Ländern außerhalb Deutschlands sich in einer Weise gestaltet, die den Massenstreik dort nötig und möglich macht, und dass diese Erfolge dazu verführen, ihn dann ohne Weiteres auch in Deutschland zur Anwendung zu bringen, aber unter Bedingungen, die seinen Erfolg ausschließen. Hat man doch schon davon gesprochen, ihn in Hamburg zu proklamieren, um das bestehende Wahlrecht zu verteidigen, in Preußen und Sachsen, um das Klassenwahlrecht zu stürzen. Studieren wir nicht die Bedingungen und Methoden des Massenstreiks, dann laufen wir Gefahr, nicht bloß, dass wir ihn dort nicht anwenden, wo seine Anwendung geboten, sondern auch, dass wir ihn dort anwenden, wo seine Anwendung verderblich. Wer die Theorie verachtet, wer sich darauf verlässt, dass Probieren über Studieren geht, der muss stets teures Lehrgeld zahlen.
Trotzdem beharrt unser Zentralorgan dabei, jedenfalls, um den Einklang zwischen Partei und Gewerkschaften aufrecht zu halten, das Diskutieren des Massenstreiks zu verpönen. Es hatte das in seinem Artikel über den Gewerkschaftskongress erklärt. Als ich in meiner Vorrede zur Schrift der Genossin Roland-Holst über den Generalstreik diesen sonderbaren Standpunkt kritisierte, beschwerte sich der Vorwärts, ich hätte ihm unrecht getan und seine Argumente falsch wiedergegeben. Er hat mich aber von meinem Irrtum nicht überzeugt, und ich sehe keine Veranlassung, von dem, was ich dort gegen den Vorwärts geschrieben, ein Wort zurückzunehmen.
Seitdem hat er denselben Standpunkt von neuem vertreten in einer ausführlichen Besprechung der in Rede stehenden Schrift, wobei er sich anderer Argumente bedient, aber wie mir scheint, nicht besserer.
Er hat einmal die ganze Schrift nicht verstanden, wenn er ihr vorwirft sie mache den politischen Streik „aus einem unter ganz bestimmten Verhältnissen möglichen und erforderlichen Akt der proletarischen Notwehr zur Methode des Klassenkampfs, zum eigentlichen Mittel des proletarischen Sieges“.
In der Roland-Holstschen Schrift heißt es ausdrücklich:
„Sie (die Sozialdemokratie) sieht im politischen Massenstreik keinen Gegensatz, sondern eine Ergänzung ihrer bisherigen Mittel und Methoden, eine Ergänzung, die der Arbeiterklasse im Verlauf und als Folge der sozialen Entwicklung ... ihr eigenes Wachstum an Kraft und Selbstbewusstsein einbegriffen ... als geschichtliches Produkt des Klassenkampfes aufgedrängt wird. Vor allem trennt kein Widerspruch den politischen Massenstreik vom Parlamentarismus. Der Parlamentarismus bleibt ein äußerst geeignetes, vielleicht unentbehrliches Mittel, die Massen über den kulturwidrigen Charakter des modernen Staates aufzuklären, sie aus dumpfer Teilnahmslosigkeit zu erwecken und dem proletarischen Emanzipationskampf zuzuführen, den bürgerlichem Parteien Reformen abzuringen, sie vorwärts zu treiben und die Differenzen auszunutzen. Er bleibt das einzige Mittel, das gesamte Proletariat unausgesetzt und unaufhaltsam gegen die gesamte herrschende Klasse zu organisieren und ins Feld zu führen. Der politische Massenstreik, der eine nur selten, in bestimmten geschichtlicher Situationen anwendbare Waffe ist, kann den Parlamentarismus nie ganz ober teilweise überflüssig machen. Er kann ihn keineswegs ersetzen, wie dies jetzt von der äußersten Linken der französischen und italienischen Partei, wohl als Reaktion gegen den parlamentarischen Illusionismus der letzten Jahre, gepredigt wird. Wohl aber wird er wahrscheinlich als ein Mittel in Betracht kommen, die parlamentarische Aktion des Proletariats erst möglich zu machen, zu erhalten und zu erweitern“ usw.
So die Genossin Holst, deren Schrift wohl die bei weitem wichtigste sozialistische Publikation dieses Jahres über eine taktische Frage ist, die ihrerseits wieder die größte Bedeutung unter allen taktischen Problemen unserer Zeit besitzt. Unser Zentralorgan aber kritisiert sie, ohne auch nur begriffen zu haben, was sie sagt.
Dies Missverständnis ist das einzige, was es vorzubringen weiß, um Methode und Schlussfolgerungen des Buches abzulehnen. Was es außerdem darüber sagt, gilt dem Nachweis, dass die ganze Diskutierung des Massenstreiks überflüssig ist. Denn es bestehe die Gefahr, dass „durch das eifrige Studieren und Diskutieren solcher Fragen die Phantasie der Arbeiter auf unsichere Hoffnungen gerichtet und von wichtigen, näherliegenden Aufgaben abgezogen wird ... ganz abgesehen davon, dass das reichliche Reden von und Drohen mit der Revolution mehr geeignet ist, die reaktionären Zettelungen gegen die Sozialdemokratie zu stärken, als die Arbeiterschaft zur Entschlossenheit zu erziehen“ usw. Dann: „der oberste Grundsatz der sozialdemokratischen Taktik ist und bleibt die Revolutionierung der Köpfe“; weiter: in einem Ausnahmezustand „sind alle Mittel der Notwehr berechtigt, nicht nur der Massenstreik“; selber ist „in jedem Lande die Situation eine besondere“, und endlich „wir wünschen wenig Worte, kraftvolles Handeln“.
Die ganze lange Litanei, auf der wir hier nur einen Auszug geben können, erinnert lebhaft an die Reden, die Sancho Pansa an Don Quixote richtet, wobei er, wenn er recht weise erscheinen will, einen Haufen von Sprichwörtern zusammenträgt, die kein Mensch bestreiten kann, die aber mit der Sache nichts zu tun haben oder vielmehr ebenso gut bei jeder anderen Gelegenheit vorgebracht werden können.
Es gibt in der Tat keine große taktische Frage in der Partei, von Fragen des Endziels gar nicht zu reden, deren Diskutierung man nicht mit diesem Ragout von Gemeinplätzen ablehnen könnte.
Diese Armseligkeiten aber sind alles, was unser Zentralorgan bisher aus eigenem zur Diskutierung des Massenstreiks beizubringen gewusst hat. Kein Wunder, dass sie ihm unbequem ist. Ist doch noch nie die Unfähigkeit des Vorwärts, der Partei in inneren Parteifragen als führendes Organ in seiner jetzigen Form zu dienen, so deutlich zutage getreten als bei dieser Gelegenheit. Natürlich ist unter einem führenden Organ nicht ein kommandierendes zu verstehen, sondern eines, das durch die Tiefe und Wucht seiner Gründe, durch sein Wissen und seine Erfahrung allgemeine Beachtung und Anerkennung erobert.
Zum Glücke steht der Vorwärts aber mit seiner Abneigung gegen „das Studieren und Diskutieren solcher Fragen“ in der Partei so ziemlich allein: soweit man nach der übrigen Parteipresse urteilen darf, teilen außerhalb der Redaktion unseres Zentralorgans nur wenige Parteigenossen die etwas kosakische Anschauung, dass durch derartiges „Studieren und Diskutieren“ nur die Phantasie der Arbeiter ungesund entzündet und von nützlicher Tätigkeit abgelenkt wird, und so hat auch fast die gesamte Parteipresse der Diskutierung des Massenstreiks bisher schon mehr Interesse und Verständnis entgegengebracht als unser Zentralorgan, so dass dessen Verständnislosigkeit nicht der Partei aufs Konto geschrieben werden darf.
Neben dem in den letzten zwei Jahren rapid gewachsenen Interesse und Verständnis für den politischen Massenstreik ist aber noch eine Erscheinung bemerkenswert: die wachsende Missachtung des Parlamentarismus im Proletariat, die sich in allen kapitalistischen Staaten geltend macht, auch in Deutschland. Ein Symptom davon scheint mir unser Stimmenrückgang bei den Nachwahlen zum Reichstag zu sein.
Manche Leute lieben es, diesen Rückgang auf das Konto des
„Der 16. Juni“, erzählt Herr v. Gerlach, „hatte die deutsche Sozialdemokratie als die mächtigste Sozialdemokratie der Welt und zugleich als die stärkste Partei Deutschlands erscheinen lassen. ‚Unser der Sieg, unser die Welt!‘ hatte der Vorwärts im Siegestaumel ausgerufen.“
Was geschah aber? Nichts. Es blieb alles beim alten. In Dresden wurde keine neue Route eingeschlagen. Kein Zweifel, dass mancher dadurch enttäuscht werden musste, um so mehr enttäuscht, je größer die Erwartungen, die man an den Dreimillionensieg geknüpft, je fester man geglaubt, als läge nun die Welt offen vor uns, und wir brauchten uns bloß darüber zu einigen, wie wir am besten zulangen. Aber diese Erwartungen waren eben nur Illusionen naiver Gemüter, die die Partei keineswegs beherrschten. Ich darf wohl, als das mir nächstliegende Beispiel nüchterner Anschauungen, die Worte anführen, die ich unmittelbar nach dem großen Siege, noch vor den Stichwahlen, in der Neuen Zeit schrieb:
„Erwägen wir alle die Widersprüche und Gegensätze innerhalb der Regierung selbst wie innerhalb der herrschenden Klassen und Parteien, dann kann es keinem Zweifel unterliegen, dass heute, wo unsere Gegner notwendiger als je einer einheitlichen und konsequenten, auf große Ziele gerichteten Politik bedürfen, die Politik, die sie wirklich befolgen werden, kleinlicher, widerspruchsvoller, konfuser sein wird denn je. Wir dürften große Worte zu hören bekommen, große Anläufe sehen, sowohl zu einer Politik der Reformen wie zu einer Politik der Verfolgungen und der Einschränkungen der staatsbürgerlichen Freiheiten und Rechte, aber über gewaltige Besprechungen und Drohungen wird man nicht weit hinauskommen. Keine Taten werden ihnen folgen, sondern höchstens noch krampfhafte Zuckungen, die sehr gewaltsam sein mögen, aber rasch vorübergehen. Macht man dem Proletariat Konzessionen, so wird das Erfüllte so weit hinter dem versprochenen zurückstehen, dass es, weit entfernt, auch nur vorübergehend zu befriedigen, vielmehr fast ebenso erbittert und empört wie Drohungen und Beschimpfungen, denen keine Tat folgt, die einschüchternd wirken könnte.“
Und ähnlich äußerten sich zahlreiche andere Stimmen in der Partei.
Man sieht, man hat keine Ursache, der ganzen Sozialdemokratie „Siegestaumel“ vorzuwerfen. Wir haben vielmehr schon vor Dresden ganz genau die Folgen erkannt, die der Dreimillionensieg nach sich ziehen wird.
Dass aber mancher unter den „Siegern“ mehr erwartete und enttäuscht wurde, liegt nahe. Daraus folgte, dass unser Sieg wohl aus der einen Seite die Wirkung hatte, die Gegner aufzupeitschen, so dass sie bei allen Nachwahlen mit verstärkter Wucht gegen uns losgehen, dass aber die arbeitenden Massen diesem vermehrten Drucke nicht einen vermehrten Gegendruck, keinen gesteigerten Enthusiasmus entgegensetzen.
Das ist sicher nicht angenehm, aber der Partei könnte man daraus nur dann einen Vorwurf machen, wenn es in ihrer Macht gelegen gewesen wäre, den Dreimillionensieg zu „positiven“ Erfolgen auszunutzen, und sie das versäumt hätte. Das wird auch von manchen Kritikern behauptet. [2] Aber wodurch hätten diese „positiven“ Erfolge errungen werden sollen? Durch ein Entgegenkommen gegen die Reichsregierung, durch den Versuch, Konzessionen gegen Konzessionen einzutauschen? Jeder derartige Wunsch, wenn er gehegt worden sein sollte, wurde allerdings in Dresden im Keime erstickt. Und mit Recht.
Wenn je eine Situation dem sozialistischen Ministerialismus günstig war, so die Frankreichs nach dem Dreyfus Prozess. Es erforderte damals wirklich große Klarheit und Charakterstärke, sich dieser Lockung zu entziehen. Heute ist der sozialistische Ministerialismus auch in Frankreich tot und begraben. Aber in Deutschland war von vornherein nicht die mindeste Lebensbedingung für ihn gegeben, vermochten nur politische Kinder oder politische Hanswurste an ihn zu glauben. In Deutschland können höchstens Differenzen über den Ton und die theoretische Begründung, nicht aber über die Praxis unserer Opposition aufkommen. Noch weniger als anderswo ist in Deutschland von der Reichsregierung oder der Mehrheit des Reichstags etwas für das Proletariat zu erwarten. An dieser Tatsache konnte auch der Dreimillionensieg nichts ändern.
Er hat sie im Gegenteil noch stärker zum Ausdruck gebracht. Er hat den herrschenden Klassen die Gefahren gezeigt, die das allgemeine und gleiche Wahlrecht für sie birgt; aber noch war er nicht gewaltig genug, um ihnen das Wasser an die Kehle reichen zu lassen und sie zu drängen, die nicht minder große Gefahr der direkten Abschaffung dieses Wahlrechtes auf sich zu nehmen. Wohl aber bildet er ein mächtiges Motiv, das Produkt des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes, den Reichstag, noch ohnmächtiger zu machen, als er bisher schon gewesen. Mehr noch als bisher werden alle wichtigen Materien den Landtagen zugeschoben; mehr noch als bisher wird der Reichstag mit Missachtung behandelt – unter Zustimmung seiner Mehrheit, auch des Zentrums.
So sucht man das allgemeine und gleiche Wahlrecht, dessen offene Aufhebung man noch scheut, hinterrücks hinweg zu eskamotieren, indem man dem aus ihm hervorgehenden Körper alle Bedeutung, alles Leben nimmt.
Die notwendige Rückwirkung dieser schlauen Politik ist die wachsende Gleichgültigkeit der arbeitenden Massen für den Reichstag und die Reichstagswahlen. Sie zweifeln immer mehr daran, auf diesem Wege noch etwas Erhebliches zu erreichen. Deshalb unser Stimmenrückgang bei den Nachwahlen.
Aber derjenige würde sich sehr täuschen, der aus dieser wachsenden Ohnmacht des Reichstags auf die Ohnmacht der Sozialdemokratie, aus ihrem Stimmenrückgang bei den Nachwahlen auf einen Rückgang ihres Einflusses im Volke schlösse. Wir haben zum Glücke neben dem Reichstagswahlrecht nach einen anderen Maßstab für die Größe dieses Einflusses: die Verbreitung unserer Presse. Keine Presse trägt so entschieden den Parteicharakter an der Stirne wie die sozialdemokratische, und keine hat mehr mit der Konkurrent der parteilosen Presse zu kämpfen, da sie mehr als jede andere von aller gewissenlosen Spekulation auf die Sensationslust der indifferenten Masse sich frei hält und halten muss. Wer ein sozialdemokratisches Blatt liest, der bekundet daher damit auch Interesse und Sympathie für die Gedankenwelt und die Tätigkeit der Sozialdemokratie. Da ist es denn doch bemerkenswert, dass trotz allen Stimmenrückganges bei Nachwahlen die Zahl der Leser der Parteipresse in steter und rascher Steigerung begriffen ist. Der Dresdener Parteitag hat hier nicht die mindeste Änderung gebracht.
Bemerkenswert ist auch das gleichzeitige Wachstum der gewerkschaftlicher Organisationen.
Das zeigt doch deutlich, dass die arbeitenden Massen bei der augenblicklichen Situation in der Presse und den Gewerkschaften schärfere Waffen ihres Emanzipationskampfes erblicken als in den Reichstagswahlen. Die bürgerlichen Parteien bezeugen aber ihre ganze Kurzsichtigkeit, wenn sie diese Entwicklung mit Freuden begrüßen. Der Einfluss der Sozialdemokratie auf das arbeitende Volk schwindet damit nicht. Das wäre nur dann möglich, wenn das politische Interesse im Proletariat geringer würde oder neben der Sozialdemokratie eine andere Partei aufkäme, die, wenn auch nur anscheinend, besser als sie die proletarischen Interessen zu wahren verstände. Damit aber hat es seine guten Wege.
Die Gleichgültigkeit gegenüber den Reichstagswahlen muss auch in dem Moment wieder verschwinden, in dem der Reichstag wieder der Mittelpunkt einer großen politischen Aktion wird. Soweit aber Reichsregierung und Reichstagsmehrheit das zu verhindern wissen und fortfahren, den Reichstag zu immer größerer Nichtigkeit herabzudrücken, so müsste das nur dazu führen, jener revolutionären Stimmung neue Nahrung zu geben, die durch die russische Revolution und ihre Konsequenzen ohnehin im deutschen Proletariat erzeugt werden muss.
Das Interesse an der Politik und an der Gesetzgebung wird dadurch nicht vermindert, sondern eher verstärkt werden, denn die Wirkungen, die Gesetze und Behörden auf das ökonomische Leben und damit auch auf die proletarischen Bewegungen üben, werden dann nur noch fühlbarer zutage treten. Aber dies politische Interesse muss sich dann von der Wahlbeteiligung um so mehr abwenden, je wirkungsloser sie gemacht wird; es muss sich um so mehr allen Methoden und Aktionen zuwenden, die geeignet erscheinen, die gesetzgebende Maschinerie von außen zu beeinflussen und in einem Sinne umzugestalten, der sie wieder zu einem tauglichen Werkzeug des proletarischen Emanzipationskampfes gestaltet. Diejenigen, die das Wahlrecht verschlechtern oder die Bedeutung des Reichstags verkümmern, leiten damit also nur Wasser auf die Mühle derjenigen, die im Massenstreik ein Mittel sehen, die schwindende Macht des Reichstags neu zu beleben und ihm neue und höhere Macht und den Willen wie die Kraft zu einer wirklich proletarierfreundlichen Gesetzgebung einzuflößen. Das deutsche Proletariat lässt sich auf die Dauer um das allgemeine gleiche Wahlrecht ebenso wenig betrügen, als es sich dies Recht offen rauben lässt.
2. Der Vorwärts scheint ebenfalls dieser Ansicht zu huldigen oder vielmehr, genau gesagt, die Mehrheit seiner Redaktion, von der allein das in diesem Artikel über den Vorwärts besagte gilt. Vorliegende Ausführungen waren schon geschrieben, als der Leitartikel des Vorwärts über die Tagesordnung des Parteitags erschien (6. Juli), in dem dieselbe Melodie angestimmt wird, die Herr v. Gerlach vorgesungen. Es wird dort darauf hingewiesen, dass „wir (die Redaktion) vor zwei Jahren eindringlich bedauert haben, dass der Parteitag schon durch seine Tagesordnung sich gehindert hat, der großen politischen Situation gerecht zu werden, welche damals infolge des überwältigenden Wahlsiegs vorn 16. Juni gegeben war“. Er habe sich dadurch „der unmittelbaren Einwirkung auf das politische Leben Deutschlands in nicht unerheblichem Maße entschlagen“.
Diese Auffassung hätte absolut keinen Sinn, wenn der Vorwärts nicht der Meinung wäre, durch eine andere, mehr „positive“ Gestaltung der Tagesordnung hatten sich praktische Erfolge aus dem Wahlsieg ziehen lassen. Denn er kann nicht sagen, dass der Dresdener Parteitag die Reichstagswahlen ignoriert hatte. Der Punkt 4 der Tagesordnung lautete: Taktik der Partei – Reichstagswahlen, Vizepräsidialfrage, die revisionistischen Bestrebungen.
Freilich solche taktische Diskussionen passen dem Vorwärts nicht. Sein Artikel hat die Tendenz, die Parteitage mehr nach bürgerlichem Muster zu agitatorischen Schaustellungen zu gestalten, in denen nicht über jene Fragen diskutiert wird, über die wir uneinig, sondern über jene, über die wir einig sind, wie Zehnstundentag, Kampf gegen Marinismus und Militarismus.
Die propagandistische Behandlung solcher Fragen fällt jedoch in erster Linie der Reichstagsfraktion zu. Die letztere wäre ein ebenso kostspieliges wie überflüssiges Luxusmöbel, würde sie diese Aufgabe nicht genügend lösen. Der Parteitag aber soll das kräftigste Mittel der Weiterentwicklung der Partei sein, soll alle jene Fragen zur Entscheidung bringen, die innerhalb der Partei selbst auftauchen und in ihr geteilte Anschauungen hervorrufen. Der geistige Fortschritt der Partei wäre völlig gehemmt, wenn nicht solche neue Streitfragen von Zeit zu Zeit auftauchten, aber sie würden zur Zersetzung der Partei führen, würden sie endlos debattiert. Die Parteitage haben die Aufgabe, ebenso die freie Diskussion solcher Fragen zu entfesseln, wie auch, nachdem alle Argumente erschöpft, erkennen zu lassen, wie die Mehrheit der Partei darüber denkt. und der Diskussion dadurch einen Abschluss zu geben.
Wie weit der Parteitag die Möglichkeit hat, daneben noch Fragen zu behandeln, über die wir im Wesentlichen einig sind, die bloß der propagandistischen Wirkung wegen auf die Tagesordnung kommen, hängt davon ab, wie zahlreich und wichtig die Meinungsverschiedenheiten in unserer Mitte.
Gerade in der heutigen revolutionären Situation gibt es aber keine Frage, die für uns größere Wichtigkeit hätte als die des Massenstreiks. Dem Vorwärts mag sie ebenso minim erscheinen wie alle anderen großen Streitfragen der letzten Zeit, in denen er nur kleine persönliche Reibereien zu entdecken vermochte, der Parteivorstand hat sicher dem Empfinden der Masse der Parteigenossen Ausdruck gegeben, als er den Massenstreik auf die Tagesordnung setzte.
Zuletzt aktualisiert am 21. Oktober 2024