MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky > Rep. u. Sozdem. in Frankreich
Wenn man zusieht, welche Entwicklung die Dinge in Frankreich genommen, seitdem die Monarchisten die Republik nach ihren Bedürfnissen eingerichtet und die Bourgeoisie – vor allem hohe Finanz, industrielle Kapitalisten, Agrarier, Ämterjäger, Geschäftspolitiker – sich ihrer bemächtigt, um sie zu plündern und als Herrschaftsmittel zu benutzen, dann darf man wohl neugierig werden auf die Beantwortung der Frage: Wie gelingt denn unter diesen Umständen der Bourgeoisie der Arbeiterfang, dessen sie in der Republik noch mehr bedarf als in der Monarchien. Aber siehe da, die Republik selbst hilft ihr aus der Verlegenheit. Der republikanische Gedanke selbst hat sich bisher immer noch als ein probates Mittel erwiesen, das „Kartell der republikanischen Politiker“ mit den nötigen Arbeiterstimmen zu versehen.
Mit Befriedigung weist der jüngste Geschichtschreiber des französischen Sozialismus, der bürgerliche Republikaner Georges Weill, an verschiedenen Stellen seines Werkes darauf hin:
„Bis 1876 bestand die Politik für die Arbeiter ausschließlich in der Unterstützung der republikanischen Partei. Die Arbeiter, schrieb Barberet, ertragen ihr Elend mit Ruhe, weil der Staat sich eine Republik nennt. ‚Das Wort wirkt magisch auf den Geist des Arbeiters. Diese Fata Morgana erfüllt sie mit Hoffnung.‘ Die republikanische Bourgeoisie und das Proletariat marschierten Arm in Arm, vereinigt durch die gleichen Leidenschaften gegen die Monarchie, gegen den Klerikalismus, gegen die Reaktion. ‚Die Zeiten sind vorbei‘, schrieb ein republikanischer Philosoph, Renouvier, ‚wo einige Sozialisten, in der Regel selbst Bourgeois oder Schüler von Bourgeois, schlecht genug beraten waren, um in ihren Schriften Frankreich in zwei feindliche Lager zu spalten, das der Arbeiter und das der Besitzer der Produktionsmittel. Diese einseitige Trennung, die in einer freien Gesellschaft immer falsch war und falsch sein wird, muß auf jeden Fall heute verschwinden, wo die politische Frage, die ehedem, wie es schien, in allen Punkten gelöst war, wichtiger und brennender ist als je und notwendigerweise alle anderen zurückdrängt. Heute sind wir alle, Kapitalisten wie Arbeiter, gezwungen, für unsere Rechte, für unsere elementarsten Freiheiten, für unsere Gewissen zu kämpfen.‘“ (Histoire du mouvement social en France 1852–1902, Paris 1905, Felix Alcan, S. 188, 189)
Die Bedrohung der Republik durch Monarchisten und Klerikale, sie war es, was Arbeiter und republikanische Bourgeois unter einem Banner vereinigen sollte. Gambettas Blatt, La République française, schrieb damals, der Klassenhaß sei die schlimmste Gefahr für die Republik.
Und diese Anschauungen brechen immer wieder durch. Georges Weill kommt denn auch zu dem Schlusse:
„Die Tendenz, eine Klassenpartei zu bilden, ist den französischen Arbeitern nicht gegeben; weit entfernt, die Isolierung zu suchen, wenden sie sich leicht gegen alles, was die Wirkung hätte, sie in eine Kaste einzupferchen. Die Liebe zur Politik treibt sie zur Allianz mit der Bourgeoisie der Linken, und ihre Haltung bei den Wahlen hat das oft bewiesen. Proudhon riet ihnen 1868 die Wahlenthaltung, Tolain wollte 1864 Arbeiterkandidaten, Vermorel schlug 1869 sozialistische Kandidaten vor; keiner von ihnen wurde gehört. 1885, 1889, 1902, in allen Epochen der Krise haben die Arbeiterwähler die revolutionären Organisationen im Stiche gelassen und ihre ökonomischen Forderungen zurückgestellt, um für die Männer der (bürgerlichen, K.) Linken zu stimmen und für den Triumph der Republik zu wirken.“ (a. a. O., S. 455)
Georges Weill hat von seinem Standpunkt, dem des bürgerlichen Republikaners, ganz recht, diese Erscheinung mit Befriedigung zu konstatieren, aus der seine Partei entschieden Vorteil zieht. Es fragt sich bloß, ob das revolutionäre Proletariat das erreicht, was es erreichen will, Sicherung der Republik und Befreiung der Geister vom kirchlichen Joch, wenn es den Klassenkampf gegen das Kapital dem Kampfe gegen Monarchisten und Klerikale hintansetzt.
Seit mehr als zwei Jahrhunderten dauert in Frankreich der Kampf der revolutionär gesinnten Teile der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums und des Proletariats gegen die Kirche. „Vernichtet die Infame“, rief schon Voltaire. „Der Klerikalismus ist der Feind“, wiederholte ein Jahrhundert später Gambetta. Im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ertönt derselbe Kriegsruf von neuem in Frankreich, und der Klerikalismus erscheint bedrohlicher an je.
Beweist aber nicht schon diese Tatsache, daß die Bourgeoisie unfähig ist, mit der Kirche fertig zu werden, und daß das Proletariat sich eine Sisyphusarbeit aufladet, wenn es als Knappe der Bourgeoisie ihr in diesem Kampfe getreulich folgt?
In der Tat haben heute die bürgerlichen liberalen Politiker alles Interesse an dem Kampfe gegen die Kirche, aber keines au ihrer Überwindung. Nur solange der Kampf dauert, dürfen sie auf die Bundesgenossenschaft des Proletariats rechnen. Sie hat ein Ende und der Alliierte verwandelt sich in einen Feind an dem Tage, an dem die Kirche zu Boden liegt. Selbst in der Zeit ihrer größten revolutionären Kraft kam die Bourgeoisie nicht lange ohne Kirche aus. Die erste Republik hatte dieser vollständig ein Ende gemacht. Die bürgerliche Reaktion unter Napoleon führte sie offiziell wieder ein.
Die Kommune von 1871 machte dann mit der Kirche kurzen Prozeß, aber die dritte Republik führt nun schon drei Jahrzehnte lang den Kampf gegen die Kirche, ohne vom Fleck zu kommen. Von Zeit zu Zeit kommt es zu einem Konflikt mit ihr, er verschärft sich, die wildesten Worte werden gewechselt, große gesetzgeberische Taten vorbereitet; aber im entscheidenden Moment klappt regelmäßig die Regierung zusammen oder sie wird von der Kammer im Stiche gelassen; sollte aber auch diese fest bleiben, so geschieht es nur, weil. sie sicher ist, daß die beiden monarchistischen Pfeiler der dritten Republik, Senat und Präsident, ihre Schuldigkeit tun werden. Wenn anfangs der achtziger Jahre der „Kulturkampf“ im Sande verlief, der damals in Frankreich ebenso heftig tobte wie heute, so ist dies vor allem dem Senat zuzuschreiben, der den kirchenfeindlichen Gesetzen die schlimmsten „Giftzähne“ ausbrach (1880 und 1882). und schließlich trug auch der Präsident Grévy dazu bei, daß der Kampf nicht mit einer entschiedenen Niederlage der Kirche endete.
Auch heute dürfen wir nicht mehr erwarten, trotz der scharfen Zuspitzung, die der Gegensatz zwischen Staat und Kirche in den letzten Jahren erfahren hat. Noch im Mai 1903 erklärte Combes in der Kammer, seine Kirchenpolitik beruhe „auf der loyalen und vollständigen Beobachtung der Konkordatsgesetze“. Sollten diese durchbrochen werden, so würde es nur geschehen von jener Mach, die nie aufgehört habe, das Konkordat zu verletzen, und der dann alle Verantwortung für dessen Aufhebung zufallen würde. Das klang nicht sehr kampfesfreudig. Vergeblich forderten die Sozialisten ein formelles Versprechen der Regierung, die Trennung von Staat und Kirche vorzubereiten. Wenn es seitdem zum Bruche zwischen Regierung und Kirche gekommen ist, darf man das Verdienst daran einzig der letzteren zuschreiben. Wie leicht aber trotzdem die Regierung auch in der jetzigen Situation noch gegenüber dem Klerikalismus versagt, zeigt der Fall des Lehrers Thalamas, den die Regierung maßregelte, weil einige fanatische Katholiken sich durch seine Lehren gekränkt fühlten. Jaurès sprach in der Kammer gegen den Unterrichtsminister, stimmte aber dann mit der Mehrheit für ihn.
Solchen Methoden und einer solchen Mehrheit kann man wohl nicht zutrauen, daß sie mit einer Macht fertig werden wie der katholischen Kirche. Wir dürfen daher erwarten, daß der augenblickliche Kampf gegen sie ebenso endet wie die früheren und wie der Kampf der „Dreyfusards“ gegen die Armee, der als Feldzug zur Niederwerfung des Militarismus anfing und mit der Amnestie für alle Verbrecher des Generalstabs und der Aufrechterhaltung seiner bisherigen Stellung im Staate endete.
Ich will hier gar nicht weiter darauf eingehen, weil es einen eigenen Artikel erforderte, daß auch die Aufhebung des Konkordats und die Trennung von Staat und Kirche noch nicht die Befreiung Frankreichs von ihrer Herrschaft bedeutete, wie Österreich, das 1870 das Konkordat aufhob, und Belgien, wo die Kirche vom Staate unabhängig ist, beweisen. Die Macht der Kirche über die Massen beruht in letzter Linie darauf, daß sie Funktionen der Wohltätigkeit ausübt, die der kapitalistische Staat nicht überflüssig machen kann, da er ein zahlreiches Proletariat mit Notwendigkeit erzeugt, die der militaristische Staat nicht übernehmen kann, da der Heeresaufwand alle seine Hilfsmittel erschöpft; sowie darauf, daß die unteren Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft ein unabweisbares Bedürfnis nach Erlösung, nach besseren sozialen Zuständen jenseits der heutigen empfinden, das die bürgerliche Freidenkerei nicht befriedigen kann, die keine Möglichkeit einer anderen als der kapitalistischen Gesellschaftsordnung kennt. Nur das Ideal einer sozialistischen Gesellschaft vermag das religiöse Bedürfnis der Armen nach einem besseren Jenseits zu ersetzen ; nur das Bewußtsein, daß das Proletariat berufen ist, sein eigener Erlöser zu sein, kann den Glauben an den himmlischen Erlöser überwinden.
Also Kampf für das sozialistische Ideal, proletarischer Klassenkampf gegen Kapitalismus und Militarismus auch wenn sie von bürgerlichen Republikanern gestützt werden, ist das einzige Mittel, die Gehirne der unteren Klassen dauernd von der Herrschaft der Kirche zu emanzipieren. Das kämpfende Proletariat ist die einzige Macht, die den entschlossenen Willen hat, mit der Kirche fertig zu werden, der proletarische Klassenkampf die einzige Methode, sie zu überwinden. Dagegen kann der bürgerliche Kulturkampf gegen die Kirche nie zu einem entscheidenden Resultat kommen, und er will es auch nicht.
Es heißt das Proletariat ins Endlose vertrösten, ja ihm das Gegenteil einer wirksamen antiklerikalen Politik anpreisen, wenn man es veranlassen will, seinen Klassenkampf aufzuschieben, bis der Kampf der bürgerlichen Freidenkerei mit der Kirche ausgefochten ist.
Das Proletariat muß wohl alle Maßnahmen unterstützen, die imstande sind, die Herrschaft der Kirche zu schwächen; aber es darf sich dabei in keiner Weise in seiner Klassenorganisation und Klassenaktion beeinträchtigen lassen.
Und was vom Kampfe gegen die Kirche, gilt vom Kampfe für die Republik.
Seit drei Jahrzehnten beherrschen die bürgerlichen Republikaner die Republik. Und mit welchem Erfolg?
Die Republik soll heute gefährdeter sein als je, so daß zu ihrer Rettung Proletariat und Bourgeoisie alles Trennende vergessen und einig gegen den gemeinsamen Feind marschieren sollen.
Worauf beruht aber die Gefährdung der Republik? Von einem monarchischen Prätendenten oder von einem ernsthaften Streben, die Monarchie an Stelle der Republik zu setzen, kann auch das schärfste Auge keine Spur entdecken. Die Republik ist nur gefährdet durch sich selbst. Einerseits durch ihre Verfassung, die ganz monarchisch ist, wie wir gesehen, und die förmlich nach einer persönlichen Spitze schreit. Dann aber durch ihre kapitalistisch-agrarische Politik und ihre parlamentarische Korruption. Es ist die Enttäuschung über die Republik, die als Erlöser aus der Not des arbeitenden Volkes begrüßt wurde, was sie gefährdet. Nicht durch Konservierung der kapitalistischen Republik und ihrer parlamentarischen Korruption, sondern nur durch ihre Umwandlung in eine wahrhaft soziale Republik ist jene Enttäuschung zu bannen. Und nur durch Selbstverwaltung und Volksbewaffnung ich sie gegen Staatsstreiche zu sichern.
Wollen wir die propagandistische Kraft des republikanischen Gedankens in Frankreich stärken, so müssen wir vor allem zeigen, daß die Republik, wie wir sie wollen, die Republik, wie sie die Kämpfer von 1793, 1848, 1871 anstrebten, himmelhoch verschieden ist von der heutigen Republik, weit verschiedener von dieser, als die letztere von der Monarchie. Wir müssen aber auch dafür sorgen, daß es unmöglich wird, uns mit dem „Kartell“ der bürgerlichen Geschäftsrepublikaner zu identifizieren, das die Republik beherrscht und ausbeutet.
Wollen wir aber die Republik sicherstellen, so müssen wir jene Klasse heben und kräftigen und politisch selbständig machen, die allein unter allen Klassen der modernen Gesellschaft prinzipiell republikanisch, allein bereit ist, für die Republik unter allen Umständen einzustehen, für sie ihr Blut zu vergießen: das Proletariat.
Also auch hier wieder finden wir es als die verkehrteste Politik, wenn das Proletariat, um die Republik zu retten, einstweilen, bis sie außer Gefahr ist, auf die Verfechtung seiner Klassenforderungen verzichten würde, um durch den Klassenkampf nicht die Republik zu schwächen. Nichts untergräbt ihre Grundlagen bedenklicher, als der Verzicht auf diesen Klassenkampf; nichts kann sie fester begründen, als seine erfolgreiche Fortführung.
Je mehr die bürgerlichen Republikaner es versuchten, die Arbeitermassen dadurch zu ködern, daß sie ihnen an ihr einziges nächstes Ziel die Aufgabe stellten, ins Verein mit der Bourgeoisie und durch Unterstützung ihres Regimes und ihrer Methoden die Republik zu retten und die Kirche zu bekämpfen, um so mehr mußten die Sozialisten bei ihrer Propaganda den bürgerlichen Zielen und Mitteln des Kampfes kritisch entgegentreten und nachweisen, wie wenig für das Proletariat dabei herauskomme; nachweisen, daß die proletarische Republik eine andere sei als die bürgerliche; daß die proletarischen Methoden, die Republik zu retten und die Kirche zu bekämpfen, grundverschieden seien von den bürgerlichen, und daß die Sozialdemokratie es weit von sich weise, sich durch eine Allianz mit den bürgerlichen Republikanern zu Mitschuldigen an alledem zu machen, was diese verbrochen und versäumt.
Dazu war es aber auch notwendig, die revolutionäre Tradition zu kritisieren, welche am meisten dahin wirkte, die Proletarier zur Gefolgschaft der bürgerlichen Republikaner zu machen und ihren eigenen historischen Aufgaben zu entfremden.
Die revolutionäre Tradition führt zur Ansicht, das Proletariat des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts habe keine andere Aufgabe, als die Revolution des achtzehnten Jahrhunderts fortzusetzen, dort an sie anzuknüpfen, wo sie stehen geblieben. Aber diese Revolution war eine bürgerliche Revolution, auch in der Schreckenszeit spielte das Proletariat keine besondere Rolle, war es nur der energischste und rücksichtsloseste Verfechter kleinbürgerlicher und bürgerlicher Interessen und Ideen. Damals stand notwendigerweise der Kampf gegen Monarchie und Pfaffen in erster Linie und der Kampf gegen das Kapital nur in zweiter; war eine selbständige proletarische Politik noch unmöglich, mußte das Proletariat die Gefolgschaft des Kleinbürgertums und seiner Ideologen und oft auch die der Bourgeoisie bilden. Heute die Ideen und Aufgaben der Revolution des achtzehnten Jahrhunderts zu lebendigen Kräften der proletarischen Bewegung gestalten wollen, heißt das Proletariat im Stadium seiner Kindheit, in Unselbständigkeit und Unwissenheit über seine eigenen historischen Aufgaben erhalten. Vom Standpunkt der bürgerlichen Republikaner ist diese revolutionäre Tradition unschätzbar, denn sie allein ermöglicht ihnen in Frankreich ihren „Arbeiterfang“, dessen sie so sehr bedürfen und der um so schwieriger wird, je mehr die Klassengegensätze sich zuspitzen. Aber für den proletarischen Sozialismus ist sie eines der größten Hemmnisse.
Angesichts dieser Situation lag die Aufgabe der französischen Sozialisten klar zutage: um das Proletariat politisch selbständig zu machen und es von der liberalen Bourgeoisie loszulösen, mußten sie vor allem dem republikanischen Aberglauben entgegentreten, der in Frankreich ein dreifacher ist: nicht bloß der Aberglaube, als bedeute die Republik an sich schon eine Milderung der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, sondern auch der Aberglaube, als sei die heutige Republik die Verwirklichung des republikanischen Ideals, das seit 1793 den proletarischen Massen vorschwebt, als entspreche der Namengleichheit auch eine Wesensgleichheit der Staatsform; und endlich ist der republikanische Aberglaube in Frankreich heute auch noch der Aberglaube, als sei die Republik dort zurzeit durch etwas anderes gefährdet, als durch ihre eigenen Mißstände, durch ihre eigenen Herrschaftsmittel, und als gelte es, sie vor etwas anderem zu retten, als diesen Herrschaftsmitteln, als sei ihr Bestand in anderer Weise sicherzustellen, als durch deren Aufhebung.
Dann aber mußten die französischen Sozialisten die revolutionäre Tradition kritisieren, ihr die neue Lehre vom Klassenkampf entgegenhalten, beruhend aus der theoretischen Erforschung des modernen Produktionsprozesses und der daraus hervorgehenden Einsicht in die Bedürfnisse, Kräfte und Aufgaben sowohl des Proletariats im besonderen wie der gesellschaftlichen Entwicklung im allgemeinen, also mit anderen Worten: die Lehre des Marxismus.
Schon 1850 in seinen Artikeln der Neuen Rheinischen Zeitung und dann im 18. Brumaire kritisierte Marx den „traditionellen Aberglauben an 1793“. In der „Internationale“ hatte er dann stets getrachtet, der revolutionären Tradition die Erkenntnis vom proletarischen Klassenkampf entgegenzusetzen. Aber diese Tradition war in Frankreich noch zu tief gewurzelt. Früher als dort wurde, dank besonders günstigen historischen Bedingungen, in Deutschland eine moderne, auf dem bewußten Klassenkampf beruhende, von den Traditionen und Schlagworten der bürgerlichen Revolutionen völlig losgelöste proletarische Bewegung zur Massenbewegung. Erst als sie dort große Erfolge erzielt hatte, faßte die wissenschaftliche Begründung der Lehre vom Klassenkampf und eine darauf beruhende Taktik auch in Frankreich Boden.
Es war also das deutsche Vorbild, was der neuen französischen Sozialdemokratie ihren Charakter gab. Aber man irrt, wenn man glaubt, die Lehre vom Klassenkampf selbst sei deutschen Ursprungs. Soweit man sie einer bestimmten Nation zuweisen kann, muß man Frankreich ihr Geburtsland nennen, Französische Historiker waren die ersten, welche die Tatsache des Klassenkampfes beobachteten, französische Sozialisten die ersten, die den proletarischen Klassenkampf erkannten. Ja Frankreich lernte Marx diese Beobachtungen und Tatsachen kennen, Aber freilich, erst er machte aus den Beobachtungen eine Theorie, indem er sie durch deutsche Philosophie und englische Ökonomie vertiefte, und erst er erhob den auf dem proletarischen Klassenkampf beruhenden Sozialismus zu einer Wissenschaft, indem er an Stelle seiner sentimentalen Begründung durch die Ungerechtigkeit des Unterschieds von arm und reich, von Ausbeutern und Ausgebeuteten, die Erkenntnis des kapitalistischen Produktionsprozesses und der verschiedenen Rollen und historischen Aufgaben der an ihm beteiligten Klassen setzte und so das sozialistische Ziel aus einer Forderung des beleidigten Gerechtigkeitsgefühls oder bloßer proletarischer Empörung in ein Resultat wissenschaftlicher Forschung verwandelte.
Dieser wissenschaftliche Sozialismus ist international nicht nur seinem Charakter, sondern auch seinem Ursprung nach; Marx konnte ihn nur begründen, weil er im Denken und gesellschaftlichen wie politischen Leben Frankreichs ebenso zu Hause war wie in dem Deutschlands und Englands. In Frankreich hat die Lehre vom proletarischen Klassenkampf ihren Ausgangspunkt, in England ihre theoretische Begründung, in Deutschland ihre bisher vollkommenste und ausgedehntest praktische Anwendung gefunden, dank seinen eigenartigen Verhältnissen.
Unter denjenigen, welche am meisten dazu beigetragen haben, diese Lehre aus Deutschland nach Frankreich zurückzuverpflanzen und den neuen französischen Sozialismus auf sie zu begründen, stehen zwei Männer in erster Linie: Jules Guesde und Eduard Vaillant.
Guesde zählte zu den eifrigsten und begabtesten der jungen Sozialisten, die in die Arbeiterbewegung Frankreichs eingriffen, als diese nach dem Falle der Kommune wieder aufzuleben begann. Um ihn scharten sich neben französische Arbeitern auch viele Ausländer in Paris, darunter deutsche Genossen, von denen am meisten Einfluß auf Jules Guesde Karl Hirsch gewann, früher der Redakteur des ersten sozialistischen täglichen Blattes in Deutschland, des seit 1870 erscheinenden Chemnitzer Bürger- und Bauernfreund. 1876 war er nach Paris übersiedelt, wo er sich an Guesde anschloß und diesen mit den Anschauungen von Karl Marx und der Taktik der deutschen Sozialdemokratie vertraut machte. 1878 wurde dann freilich Hirsch, dank der republikanischen Freiheit, aus Frankreich ausgewiesen, wie so mancher Sozialist vor ihm und nach ihm – noch unter Millerand sind solche Ausweisungen vorgekommen! Aber nun war Guesde mit Lafargue und durch diesen mit Marx und Engels selbst bekannt geworden, und er wurde ihr vertrauter und hochgeschätzter Freund. Auch mit anderen deutschen Sozialdemokraten, so Liebknecht, kam Guesde in Verbindung. Die 1879 von ihm gegründete Arbeiterpartei (Parti ouvrier français) stand von vornherein ganz auf marxistischem Boden.
Die Blanquisten konnten anfänglich nur wenig auf die wiederauflebende Arbeiterbewegung einwirken. Ihr Haupt war seit 1871 im Gefängnis, die anderen Vorkämpfer der Partei im Exil. Erst 1879 wurde der greise Blanqui begnadigt, starb aber schon 1881. Inzwischen hatte aber der wachsende Ansturm des Proletariats den bürgerlichen Republikanern 1880 eine allgemeine Amnestie abgezwungen, die den Flüchtlngen der Kommune, damit auch des hervorragenderen Blanquisten, Eudes, Vaillant usw., die Rückkehr nach Frankreich gestattete. Sie führten die von Blanqui neubegründete Partei weiter, den Parti socialiste révolutionaire, und es war eine neue Partei nicht bloß dem Namen nach. Den alten Blanquismus hatte die Niederlage der Kommune ins innerste erschüttert, da sie klar gezeigt, die Taktik, Paris durch einen Handstreich zu erobern und dadurch Frankreich zu beherrschen, sei völlig aussichtslos geworden. Es galt, in ganz Frankreich festen Fuß zu fassen, überall das Proletariat zu organisieren, stark und reif zu machen, ehe man an die Eroberung der politischen Macht denken konnte. Immer mehr näherte sich die Praxis der Blanquisten der der Marxisten, mit denen sie auch in allen wichtigen Fragen zusammengingen. Bald unterschieden sie sich im wesentlichen mir noch durch ihre geographische Verbreitung und ihr Verhalten zu benachbarten sozialistischen Richtungen. Die Blanquisten hatten ihren Schwerpunkt in Paris, die Marxisten in den Industriestädten der Provinz, namentlich des Nordens. Und die Marxisten zeigten sich in ihrem Verhalten zu benachbarte Strömungen, so in den neunziger Jahren zu den Anarchisten, später zu den ministeriellen Sozialisten, vielfach schroffer und ablehnender als die Blanquisten, die bei aller sachlichen Ablehnung doch meist konzilianter waren und sich zu einem Bruche nur entschlossen, wenn sie alle Möglichkeiten einer Verständigung erschöpft hatten. Dieser Unterschied entsprang wohl daraus, daß der Parti ouvrier ursprünglich in höherem Grade als der Parti socialiste révolutionaire auf einer geschlossenen Theorie beruhte.
Aber bei allen kleinen Unterschieden waren die Ziele und taktischen Methoden der beiden Organisationen im wesentlichen schon vor zwei Jahrzehnten die gleichen, Ihre formelle Verschmelzung zum Parti socialiste de France auf dem Kongreß zu Ivry, 8. November 1901, war mir die endgültige Bestätigung ihrer lange vorher schon eingetretenen sachlichen Übereinstimmung.
Von Blanquisten kann man heute nur noch in dem Sinne von Schülern Blanquis reden, nicht aber in dem von Fortsetzern der alten Taktik, die Blanqui selbst gegen Ende seines Lebens aufgegeben.
„Die Taktik unserer Partei“, heißt es zum Beispiel im Annuaire du parti socialiste révolutionnaire von 1898, „besteht darin, ohne Unterlaß den Fortschritt zu beschleunigen, die Reformen ins Leben zu rufen, die soziale Entwicklung zu fördern. Wohl ziehen wir es vor, mit raschen Schritten unserem Endziel, der sozialen Republik, entgegenzumarschieren, und die am schnellsten wirkenden Mittel sind uns die willkommensten, aber wir ziehen natürlich den langsamen Fortschritt dem Stillstand oder dem Rückschritt vor.
„Deshalb erheben wir uns mit aller Kraft gegen alle reaktionären Bestrebungen und arbeiten ohne Unterlaß daran, der Bourgeoisgesellschaft jede mögliche Reform abzuringen, wie klein sie auch sei“ usw. (S. 59)
Man wird darin nichts von dem finden, was man gewöhnlich unter Blanquismus versteht.
Unter denjenigen, die am meisten dahin wirkten, die blanquistische Partei in diesem Sinne zu reformieren, ist aber in erster Linie Eduard Vaillant zu nennen, der von 1866 an in Heidelberg, Tübingen und Wien Medizin, namentlich in der letzteren Stadt aber auch den deutschen Sozialismus studiert hatte, bis ihm der Krieg nach Frankreich berief, wo er au der Kommune tätigen Anteil nahm. Ihr Sturz trieb ihn nach England, wo er in persönliche Beziehungen zu deutschen Sozialisten trat. Er ist bis heute unter den Franzosen einer der besten Kenner der sozialistischen Literatur des Auslands geblieben.
Haben aber Vaillant und Guesde und durch sie ihre Organisationen viel dazu beigetragen, die Klassenkampftaktik der deutschen Sozialdemokratie in Frankreich heimisch zu machen, so haben sie sie doch nicht sklavisch nachgeahmt, sondern den veränderten Verhältnissen Frankreichs entsprechend angepaßt. Wohl haben sie wie die deutsche Sozialdemokratie die sozialistische Methode des Kampfes gegen die Kirche entgegengesetzt der bürgerlichen Kulturkämpferei, die trotz allen Lärmens nicht vom Flecke kommt; aber wenn sie daneben auch gegen den republikanischen Aberglauben zu Felde zogen, so war das eine Tätigkeit, für die bei der deutschen Sozialdemokratie natürlich nicht die mindeste Veranlassung vorlag.
Die Bekämpfung des republikanischen Aberglaubens und der revolutionären Tradition war von Anfang an eine durch die Verhältnisse gegebene Notwendigkeit für die französische Sozialdemokratie, und namentlich in Guesde hat in seiner Agitation diese Seiten stets aufs schärfste hervorgehoben, unter allgemeiner Zustimmung aller deutschen Sozialisten, die davon etwas wußten.
Mühsam war die Arbeit der beiden sozialistischen Organisationen, nur langsam gelang es ihnen, die Massen um sich zu sammeln; und jedesmal, wenn sie einen großen Schritt vorwärts getan, erstand eine politische Situation, die wieder größere proletarische Massen oder Organisationen zu einem Bündnis mit den bürgerlichen Republikanern führte.
So trieb das Aufkommen des Boulangismus die Possibilisten ins Regierungslager. Schon 1882 hatte ein Teil des Parti ouvrier unter Führung von Brousse eine der guesdistischen entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, was zu einer Spaltung der Arbeiterpartei führte. Die Broussisten oder Possibilisten verfochten gegenüber der organisatorischen Zentralisation die Autonomie der lokalen Organisationen, die „Meinungsfreiheit“, das heißt die Lockerung der Parteidisziplin, sowie gegenüber der prinzipiellen Agitation die „Realpolitik“ und die Beschränkung des Programms auf das zunächst Erreichbare. Damit war allen Mogeleien mit den herrschenden Parteien Tür und Tor geöffnet, was schließlich so weit führte, daß die Possibilisten sich mit den bürgerlichen Republikanern zu einem „Block“ verbündeten, ja ihre Organe aus den Geheimfonds der Regierung unterstützen ließen, als das Auftreten Boulangers den Anschein erweckte, die Republik sei gefährdet, und der alte Ruf nach Konzentration aller Republikaner mit erneuter Kraft ertönte.
Blanquisten wie Guesdisten traten damals diesem Treiben auf das schärfste entgegen, unter dem vollen Beifall der deutschen Sozialdemokratie. Im Jahre 1889 war die Gegnerschaft zwischen beiden Lagern eine so grimmige, daß sie sich nicht einmal für den internationalen Kongreß, wenigstens äußerlich, zusammenfanden. Die Possibilisten hielten ihren eigenen Kongreß ab, die deutsche Sozialdemokratie wie auch die meisten sozialistischen Organisationen der anderen Länder tagten gemeinsam mit Marxisten und Blanquisten.
Mit dem Boulangismus ging auch diese Blocktaktik vorüber, die Possibilisten näherten sich wieder mehr der Taktik des proletarischen Klassenkampfes, gingen aber auch gewaltig an Stimmen zurück. Die Blocktaktik erregte allgemeinen Ekel im Proletariat und veranlaßte den Hauptteil der Possibilisten unter der Führung von Allemane, sich 1890 von Brousse loszusagen und eine eigene Gruppe zu bilden, nach ihrem Führer Allemanisten genannt, die in das entgegesetzte Extrem verfielen und den Parlamentarismus unterschätzten. Neben ihnen gewannen die beiden anderen sozialistischen Organisationen wieder zusehends an Einfluß. Die Zahl ihrer Abgeordneten wuchs, und angezogen durch die neue Macht, schlossen sich ihnen in der Kammer zahlreiche bis dahin radikale Abgeordnete an, allerdings als „unabhängige“ Sozialisten, ohne sich einer Parteiorganisation einzugliedern.
Die Stärke der einzelnen Parteien zeigen folgende, allerdings nur annähernd richtige Stimmenzahlen bei den Kammerwahlen (nach Kritschensky, Neue Zeit, XVI, 2, S. 469):
|
1893 |
|
1898 |
|
---|---|---|---|---|
Guesdisten |
|
247.742 |
382.426 |
|
Allemanisten |
72.241 |
42.145 |
||
Blanquisten |
30.000 |
60.906 |
||
unabhängige Sozialisten |
87.000 |
354.411 |
||
|
436.983 |
839.888 |
Eine glänzende Zunahme, aber bedenklich insofern, als der Löwenanteil auf die unabhängigen Sozialisten entfiel. Von ihnen sollte auch die neueste Schwenkung ausgehen.
Das kolossale Wachstum des proletarischen Sozialismus machte den „Arbeiterfang“ für die bürgerlichen Republikaner mehr als je zu einer dringenden Notwendigkeit. Wieder einmal sahen sie sich gedrängt, die Republik zu retten und die Pfaffen zu bekämpfen; aber sie Verzichteten bereits darauf, durch diese Mittelchen die Massen der Arbeiterschaft vom Sozialismus formell loszulösen und an ihre zerschlissenen Fahnen zu fesseln. Sie selbst waren zu sehr kompromittiert und hatten jeden Kredit beim Proletariat verloren. Nur ein Mittel blieb übrig, seine Macht wieder für bürgerliche Zwecke auszunutzen, das, die sozialistischen Abgeordneten selbst zu gewinnen, daß sie jene bürgerliche Politik mitmachten, die für sich allein durchzuführen die bürgerlichen Republikaner bereits zu schwach geworden waren. Da man den Sozialismus nicht mehr töten konnte, suchte man ihn zu zähmen und sich dienstbar zu machen.
Die Dreyfusaffäre schuf den günstigen Boden für dieses Experiment, die unabhängigen Sozialisten bildeten das geeignete Material für die neue Allianz. Die Annehmlichkeiten und der Einfluß, der daraus den Abgeordneten des ministeriellen Sozialismus erwuchs, waren aber so verführerisch, daß auch gar mancher unter den bis dahin noch einer Parteiorganisatiou angehörenden sozialistischen Abgeordneten dadurch verleitet wurde, ebenfalls der lästigen Parteidisziplin ade zu sagen und aus seiner alten Organisation auszutreten. Der 1900 gegründete Parti socialiste français (heute bekamt als Jaurèsisten) gab sich dann eine Organisation, welche die „unabhängigen“ Sozialisten einschloß, aber die Parlamentsfraktion tatsächlich unabhängig von der Partei und den einzelnen Abgeordneten unabhängig von der Fraktion machte, was der letzte Kongreß nur wenig geändert hat.
Die Tendenzen der auf diese Weise neugeschaffenen Richtung des Sozialismus wurden gut gekennzeichnet durch eine Rede, die Millerand am 3. Dezember 1902 in Paris hielt, damals noch nicht der aus der Partei ausgeschlossene Streber und Ämterjäger, sondern der allenthalben, auch im deutschen Revisionismus hochgepriesene Verfechter der „neuen Methode“, die den Sozialismus regenerieren sollte. Er sagte dort (abgedruckt in Millerands Le socialisme réformiste française, Paris 1903, S. 54 ff.) unter anderem:
„In seinem bemerkenswerten Werke Socialisme d’Opposition, Socialisme du Gouvernement hat mein Freund Josef Sarraute mit großer Schärfe und Kraft dargetan, daß die Idee des Klassenkampfes in der heutigen Gesellschaft ebenso falsch wie gefährlich ist, wenn man sie isoliert von ihrer Ergänzung, der Solidarität der Klassen ...
„Kein Geld, keine Reformen. Es ist denn auch die dringende Pflicht der sozialistischen Deputierten, mit ängstlicher Wachsamkeit alle Kapitel des Budgets zu prüfen. Und sie werden es, denke ich, ein wenig kindisch finden, wenn sie nach der Diskutierung und Abstimmung über alle diese Details ihre Gesamtheit ablehnen oder sich doch der Abstimmung darüber enthalten sollen unter dem Vorwand der Orthodoxie.
„Das Wachstum der Produktivkräfte und des Reichstums des Landes, die Verwertung seiner natürlichen Reichtümer und seines Kolonialbesitzes sind für die Arbeiter ebensoviel Lebensfragen.
„Ja, die Franzosen, alle Franzosen, haben das gleiche Interesse daran, daß Frankreich reich sei, daß es stark sei, stark nicht bloß durch seine Allianzen, seine militärische und finanzielle Macht, sondern auch durch das Prestige, das eine große Nation in der Welt erlangt, die vollkommen friedlich und entschlossen ist, ihre Kraft nur im Dienste des Rechtes zu gebrauchen.
„So zeichnet sich scharf die Physiognomie der sozialistischen Demokratie, die sich von allen anderen Parteien unterscheidet durch ihre ursprüngliche Sorge für die Arbeiterbewegung und die ökonomische Befreiung, und die verbunden ist mit der revolutionären Tradition, den republikanischen Institutionen und den anderen republikanischen Parteien durch die klare Erkenntnis der politischen Bedürfnisse, die für sie Lebensbedingungen sind.
„Sie trachtet daher danach, in einem gemeinsamen Vorgehen miteinander jene Demokraten, die über die Arbeiterfragen besser informiert sind, und jene Sozialisten zu vereinigen, die zu einer besseren Einsicht der Verpflichtungen einer großen Demokratie gekommen sind, die leben will.“
Diese Ausführungen näher zu beleuchtend würde zu weit führen, ist auch überflüssig. Nur ein Punkt sei hervorgehoben, der leicht mißverstanden werden kann, der Hinweis auf das solidarische Interesse aller Klassen, ihr Land reich zu sehen. Sicher haben alle Klassen dieses Interesse – aber dabei doch nicht das gleiche Interesse, denn jede versteht etwas anderes unter Reichtum. Der Reichtum des Arbeiters besteht in hohen Löhnen und billigen Lebensmitteln, aber dadurch kollidiert er ganz gewaltig mit dem Reichtum des Kapitalisten, der in hohen Profiten und niederen Löhnen, wie dem des Grundbesitzes, der in hohen Grundrenten und hohen Lebensmittelpreises besteht.
Oder will man den Reichtum nicht gesellschaftlich fassen, sondern stofflich an Menge von Produkten? Nun, die Überproduktion ist das Problem der modernen Ökonomie, und die bürgerlichen Ökonomen preisen die Kartelle, weil sie die Produktion der Produkte, also des Reichtums einschränken. Und für die große Masse der französischen Politiker ist ein Überfluß an Lebensmitteln in Frankreich gleichbedeutend nicht mit dem Reichtum, sondern der Armut des Landes.
Die reichen Länder, sagte Destutt de Tracy vor bald hundert Jahren, sind jene, in denen das Volk arm ist, und umgekehrt. Der Bourgeois sah da die Klassengegensätze besser als der sozialistische Minister, der die Proletarier von der Solidarität der Klassen überzeugen wollte, die sie zu Kolonialpolitik und Militarismus verpflichte – freilich mit dem Vorbehalt, daß das Schwert nur „im Dienste des Rechtes“ gezogen werde. Als ob nicht auch der Zar diese Redensart gebrauchte, so oft er einen Krieg begann!
Noch deutlicher als vor den Arbeitern sprach Millerand vor den Kapitalisten. So erklärte er am 22. Juni 1900 vor den 600 Kapitalisten, die auf dem Bankett des republikanischen Komitees für Handel und Indnstrie vereinigt waren:
„Von nun an wird man nicht mehr gegeneinander das Volk und die Bourgeoisie bewaffnen, die Arbeiter und die republikanische Unternehmer, die gleichen Ursprungs sind. Wenn die Regierung kein anderes Resultat erlangt hätte, als die Notwendigkeit der Allianz zwischen Bourgeois und Arbeiter zu erweisen, hätte sie nicht bloß der Republik, sondern dem Lande einen Dienst erwiesen, auf den sie stolz sein darf.“ (Zitiert von Ch. Verecque, Trois années de participation socialiste à un gouvernement bourgeois)
Dieser Politik entsprach es, wenn Herr Levy in seinem zur Verherrlichung Millerands geschriebenen, hier schon einmal zitierten Buche sich für das Bündnis zwischen Waldeck-Rousseau dem Opportumsten und Millerand dem Sozialisten begeisterte und schrieb:
„Diese Übereinstimmung zeigt den politischen Geist, der zwei große Fraktionen des Proletariats und der Bourgeoisie beseelt; er bezeugt eine neue und, wie wir hoffen, definitive Richtung in der Politik unseres Landes.
„Von nun an sind durch ein unzerreißbares Band miteinander verbunden die republikanische Bourgeoisie, die glaubt, die beste Methode, den sozialen Frieden zu sichern, sei die rechtzeitige Gewährung notwendiger Reformen, und jene Fraktion der sozialistischen Partei – ihre bei weitem bedeutendste –, die, geleitet von dem Ideal ihrer Grundsätze, sich bemüht, jeden Tag von der Republik eine Tat der Billigkeit und Güte für das Volk zu erlangen“ (S. XI)
Damit stand im Einklang das Streben des ministeriellen Sozialismus, die Traditionen der großen Revolution wieder zu galvanisieren. Die sozialistische Bewegung wurde hingestellt als Vollenderin der Prinzipien der Revolution. Das Programm, das sich die neue Partei auf dem Kongreß von Tours 1902 gab, erklärte:
„Historisch und seit der französischen Revolution haben die Proletarier begriffen, daß die Erklärung der Menschenrechte illusorisch bliebe ohne eine soziale Umformung des Eigentums.“
Gabriel Deville erklärte damals:
„Unsere Prinzipien sind die wahrhafte Verwirklichung der Menschenrechte ... Ich mache mich anheischig, unsere ganze Theorie aus den Menschenrechten abzuleiten.“
So wurde über den „veralteten“ Marx hinaus diese allerneueste Phase des Sozialismus begründet auf die Menschenrechte von 1789, auf die Gedankengänge des aufkommenden Liberalismus.
Von der Praxis, die sich auf diese Theorien aufbaute, haben wir schon genügende Proben kennen gelernt.
Je mehr aber so ein starker Teil der sozialistischen Deputierten und ihres Anhanges in der Wählerschaft sich der bürgerlichen Demokratie näherte und dem Ministerialismus verfiel, desto stärker machte sich in der Masse des kämpfenden Proletariats ein Rückschlag fühlbar.
Es ist bemerkenswert, daß jedesmal, so oft die Taktik des Staatssozialismus oder der Vereinigung von Sozialisten und bürgerlichen Demokraten hervortritt, ihr als Gegensatz eine antistaatliche und antiparlamentarische Strömung folgt. Wir haben gesehen, wie in Frankreich nach der Junischlacht an Stelle Louis Blancs Proudhon bei den Arbeitermassen in den Vordergrund trat.
Die blutige Maiwoche machte nicht bloß der Kommune, sondern auch dem Proudhonismus (wenigstens im sozialistischen kämpfenden Proletariat) ein Ende, das heißt dem Glauben, durch seine kleinen, friedlichen Mittel sei das Proletariat zu emanzipieren und eine neue Gesellschaftsform zu begründen.
An Stelle des friedlichen Anarchismus kam nach der Kommune der terroristische Anarchismus Bakunins unter den romanischen Sozialisten zur Blüte, der anfangs noch zu Putschen neigte, als aber deren Aussichtslosigkeit mehr und mehr offenbar wurde, die individualistische Propaganda der Tat predigte.
Als dann in Frankreich die Possibilisten den Block mit den bürgerlichen Republikanern gegen den Boulangismus begründeten, da gedieh auch, als Gegenstück dazu, die Propaganda der Tat. Die Zeit von 1892 (Ravachol) bis 1894 (Caserio) bildet den Höhepunkt des gewalttätigen Anarchismus in Frankreich.
Das machtvolle Anwachsen des Marxismus setzte ihn auf den Aussterbeetat, aber der sozialistische Ministerialismus ließ wieder eine neue Form des Antiparlamentarismus erstehen, allerdings eine weit höhere und sympathischere als die Propaganda der Tat: die Propagierung des Generalstreiks nicht als Pressionsmittel, das eventuell, wenn alle anderen Mittel versagen, den Parlamentarismus ergänzen und stützen kann, sondern als normales Mittel der Aktion, um die Teilnahme des Proletariats an den parlamentarischen Kämpfen überflüssig zu machen.
Zu den Gegnern des Generalstreiks in diesem Sinne gehörte von Anfang an Jules Guesde, während gerade spätere Jaurèsisten sehr mit ihm liebäugelten. Die Extreme berühren sich.
Die Wurzeln der antiparlamentarischen Generalstreiklerei sind zu suchen einmal im Erstarken der Gewerkschaftsbewegung, dann aber im wachsenden Ekel über die parlamentarische Korruption und über den damit verbundenen parlamentarischen Kretinismus der jedes Gefühl und jedes Interese für die kämpfende Masse verliert und seine Akte nicht danach bemißt, wie sie auf diese wirken, sondern danach, welchen Einfluß sie auf das parlamentarische Intrigenspiel üben können.
Der letzte Kongreß von Bourges hat deutlich gezeigt, wie sehr die Masse der organisierten Arbeiter Frankreichs von dem Interesse für den Generalstreik und für eine revoluti0näre, antiparlamentarische Aktion erfüllt ist.
Diese Tendenzen der französischen Gewerkschafter sind tief in den Verhältnissen begründet. Sie mußten in dem Maße erstarken, in dem der Ministerialismus unter den sozialistischen Abgeordneten wuchs, denn um so schreiender wurde der Gegensatz zwischen den Illusionen der letzteren von der Solidarität der Klassen in der Republik und der Wirklichkeit der Zuspitzung der Klassengegensätze, die gerade in der Republik am deutlichsten zutage treten.
Aber ist der Antiparlamentarismus der Generalstreikler auch begreiflich, so ist er nichtsdestoweniger völlig verkehrt. Sicher sind die sozialistischen Abgeordneten in der Kammer ohnmächtig ohne die Pression der arbeitenden Masse von außen, aber ebenso sicher bedarf die Kraft dieser Masse eines Werkzeugs innerhalb des Parlamentes selbst, soll sie sich zur gesetzgebenden Tat gestalten, und dieses kann zuverlässig und zweckmäßig nur durch eine starke sozialistische Fraktion im Parlament gebildet werden.
Andererseits ist es sicher, daß der Parlamentarismus ein bürgerliches Herrschaftsmittel darstellt, das die Tendenz hat, alle Abgeordneten, auch die antibürgerlichen, aus Dienern des Volkes in seine Herren, gleichzeitig aber in Diener der Bourgeoisie zu verwandeln. Indes wird diese Gefahr um so größer, je weniger das Proletariat sich um die Parlamentarier kümmert, je mehr es ihnen freie Hand läßt, indem es sich voll Entrüstung und Verachtung von ihnen abwendet.
Es geht mit dem Parlamentarismus wie mit der Presse. Auch sie ist ein Herrschaftsmittel des Kapitalismuus, auch sie hat allenthalben die Tendenz, den Journalisten zu einem Herrn des Volkes und zu einem Diener des Kapitals zu machen. Dem Journalismus wohnt die Tendenz inne, ebenso korrumpierend zu wirken wie der Parlamentarismus. Aber deswegen werden die Generalstreikler doch nicht die Abkehr von der Presse predigen. Die Presse ist eines der Herrschaftsmittel der Bourgeoisie, aber auch ein Machtmittel des Proletariats, ohne das es seinen Klassenkampf nicht führen kann. Eine starke eigene Presse ist eine der Vorbedingungen der Eroberung der politischen Macht. Nicht die leere Entrüstung über die feile Presse, sondern die Unterwerfung der Presse unter die proletarische Disziplin ist hier die Aufgabe des Proletariats, und dasselbe gilt vom Parlamentarismus. So unverkennbar seine Gefahren sind, er ist notwendig, und parlamentarischem Kretinismus, parlamentarischer Korruption und Impotenz wirkt man nicht durch wohlfeile Entrüstung entgegen, sondern ebenfalls nur dadurch, daß man die Abgeordneten der Disziplin des organisierten Proletariats unterwirft.
Die „Meinungsfreiheit“ der sozialistischen Journalisten und Abgeordneten in Frankreich, ihre Unabhängigkeit von den proletarischen Organisationen, die Möglichkeit, daß ihre Politik im Gegensatz zu diesen steht, das ist der Krebsschaden seiner sozialistischen Bewegung; sie hat erst den Ministerialismus möglich gemacht, sie und nicht bloß die Blockpolitik muß beseitigt sein, sollen die Massen des organisierten Proletariats wieder Zutrauen zu den sozialistischen Parlamentariern bekommen. Nicht bloß die beiden politischen Parteien, der Parti Socialiste de France und der Parti Sociaiste Française, sind bei der Einigung in Betracht zu ziehen, sondern ebenso sehr die Confédération du travail. Deren Massen zu gewinnen, ist zum mindesten ebenso notwendig, wie die beiden politischen Organisationen zu verschmelzen, und bei einer Einigung dieser letzteren wäre der Schaden größer als der Nutzen, wenn sie unter Bedingungen vor sich ginge, welche die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter abstießen, statt sie mit neuer Zuversicht in die Zuverlässigkeit ihrer Vertretung im Parlament und der Parteipresse zu erfüllen.
Nicht um zwei, sondern um drei Richtungen handelt es sich heute wieder in der sozialistischen Bewegung Frankreichs, ebenso wie 1848, drei Richtungen, die manche Verwandtschaft mit denen Blanquis, Louis Blancs und Proudhons aufweisen, dabei aber doch nicht mehr so sehr voneinander getrennt sind wie diese, mehr Gemeinsames aufweisen. Berufen sich doch die Wortführer aller drei Parteien auf Marx, freilich zwei davon nur bedingt, indem sie ihn „ergänzen“, die einen durch die unsterblichen Prinzipien von 1789 und 1793, die anderen durch eine Überordnung der Ökonomie über die Politik und eine Unterschätzung der Bedeutung der Staatsgewalt, ganz im proudhonistischen Sinne.
Dem gegenüber hält der Parti Socialiste de France an dem Ziele der Eroberung der politischen Macht fest, das er vom Blanquismus übernommen. Aber dabei hat er die Einseitigkeit des ursprünglichen Blanquismus überwunden, die gewerkschaftliche und genossenschaftliche Tätigkeit wie die Teilnahme au der Gesetzgebung zu Zwecken der Sozialreform in sich aufgenommen.
Dagegen bedeutet der sozialistische Ministerialismus die Wiedererweckung Modernisierung des praktischen Standpunktes Louis Blancs, der mit marxistischen Anschauungen verquickt ward, wie der Antiparlamentarismus der Generalstreikler die Umwandnlng des Proudhonismus aus dem Kleinbürgerlichen ins Proletarische, aus dem Friedlichen ins Revolutionäre darstellt.
Die Aufhebung der Einseitigkeit dieser beiden Richtungen ist im Interesse des französischen Sozialismus dringend geboten. Sie kann nur erfolgen auf dem Boden des Marxismus, auf den die Amsterdamer Beschlüsse von neuem hingewiesen haben.
Das ist die heutige Situation des Sozialismus in Frankreich. Ich habe etwas weit ausholen müssen, ihre historischen Wurzeln bloßzulegen; aber ich hoffe, dies ist mir gelungen und ich habe vermocht zu zeigen, daß die Spaltungen des französischen Sozialismus nicht in der Unverträglichkeit und Eifersucht des einen oder anderen der führenden Genossen zu suchen sind, wie einige Kritiker mit überlegener Miene auseinandergesetzt haben, sondern aus den Verhältnissen selbst erwuchsen, Verhältnissen, die bis auf die große Revolution zurückgehen und daher nicht immer leicht überwunden werden konnten.
Es ist mir aber hoffentlich auch gelungen zu zeigen, daß die Propaganda Guesdes gegen den republikanischen Aberglauben und die revolutionären Traditionen nichts Unerhörtes ist, daß sie vom Beginn der sozialistischen Propaganda nach dein Falle der Kommune an eine Notwendigkeit war und daß der deutsche Sozialismus sie von Anfang an gebilligt hat, da sie ja aus einer sinngemäßen Übertragung ihrer Taktik des Klassenkampfes auf französische Verhältnisse entsprang.
Endlich aber haben wir auch gesehen, daß die Kritik des republikanischen Aberglaubens keinewegs zu Gleichgültigkeit gegen die Staatsform führt. Vielmehr gerade, weil wir dieser eine große Bedeutung für den Klassenkampf des Proletariats zuschreiben, müssen wir eine Staatsform bekämpfen wie die dritte französische Republik, in der die jeweilig herrschende Klasse mit allen Herrschaftsmitteln der zentralisierten Monarchie bewaffnet wird. Diese Herrschaftsmittel zu zertrümmern, nicht sie zu stärken, ist eine der wichtigsten Aufgaben der französischen Sozialdemokratie. Die dritte Republik, wie sie ist, bietet den Boden nicht für die Emanzipation, sondern nur für die Unterdrückung des Proletariats. Erst wenn der französische Staat in dem Sinne der Verfassung der ersten Republik und der Kommune umgestaltet wird, kann er zu jener Form der Republik, zu jener Staatsform werden, für die das französische Proletariat seit mehr als elf Jahrzehnten gearbeitet, gekämpft, geblutet hat.
Zuletzt aktualisiert am 13.7.2011