K. Kautsky

Republik und Sozialdemokratie in Frankreich


4. Die zweite Republik und die Sozialisten


Als am 24. Februar 1848 die Republik proklamiert wurde, da erwachten alle Erinnerungen von 1793. Von vornherein betrachteten die unteren Klassen die Republik als die Bürgschaft der Wahrung ihrer Interessen, als die „soziale Republik“, die mit derselben Kraft, wie die von 1798, aber mit besserem Erfolg, weil belehrt durch alle die Erfahrungen, die man seitdem gemacht, das Werk der Ausgleichung der Klassenunterschiede und der Erlösung der darbenden Menschheit wieder aufnehmen werde.

Aber es war nur das äußere Kostüm, das die Männer von 1848 den Jakobinern von 1793 entlehnten, wie Marx schon unmittelbar nach dem Ausgang der Revolution bemerkte. Während die Revolutionsmänner noch glaubten, sie hätten dieselben Aufgaben wie 1793, und dieselben Kräfte ständen ihnen zu Gebote, dieselben Methoden seien am Platze, hatten sich das Kampffeld, die Waffen, ja auch die Kämpfer selbst gründlich geändert. So anfeuernd die revolutionäre Tradition wirkte, sie wurde ein Hemmnis der neuen Revolution dadurch, daß sie die Erkenntnis der wirklichen Aufgaben und der Mittel ihrer Lösung erschwerte.

Vor allem war die Situation jetzt eine ganz andere dadurch, daß völliger Friede nach außen herrschte. Als im September 1792 die Republik zustande kam, war der Landesfeind in Frankreich eingedrungen, nahte er der Hauptstadt, war er im Begriff, das verderbliche und allgemein verhaßte feudale Regime, wieder aufzurichten. Im Februar 1848 herrschte tiefer Friede, und dieser blieb erhalten. 1792 hatte sich das monarchische Europa gegen das revolutionäre Frankreich verbündet. 1848 ergriff die Revolution von Frankreich aus ganz Europa und machte nur vor einer Monarchie auf dem Festland Halt: der russischen, die sich hütete, der Revolution mit Waffengewalt entgegenzutreten, solange sie im Fortschreiten war.

Ohne den Kriegszustand wäre aber die Schreckensherrschaft der unteren Klassen in Frankreich unmöglich gewesen. Erst er schuf den Boden, den Ausnahmezustand, auf dem sich dieses abnorme Gebilde erheben konnte: ein antik kapitalistisches Regime in einer kapitalistischen Gesellschaft. Das ist ein Widerspruch, der zu den unerträglichsten Zuständen führen und unbedingt damit enden muß, daß entweder das antikapitalistische Regime oder die kapitalistische Produktion verschwindet. Da letzteres noch nicht möglich war, mußte ersteres eintreten. Die Schreckensherrschaft der Jakobiner wurde nur möglich durch den Krieg, der au und für sich mit den Bedingungen jeder Produktionsweise im Widerspruch steht und stets Maßregeln erheischt, die den normalen Produktionsprozeß einschnüren, sowie durch die Furcht vor der Niederlage, die noch gewaltigere Leiden mit sich gebracht hätte als Krieg und Schreckensregiment.

Aber wie die Situation, waren 1848 auch die Klassen andere. Die Seele der Bewegungen von 1793 hatten die Pariser Kleinbürger gebildet. Das Proletariat der Pariser Vorstädte hatte ihnen Kraft und Kühnheit verliehen, da es hinter ihnen stand, sie vorwärts trieb, ihnen die energischsten und rücksichtslosesten Kämpfer lieferte, aber es hatte noch kein eigenes Bewußtsein entwickelt. Es dachte und empfand noch ganz kleinbürgerlich, und es konnte dies um so eher, als das Kleinbürgertum noch ganz revolutionär dachte und empfand, im Kampfe gegen alle herrschenden Mächte, die kapitalistischen ebenso wie die feudalen, das Mittel seiner Erhebung und Befreiung erblickte.

Seitdem war eine Reihe von Jahrzehnten raschester kapitalistischer Entwicklung vor sich gegangen, die den Kleinbürger immer mehr aus einer ganzen Reihe wichtiger Produktionszweige verdrängt, in anderen zurückgedrängt, ihn immer mehr aus der Produktion in den Zwischenhandel verwiesen, immer mehr aus der Grundlage der Industrie zu ihrem parasitischen Anhängsel gemacht hatte. Damit hatte er auch zusehends an revolutionärer Krach und Kühnheit verloren, war unzuverlässiger und haltloser geworden. Gleichzeitig hatte sich sein Zusammenhang mit dem Proletariat in dem Maße gelockert, in dem dieses begonnen hatte, ein eigenes Bewußtsein zu entwickeln und sich eigene Ziele zu setzen, die im Gegensatz standen zu den kleinbürgerlichen, auf der Warenproduktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln fußenden. So zog sich ein tiefer Zwiespalt durch die beiden Klassen, welche die Republik erobert hatten und die revolutionären Traditionen neu zu beleben suchten. Jede von ihnen las aus diesen Traditionen etwas ganz anderes heraus.

Aber ·nicht minder gespalten war das Proletariat selbst. Ein Teil, und zwar ein sehr großer, hatte sich noch nicht frei gemacht von den kleinbürgerlichen Anschauungen und Empfindungen, lieferte ebenso wie 1793 Truppen für die Politiker des bürgerlichen Radikalismus.

Daneben hatte jedoch ein großer Teil bereits ein selbständiges Bewußtsein und selbständige Ziele gewonnen in der Form des Sozialismus, der in den vierziger Jahren begonnen hatte, sein utopistisches Stadium zu verlassen. Aus einer Lehre bürgerlicher Denker, durch die bürgerliche Menschenfreunde veranlaßt werden sollten, die Kräfte und Mittel zu liefern, um das Proletariat zu erheben und aufzuheben, wurde er damals zu einer Lehre, deren sich das Proletariat bemächtigte, um sich damit selbst zu erheben und nach Mitteln und Kräften zu suchen, sich aufzuheben.

Aber so klar und einfach die Klassenlage des Proletariats ist, so einheitlich sein Klassenkampf sein kann, so mannigfaltig waren die Theorien, an die es anknüpfte, und so mannigfaltig die Richtungen seiner sozialen und politischen Bestrebungen.

Man kann 1848 drei große Hauptrichtungen der sozialistischen Bewegung Frankreichs unterscheiden, gekennzeichnet durch die Namen Blanqui, Proudhon und Louis Blanc.

Die urwüchsigste darunter ist die blanquistische, die direkt anknüpft au den Babouvismus, der seinerseits nichts war als die Fortsetzung des Jakobinismus und dessen Übersetzung aus dem Kleinbürgerlichen ins Proletarische. So wie die Jakobiner durch eine Reihe von Volksaufständen Paris erobert, den Konvent (das Parlament) beherrscht, und durch die stramme Organisation ihres Klubs und durch die gewaltige Macht der Pariser Kommune ganz Frankreich im Schach gehalten hatten, so wollte die Blanquisten durch eine Reihe proletarischer Aufstände Paris unter die Botmäßigkeit des Proletariats bringen und durch Paris Frankreich beherrschen und ihm nach und nach eine sozialistische Produktionsweise aufzwingen. Das Pariser Proletariat selbst sollte durch eine aufs äußerste zentralisierte Organisation nach dem Muster des Jakobinerklubs bei seinen Aufständen geleitet und nach erfochtenem Siege dirigiert werden.

In der Tat, wenn etwas Derartiges 1793 möglich gewesen, warum sollte es 1848 unmöglich sein, wo doch das Proletariat inzwischen um soviel stärker geworden war?

Wie alle Politiker, die im Jahre 1848 das Jahr 1793 fortsetzen wollten, übersahen auch die Blanquisten die Verschiedenheiten der Situation, die sich inzwischen vollzogen. Diese Verschiedenheit war aber für die proletarischen Jakobiner von 1848 in mancher Beziehung noch ungünstiger als für die kleinbürgerlichen.

Die revolutionären Kleinbürger von 1793 waren, bei allem Antikapitalismus, doch auf dem Boden der Warenproduktion und des Privateigentums an den Produktionsmitteln stehen geblieben, wie schon erwähnt; das war aber die Grundlage, auf der das ganze ökonomische Leben damals ruhte. Und der Kapitalismus stand noch in seinen Anfängen; er war zu einem gesellschaftlichen Bedürfnis geworden, aber die Masse der Bevölkerung lebte· noch vom Kleinbetrieb; die antikapitalistischen Tendenzen der Jakobiner entsprachen ihren persönlichen Bedürfnissen, wenn sie auch im Gegensatz standen zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen, die nicht direkt dem einzelnen zum Bewußtsein kamen.

1848 war der Kapitalismus vielleicht nicht mehr ein allgemeines gesellschaftliches Bedürfnis; er konnte vielleicht schon für manche Gegenden und Produktionszweige durch gesellschaftliche Produktion ersetzt werden; aber immer noch blieb die Warenproduktion und das Privateigentum an den Produktionsmitteln für den größten Teil der Bevölkerung Frankreichs, selbst für einen großen Teil der Bewegung von Paris ein persönliches Bedürfnis. Die proletarischen Jakobiner von 1848 standen daher in einem weit schärferen Gegensatz zu den Bedürfnissen der Masse der Bevölkerung, als die kleinbürgerlichen Jakobiner von 1793. Sie hätten, um ihre Diktatur zu behaupten, weit größere Machtmittel zur Verfügung haben müssen als ihre Vorgänger.

Jedoch das gerade Gegenteil war der Fall. Seit 1798 hatten sich die Machtverhältnisse in Frankreich gewaltig zu ungunsten der Hauptstadt verschoben. Eine der Bedingungen der jakobinischen Herrschaft war die gewesen, daß 1789 bereits alle Herrschaftsmittel der herrschenden Klassen zerstört worden waren, Kirche, Bureaukratie, Armee. Das Proletariat, und auch das Kleinbürgertum, wird nie den Staat durch diese Herrschaftsmittel beherrschen können. Nicht nur, daß das Offizierskorps, die Spitzen der Bureaukratie und der Kirche sich stets aus den höheren Klassen rekrutieren und mit diesen durch die innigsten Bande verbunden sind, so steckt in diesen Korporationen ihrer Natur nach, als Herrschaftsmittel, das Streben, sich über die Volksmasse zu erheben, sie zu beherrschen, statt ihr zu dienen; sie werden stets in ihrer Masse antidemokratisch, aristokratisch sein. Das empfanden die Jakobiner so gut, daß sie, als der Krieg ihnen wieder die Schaffung eines Offizierskorps aufnötigte, jeden höheren Offizier unter die Aufsicht von Zivilkommissären setzten, weil jeder von vornherein aristokratischer Neigungen verdächtig schien.

Die Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat heißt daher nicht etwa einfach Eroberung des Ministeriums, das dann die bisherigen Herrschaftsmittel – Staatskirche, Bureaukratie, Offizierskorps – ohne weiteres in sozialistischem Sinne dirigiert, sondern sie bedeutet die Auflösung dieser Herrschaftsmittel. Solange das Proletariat nicht stark genug ist, mit ihnen fertig zu werden, wird ihm alle Besetzung einzelner Ministerien und ganzer Regierungen nichts nützen, kann ein sozialistisches Ministerium im besten Falle nur ein kurzlebiges Ding sein, das sich im vergeblichen Kampfe gegen diese Herrschaftsmittel aufreiben muß, ohne etwas Dauerndes schaffen zu können.

1792 waren die Jakobiner in der günstigen Lage, alle diese Herrschaftsmittel aufgelöst zu finden. Da konnten Paris mit seinen gewaltigen Machtmitteln und der so ausgezeichnet im ganzen Lande organisierte und disziplinierte Jakobinerklub ihre Übermacht in vollem Maße entfalten.

Nach dem 9. Thermidor und besonders unter dem Kaiserreich hatten dagegen Bourgeoisie und Kaiserreich die genannten Herrschaftsmittel wieder aufgebaut und unendlich vervollkommnet. Es ist richtig, sie waren stramm zentralisiert, und der Zentralpunkt, von dem aus sie dirigiert wurden, war Paris. Solange diese Herrschaftsmittel im Besitze der Pariser Regierung blieben, wurde Frankreich von Paris aus regiert. Aber sobald Paris in die Hände eines demokratischen Regimes geriet, mußten die Herrschaftsmittel sich sofort gegen dieses und damit gegen Paris selbst wenden. Den nötigen Zentralpunkt konnten, sie auch außerhalb Paris finden, wie die Erfahrungen von 1871 gezeigt haben. Diese zentralisierten Herrschaftsmittel wurden dann die Macht, die ganz Frankreich gegen Paris führte und dieses erdrückte.

Wenn man nach der jakobinischen Tradition annahm und heute noch vielfach annimmt, durch die Zentralisation der Verwaltung könnte ein revolutionäres Paris leichter Frankreich beherrschen, als bei weitgehender Selbstverwaltung der Gemeinden, so ist diese Meinung völlig irrig. Das revolutionäre Paris dominierte in Frankreich gerade damals als die Selbstverwaltung der Gemeinde am höchsten ausgebildet war, der Zentralismus der Jakobiner beherrschte den Föderalismus der Gemeinden. Der Versuch der Girondisten, die Provinz gegen Paris aufzubieten, scheiterte damals kläglich. Es war gerade das zentralisierte Frankreich, das 1848 wie 1871 den girondistischen Plan erfolgreich durchführte.

Die Aufgabe des französischen Sozialismus ist damit gegeben: die Eroberung der Provinz ist ebenso wichtig wie die von Paris, und die Auflösung und Schwächung der zentralisierten Herrschaftsmittel ist möglichst zu fördern, namentlich durch Ausdehnung der lokalen Selbstverwaltung, natürlich auf der Grundlage des allgemeinen gleichen Stimmrechtes. Viele französische Sozialisten scheinen freilich auch heute noch anderer Meinung zu sein. Sie glauben zum Beispiel die Gefährdung der Republik durch die aristokratischen Tendenzen der Armee am besten zu bekämpfen durch Vermehrung der Polizeigewalt des Staates statt durch Einführung des Milizsystems.

Der jakobinische Blanquismus, der diese ungeheuren zentralisierten Herrschaftsmittel sich gegenüber sah, wäre also, hätte er Paris erobert, auf weit größere Schwierigkeiten gestoßen, als seine Vorgänger 1793, indem seine Machtmittel weit geringer gewesen wären. Er hätte schließlich ebenso sicher scheitern müssen als diese. Aber immerhin, er hätte doch vorübergehend ein sozialistisches Regime begründen können, das nicht nutzlos vorübergegangen wäre, wie keine große revolutionäre Bewegung scheitert, ohne gewaltige Spuren zu hinterlassen, die nicht wieder zu verlöschen sind, und ohne mächtige Anregungen zu geben, die jahrzehnte-, ja jahrhundertelang nachwirken. Die Revolution von 1848 hätte für die proletarische Sache dazu mehr geleistet, als bloß die Schärfung des proletarischen Klassenbewußtseins und die Vertiefung der Klassengegensätze durch die Junischlacht.

Aber der Blanquismus konnte 1848 nicht seine volle Kraft entfalten. Seine Organisationen waren durch erfolglose Putsche des vorhergehenden Jahrzehntes geschwächt, die besten seiner Führer, vor allem Blanqui selbst, in Haft, als die Revolution losbrach. Und neben dem Blanquismus waren andere Richtungen aufgetaucht, die einen großen Teil des Proletariats gefangen nahmen.

Die eine davon war die proudhonistische. Wirkte Blanqui vor allem als Kämpfer und Organisator, so war Proudhon vor allem Theoretiker, mitunter auch Träumer. Ebensosehr wie Blanqui erkannte er den Gegensatz zwischen Proletariat und Kapital, mehr als jener vertiefte er sich in die Erforschung seiner ökonomische Gesetze. Aber die Erfahrungen von 1793 hatten auf ihn ganz anders gewirkt wie auf Blanqui. Wollte dieser die jakobinische Politik im Interesse des Proletariats fortsetzen, schob er einseitig die Eroberung der Staatsgewalt in den Vordergrund, so sah Proudhon nur das Mißlingen der Revolution und wurde dadurch voll Mißtrauen gegen die Revolutionen und Staatsveränderungen, sowie schließlich den Staat selbst. Nicht durch dessen Eroberung, sondern durch die Umformung der ökonomischen Verhältnisse sollte das Proletariat sich emanzipieren. Will aber das Proletariat sich durch rein ökonomische Mittel befreien, so sind das notwendigerweise einmal kleinliche Mittel, solche, die es aus seinen eigenen ökonomischen Einnahmen aufbringen kann; und dann sind es notwendigerweise friedliche Mittel, solche, die keinen erheblichen Widerstand bei den herrschenden Klassen finden, diesen nicht gefährlich erscheinen. Auf solche Mittel beschränkte sich denn auch der Proudhonismus in seiner Praxis, auf die Gründung von Versicherungskassen, Tauschbanken, Genossenschaften, Mittel, die entweder ganz utopistisch waren, wie die Tauschbanken, oder Mittel, wie die Versicherungskassen und Genossenschaften, die ganz nützlich sein konnten, wenn sie neben anderen, gewaltigeren und wichtigeren Mitteln des proletarischen Emanzipationskampfes in Anwendung kamen; die aber direkt schädigend wirkten und daher verwerflich wurden, wenn sie das ausschließliche Tätigkeitsgebiet der Arbeiterklasse in ihrem Befreiungskampf bilden und sie von der Anwendung anderer Mittel abhalten sollten.

Die Beschränkung auf diese kleinlichen, friedlichen Mittel brachte aber notwendigerweise auch die Beschränkung des Endziels mit sich, da nur kleine Ziele mit den kleinen Mitteln erreichbar waren. Es konnte im Grunde auf nichts anderes hinauslaufen als auf die Aufhebung des Kapitalismus und die Emanzipation des Proletariats durch die Verwandlung des Proletariers in einen Kleinbürger. Nicht die Aufhebung der Warenproduktion durch gesellschaftliche Produktion, sondern. die Bildung eines neuen Typus der Warenproduktion, bei dem durch Ausschaltung des Geldes und des Zwischenhandels der kapitalistische Profit aufgehoben werden sollte, war das Endziel des Proudhonismus.

Dem Kommunismus, der gesellschaftlichen Produktion, stand Proudhon entschieden feindlich, der Revolution geringschätzig und verständnislos gegenüber. Er war in seinem Denken ganz kleinbürgerlich und daher vielfach reaktionär, wie das am deutlichsten in seiner Auffassung der Frauenfrage zutage trat.

Am 17. Mai 1846 schrieb er an Marx:

„Ich glaube, daß wir dieselbe (die Revolution) nicht nötig haben, um zu reüssieren, und daß wir demzufolge die revolutionäre Tat nicht als Mittel der Reform aufstellen dürfen, weil dieses angebliche Mittel ganz einfach ein Appell au die Gewalt, an die Willkür, kurz ein Widerspruch wäre. Ich stelle mir das Problem: die Reichtümer durch eine ökonomische Kombination in die Gesellschaft zurückfließen lassen, die der Gesellschaft durch eine andere Kombination entnommen werden.“

Diese Kombination zu entdecken, nicht die politische Macht zu erobern, erschien ihm als die Hauptaufgabe des Sozialisten.

Weit größeren Einfluß jedoch als die Proudhons und Blanquis besaß beim Ausbruch der Revolution die dritte Richtung des französischen Sozialismus, die Louis Blancs. Ebensowohl wie Proudhon und Blanqui erkannte auch er den tiefen Gegensatz zwischen dem Kapitalismus und den proletarischen Interessen. Ebensogut wie Blanqui, und in vollem Gegensatz zu Proudhon, erkannte er auch die Bedeutung der Staatsgewalt für das ökonomische Leben und die Umwandlung der Gesellschaft. Aber im Gegensatz zu Blanqui wollte er nicht das Proletariat in revolutionärem Kampfe der Bourgeoisie entgegensetzen. Er hielt es für möglich, und darin bestand seine historische Besonderheit, die edleren und intelligenteren Teile der besitzenden Klassen von der Notwendigkeit des Sozialismus zu überzeugen, da sie uner dem Kapitalismus, der freien Konkurrenz, den Krisen, nicht minder litten als das Proletariat. Eine über den Klassen stehende Staatsgewalt, angetrieben und erleuchtet von den besten Elementen der ganzen Nation, war das Mittel, von dem Louis Blanc die Verwirklichung seines Sozialismus erwartete, der daher auch ein friedfertiger, jeglichem Klassenkampf abholder sein mußte. Nicht auf den Sieg des Proletariats rechnete er, sondern auf den Sieg der Vernunft, die für alle Klassen die gleiche ist. Wohl strebte er die gesellschaftliche Produktion an, aber nicht durch Eroberung der Machtmittel des Kapitals, durch Exproprüerung der Kapitalistenklasse; sondern neben den kapitalistischen Unternehmungen sollten sich die vom Staate eingerichteten ·und unterstützten Arbeitergenossenschaften erheben und nach und nach immer mehr ausdehnen.

Louis Blanc rechnete also vor allem auf das Wohlwollen der Bourgeoisie, die zum Sozialismus überredet werden mußte. War für Blanqui die politische Organisation des Proletariats das souveräne Mittel, es zu befreien, für Proudhon seine ökonomische Organisation, so für Louis Blanc die Macht der Redner und Literaten des Sozialismus, die Herzen zu rühren. In der mündlichen und schriftlichen Schönrednerei sah er das wichtigste Kampfesmittel des Sozialismus, ein Kampfesmittel, das er selbst auf das virtuoseste zu handhaben wußte. Und was von ihm, gilt von seinen Nachfolgern. Sie sind glänzende Redner und Schriftsteller, die den Zauber ihrer Worte für unwiderstehlich halten. Ohne diesen Glauben wäre in der Tat ihre Richtung nicht denkbar.

Man sieht, alle drei Richtungen hatten ihre Schwächen, aber die Schwäche jeder derselben entsprang aus der Schwäche des Proletariats selbst, das noch nicht die Kraft besaß, die Gesellschaft zu beherrschen und doch schon das lebhafte Bedürfnis empfand, sich zu befreien. Jede der drei Richtungen suchte einen anderen Weg, diese Befreiung zu ermöglichen, ehe noch das Proletariat genügend erstarkt war.

Dabei war aber jede in den Traditionen der großen Revolution befangen, und das bildete das zweite Moment ihrer Schwäche. Knüpfte der Blanquismus direkt an den Jakobinismus und seine Illusionen an, wirkte in Proudhon im Gegensatz dazu der Katzenjammer, den das Scheitern der Illusionen der großen Revolution hervorgerufen, so waren in Louis Blanc jene großen Erinnerungen lebendig, in denen die revolutionären Bewegungen trotz der Klasseninteressen, die sie im Grunde bewegten, als rein menschliche Bewegungen und Wirkungen der großen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erschienen, wie zum Beispiel in der Nacht des 4. August 1789, wo Feudalherren und Kirchenfürsten freiwillig ihre eigenen Privilegien abschafften, die freilich, bei Lichte betrachtet, tatsächlich das empörte Volk vorher schon in Scherben geschlagen hatte, auf die zu verzichten daher kein übermäßiges Opfer war.

Wurden diese drei Richtungen von den genannten drei Männern am besten und charakteristischsten vertreten, so hatten diese sie doch nicht geschaffen. Sie entsprangen den Verhältnissen, und nicht zufälligen, sondern für die moderne Gesellschaft wesentlichen Verhältnissen, so daß wir alle drei Richtungen auch heute noch in Frankreich lebendig finden, obwohl sie der Besonderheiten längst entkleidet sind, die ihnen ihre genannten drei Vorkämpfer verliehen, jede den modernen Verhältnissen angepaßt und äußerlich völlig verändert. Ja, nicht bloß in Frankreich, im ganzen internationalen Sozialismus finden wir immer wieder mehr oder weniger ausgesprochen diese drei Richtungen: die eine, die das Proletariat durch die Eroberung der politischen Macht im Kampfe gegen die Bourgeoisie befreien; die zweite, die das Wohlwollen der Staatsmacht oder eines Teiles der Bourgeoisie gewinnen, und die dritte, die hinter dem Rücken des Staates, ohne viele Politik durch die ökonomischen Organisationen das Proletariat emanzipieren will. Die Lebenskraft dieser drei Richtungen rührt wohl daher, daß jede von ihnen ein notwendiges Stück des proletarischen Befreiungskampfes repräsentiert. Das gilt cum grano salis auch von der Louis Blancschen.

Das Proletariat kann sich nicht befreien, wenn es sich nicht als selbständige politische Organisation konstituiert, welche die Staatsmacht erobert. Aber dies kann nicht das Werk des Putsches einer kleinen Minderheit der Arbeiterklasse sein, sondern setzt eine langsame und mühevolle, vielfach friedliche Arbeit der ökonomischen, moralischen, intellektuellen Hebung der Masse des Proletariats voraus, wobei die Entwicklung seiner ökonomischen Organisationen unentbehrlich ist. Dies wieder kann nicht unter Ignorierung des bürgerlichen Staates geschehen. Das Proletariat kann sich nicht außerhalb des Staates stellen, es bleibt in ihm, und jede Veränderung desselben wirkt auf seine eigene Entwicklung zurück. Es darf daher den politischen Kämpfen zwischen den verschiedenen bürgerlichen Parteien nicht teilnahmlos zusehen, die Gestaltung der Gesetzgebung nicht für etwas Gleichgültiges halten, sondern muß tatkräftig eingreifen in die ersteren, die eine Seite gegen die andere unterstützend, und versuchen, der Staatsgewalt Gesetze abzuringen, die seinen Aufstieg fördern. So enthielt jede der drei Richtungen einen gesunden Kern, so geriet jede in Irrtum durch seine Isolierung von dem Gesamtkörper der proletarischen Bewegung. Und so muß auch heute noch immer wieder jede einseitige Hervorhebung der einen der drei Seiten unserer Bewegung unter Vernachlässigung der anderen – politische Revolution, ökonomische Organisation, Beeinflussung der Gesetzgebung – Wahrheit in Irrtum verwandeln und das Proletariat auf Abwege führen, welche die Opfer seines Kampfes vergrößern, seine Erfolge verringern.

Kann aber das Proletariat seine volle Kraft nur dann entfalten, wenn es sich aller drei Seiten seines Befreiungskampfes bewußt bleibt, so wirken doch die Verhältnisse dahin, bald diese bald jene Seite erfolgreicher zu gestalten. Daß die eine Seite dann mehr in den Vordergrund tritt, ist durchaus nicht bedenklich, vielmehr für die proletarische Sache höchst förderlich, solange es nicht zu einem völligen Vergessen oder gar absoluten Verdammen der anderen Seiten führt, die unter anderen Verhältnissen ihrerseits viel wirksamer werden können und die stets im Auge behalten werden müssen, soll die Hervorhebung der einen Seite nicht zu einer Einseitigkeit führen, aus der nur Illusionen und dann Enttäuschungen erstehen können.

In den Zeiten einer politischen Revolution war diejenige Seite des proletarischen Emanzipationskampfes welche von seinen Vorkämpfern vor allem in den Vordergrund zu schieben war, die auf Eroberung der politischen Macht gerichtete. Der Blanquismus entsprach den Bedürfnissen der damaligen Situation am besten; was ihr abzuringen war, konnte das Proletariat am ehesten dadurch erringen, daß es sich geschlossen und energisch der blanquistischen Führung anvertraute.

Aber wir haben schon darauf hingewiesen, daß die blanquistischen Organisationen geschwächt, ihre Führer verhaftet waren; und gerade diese Seite der proletarischen Bewegung setzte eine geschlossene politische Organisation und anerkannte Führer voraus. Für die ökonomischen Rezepte Proudhons war natürlich die Zeit der politischen Revolution schon gar nicht günstig. Dagegen wurde Louis Blanc der Mann des Tages. Seine Illusionen entsprachen dem Mangel an Klassenbewußtsein in der Mehrheit der proletarischen Masse, außerdem aber verfügte er über jene große Waffe, durch die moderne Politiker die unorganisierten Volksmassen am meisten beeinflussen, ja beherrschen: die Presse.

Die Louis Blancschen Illusionen von dem Zusammenwirken der Klassen haben stets in Journalistenkreisen den fruchtbarsten Boden gefunden. Der Journalist, ausgebeutet vom Kapital, zu dessen Lohnarbeiter herabgedrückt, aber doch meist aus bürgerlichen Kreisen hervorgegangen und durch seine persönlichen Beziehungen, Neigungen, Ziele dem bürgerlichen Milieu einverleibt, reproduziert politisch und literarisch die Zwischenstellung zwischen Bourgeoisie und Proletariat, die der Kleinbürger ökonomisch einnimmt. Er entwickelt leicht proletarische Sympathien, sucht aber nach einem Wege, sie geltend zu machen, ohne mit der Bourgeoisie zu brechen. Dieses Stadium hat wohl jeder von uns „Akademikern“ in der sozialistischen Bewegung durchgemacht, auch jene, die sich zu der schärfsten Betonung des proletarischen Klassenstandpunktes durchgerungen haben. Viele bleiben in jenem Stadium zeitlebens stecken.

Der Journalist, der durch seine Leitartikel die „öffentliche Meinung“ macht, verfällt aber auch am ehesten in die Illusion, die Klassengegensätze durch geschriebene oder gesprochene Leitartikel überwinden und die verschiedenen Klassen zu gemeinsamer Arbeit überreden zu können.

Wenn die urwüchsig proletarische Bewegung sich immer zwischen den beiden Extremen der politischen Revolution und der ökonomischen Organisation der proletarischen Klasse bewegt, die 1848 die Formen von Blanquismus und Proudhonismus angenommen hatten, so neigt der Literatensozialismus stets zur Kooperation der Klassen, wie sie 1848 durch Louis Blanc vertreten wurde.

Je weniger organisiert und politisch geschult das Proletariat, desto mehr wird es aber durch die Presse beherrscht. Und im Februar 1848 besaß das Pariser Proletariat, abgesehen von einigen geheimen Klubs, gar keine Organisation. Die 1843 gegründete Réforme, von Louis Blanc im Verein mit kleinbürgerlich-sozialistischen Demokraten redigiert, war damals eine Macht unter den revolutionären Massen.

Es entsprach dem Mangel an selbständige Organisation und selbständigem Klassenbewußtsein des Pariser Proletariats, wenn auf die Zusammensetzung der provisorischen Regierung der Republik nicht der Blanquismus Einfluß nahm, sondern Louis Blanc; wenn diese Regierung nicht eine sozialistische war, sondern eine bürgerliche, in der zwei Sozialisten Aufnahme fanden, Louis Blanc und Albert, von vornherein zur Ohnmacht verurteilt, eine Deckung der bürgerlichen Regierung gegen das Proletariat, nicht ein vorgeschobener Posten des Proletariats auf feindlichem Gebiet.

Mit ihm, und das war ein großes Unglück, schrieb Jaurès über Louis Blanc in der Cosmopolis, „schien der Sozialismus an der Macht zu sein, ohne daß er sie besaß. Dieser hatte seine Vertretung in der provisorischen Regierung, in der die bürgerlichen Anschauungen herrschten; ein Schein der Macht, durch den der Sozialismus die Befürchtungen der Kapitalisten überreizte, ohne daß er die Kraft erhalten hätte, den Kapitalismus zu beseitigen“. (Zitiert von E. Buré in La Vie Socia1iste, 2. Heft. S. 125)

Die Kraft, die das Proletariat in. den Februartagen entfaltete, hatte nicht ausgereicht, das bürgerliche Regime zu stürzen, sondern nur ausgereicht, die Monarchie unmöglich zu machen, also an ihre Stelle die Republik zu setzen. Wenn es die Republik erzwang, so erreichte es damit nichts anderes, als daß es der Bourgeoisie die Aufgabe auferlegte, die Republik, die das Proletariat als das Werkzeug seiner Emanzipation betrachtete und als „soziale“ begrüßte, in ein Werkzeug bürgerlicher Klassenherrschaft zu verwandeln. Es zwang die Bourgeoisie, nun selbst gegen das Proletariat zu regieren, diese unangenehme Aufgabe, die sie bis dahin der Monarchie überlassen hatte, selbst in die Hand zu nehmen. Die Bedeutung aber, die das Proletariat in der Republik und durch sie erlangt hatte, erzeugte in der Bourgeoisie einen Haß gegen die arbeitende Volksmasse, wie sie ihn unter der Monarchie nicht gekannt. Hatte sie unter dieser das Proletariat gern dazu benutzt, die Regierung einzuschüchtern und sich gefügig zu machen, so drängte sie jetzt die Regierung, der neuen Macht, die sich so drohend neben ihr erhob, ein Ende zu bereiten, ein rasches Ende, wenn es sein mußte, ein Ende mit Schrecken. Während die von Louis Blanc geführten Arbeiter von der Lösung der sozialen Frage durch die soziale Republik träumten, die alle Klassengegensätze mildern und zur Kooperation der Klassen führe, bereitet die bürgerliche Republik einen Klassenkampf vor, wie ihn gleich furchtbar das neunzehnte Jahrhundert noch nicht gesehen.

Vor allem sah die neue Regierung ihre Aufgabe darin, eine „zuverlässige“ Militärmacht nach Paris zu schaffen und das Proletariat zu entwaffnen, dem die Februartage Waffen gegeben. Das führte zur Katastrophe der Junitage, zur blutigen Niederwerfung des Proletariats. Und nun nahm ihm die siegreiche bürgerliche Republik alles wieder, was es durch Besiegung der Monarchie erobert. Seine Presse wurde geknebelt, seine Vereine aufgelöst, die Nationalgarde, die allen Klassen zugänglich gemacht worden war, wieder auf die Bourgeoisie beschränkt, endlich das allgemeine Wahlrecht aufgehoben, als die Wahlen, trotz der Niederlage vom Juni, Sozialisten in die Nationalversammlung brachten. Das Stimmrecht wurde nun an dreijährige Seßhaftigkeit geknüpft; außerdem genügten Polizeistrafen, ja Übertretungen der Vereinsgesetze und ähnliche Lappalien, um den Verlust des Wahlrechts nach sich zu ziehen.

So gelang es allerdings, das niedergeworfene Proletariat völlig zu knebeln. Aber damit beseitigte man jene Stütze der Republik, deren diese nach 1848 mehr noch bedurfte als nach 1793. Zur Zeit des Konvents war noch das Kleinbürgertum kraftvoll und energisch gewesen. Fünfzig Jahre später war es haltlos und furchtsam geworden. Die Bourgeoisie aber stand der Republik nach wie vor mißtrauisch, ja feindselig gegenüber. Ihre Zuversicht bildete die Armee; damit unterwarf sie sich aber auch dem Regime des Vertrauensmanns der Armee, des dritten Napoleon. Das zweite Kaiserreich folgte der Junischlacht ebenso notwendig, wie das erste dem 9. Thermidor gefolgt war.


Zuletzt aktualisiert am 13.7.2011