K. Kautsky

Republik und Sozialdemokratie in Frankreich


1. Die Begrenzung der Streitfrage


Der internationale Kongreß hat ein unerwartetes Nachspiel gehabt. Auf Grund einer Reihe von Äußerungen, die in Amsterdam gefallen waren, wurden Guesde und Bebel der Gleichgültigkeit gegen die Republik, ja einer gewissen Vorliebe für die Monarchie geziehen. Daß die bürgerliche Presse damit hausieren ging, war nicht verwunderlich; sie versteht's nicht besser. Das Jaurès und seine Freunde diese Deutung kolportierten, war Weniger erbaulich, aber aus ihrer Situation begreiflich. Aber schließlich begann man sogar im Vorwärts dasselbe Lied zu singen, nachdem ich in der Neuen Zeit auseinandergesetzt, aus welchen Gründen der sozialdemokratische Republikanismus sich vom bürgerlichen unterscheide.

Eine Polemik, die sich daraufhin zwischen dem Genossen Eisner und mir entspann, nahm bald eine solche Richtung, das ich sah, auf diesem Wege werde eine Verständigung nicht erzielt. Ich brach daher die Polemik ab, nicht weil ich dachte, mich dadurch um das Geständnis einer Niederlage herumdrücken zu können, wie Eisner so freundlich war anzudeuten, sondern um die Auseinandersetzung auf einer anderen, meines Erachtens fruchtbareren Grundlage fortzuführen unter möglichster Beiseitelassung aller Polemik. Dringende Arbeiten an der Herausgabe der Marxschen Theorien über den Mehrwert haben mich gehindert, die vorliegende Artikelserie früher fertig zu stellen. Aber ihre Hinausschiebung war wohl der Übel größtes nicht. Das Thema veraltet nicht so rasch.

Vor allem handelt es sich darum, sich darüber klar zu werden, welche Punkte eigentlich strittig sind.

Da kann ich zunächst nur wiederholen, was ich in der Neuen Zeit (XXII, 2, S. 675) gesagt:

„Wir sind schon deswegen Republikaner, weil die demokratische Republik die einzige, dem Sozialismus entsprechende politische Form ist, Die Monarchie kann nur bestehen auf der Grundlage von Klassenunterschieden und Klassengegensätzen. Die Aushebung der Klassen bedingt auch die Aufhebung der Monarchie.“

Wohl hat man auch von einem sozialen Königtum gesprochen, aber die Monarchie kann nie die Klassen aufheben, sie kann höchstens dahin streben, das die Klassen sich die Wage halten, das keine die andere allzusehr überragt. So forderte auch der bedeutendste Verfechter der Idee des sozialen Königtums, Rodbertus, nicht die Aufhebung des Kapital- und Grundeigentum und damit die Aufhebung des Lohnsystems, das er noch auf Jahrhunderte hinaus für unentbehrlich hielt, sondern nur eine solche Gestaltung des Arbeitslohns, das er an der steigenden Produktwität der Arbeit in gleicher Weise teilnähme, wie Profit und Grundrente.

Da die Macht der Monarchie am größten dann, wenn die verschiedenen Klassen sich die Wage halten, weil die Monarchie dann am wenigsten abhängig von einer jeden unter ihnen ist, die einen durch die anderen im Zaume hält, kann es wohl unter Umständen ihren Interessen entsprechen, einer starken Klasse entgegenzutreten, um eine schwächere zu schützen. so hat das Königtum oft die aufkommende Bourgeoisie gegenüber dem Feudaladel gestützt. Aber aus demselben Grunde muß die Monarchie danach trachten, eine versinkende Klasse zu halten, sei es auch auf Kosten der ökonomischen Entwicklung, und einer erstarkenden Klasse entgegenzutreten. Dasselbe Königtum, dessen Interesse es erheischte, das schwache Bürgertum vor dem starken Feudaladel zu schützen, hielt es später für seine Aufgabe, den ökonomisch verkommenden Feudaladel auf Kosten der Nation über Wasser zu halten und die Entwicklung der Bourgeoisie möglichst einzudämmen.

So hat die Monarchie auch mitunter dem Proletariat politische Rechte verliehen oder sonstige Konzessionen, um es gegen die Bourgeoisie auszuspielen, aber das erstarkende Proletariat findet stets die Monarchie unter seinen Gegnern.

Und von vornherein steht die Monarchie dem kämpfenden Proletariat stets mißtrauisch gegenüber, mehr als jeder anderen Klaffe. Denn welcher Klasse immer sie durch ihre politischen Interessen in einem gegebenen Moment genähert werden mag, vom Proletariat trennt sie immer die Kluft, die den Besitzenden vom Besitzlosen scheidet, Monarchie wie Papsttum können die verschiedensten Wandlungen durchmachen, aber sie bleiben stets Angehörige der besitzenden Klassen und als solche Gegner der Emanzipation des Proletariats.

Damit ist aber auch die Gegnerschaft des kämpfenden Proletariats gegeben. sowohl sein Endziel wie seine Bewegung machen den klassenbewußten Proletarier zum Republikaner. Kann die eine oder die andere der besitzenden Klassen hier oder dort unter besonderen Umständen einmal zu einer republikanischen Gesinnung getrieben werden, prinzipiell republikanisch wird durch seine Klassenlage unter den Klassen des modernen Staates nur das Proletariat.

Darüber sind wir wohl alle einig. Damit ist aber nun nicht die strittige Frage aus der Welt geschafft, sondern nur ihr Gebiet begrenzt.

Soweit die republikanische Staatsform und das Proletariat allein in Betracht kommen, ist die Sache freilich sehr einfach. Die Schwierigkeit kommt durch einen dritten Faktor hinein, den wir leider nicht ignorieren können: die Bourgeoisie.

Diese besitzt heute im ökonomischen und gesellschaftlichen Leben die Herrschaft, damit fällt ihr aber auch, obwohl nicht immer direkt und ungeteilt, die Herrschaft im Staate zu. sie ist jedoch weit anpassungsfähiger als das Proletariat. Kann dieses, seiner ganzen Klassenlage nach, nur in der Republik zur Herrschaft kommen, ist diese die einzig mögliche Form für die „Diktatur des Proletariats“, so vermag die Bourgeoisie unter jeder politischen Form sich der Herrschaft im Staate zu bemächtigen, ebenso wie die katholische Kirche, mit der sie auch den guten Magen gemein hat. Am unmittelbarsten aber vermag sie ihre Herrschaft auszuüben in einer parlamentarischen Republik oder in einer parlamentarischen Monarchie, deren Oberhaupt eine bloße Dekoration ist. Die parlamentarische Regierungsform ist die ihren Klasseninteressen entsprechendste.

So kann dieselbe Republik, die den Boden für die Emanzipation des Proletariats bildet, gleichzeitig der Boden werden für die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, ein Widerspruch, der aber nicht sonderbarer ist als etwa die widerspruchsvolle Rolle, welche die Maschine in der kapitalistischen Gesellschaft spielt, die gleichzeitig die unentbehrliche Vorbedingung der Befreiung des Proletariats und das Mittel seiner Degradierung und Knechtung ist. Diese Widersprüche sind allen gesellschaftlichen Institutionen in einer auf den Klassengegensatz aufgebauten Gesellschaft eigen. Ihre Aufzeigung kann nur demjenigen als ein Widerspruch im Denken erscheinen, der sich über diese Gegensätze in der wirklichen Gesellschaft nicht klar geworden ist. Wer sie erkannt hat, wird aus einer Kritik der bürgerlichen Republik ebensowenig eine Verherrlichung der Monarchie herauslesen, wie er die Ausführungen, die Marx in seinem Kapital über die degradierenden Tendenzen der Maschine in der kapitalistischen Gesellschaft macht, als eine Verherrlichung des maschinenlosen Kleinbetriebs auffassen wird.

Ob man den Widerspruch anerkennt, der in der Rolle der Republik in der bürgerlichen Gesellschaft liegt oder ihn für das Produkt eines Denkfehlers erklärt, hängt also davon ab, ob und wieweit man die Wirkungen der Klassengegensätze auf das politische Leben anerkennt. Kurt Eisner führte im Vorwärts zum Lobe der Republik aus,

„das in der bürgerlichen Demokratie aus ihren eigenen Existenzbedingungen heraus das Proletariat von den verschiedenen Gruppen der herrschenden Klassen weit intensiver umworben werden muß als in der Monarchie, daß daher in ihr der Klassenkampf verschleierter erscheint ... Daher das Interesse am Arbeiterfang.“

Das letztere bestreite ich durchaus nichts ich habe es vielmehr in meinem Artikel über den Amsterdamer Kongreß ausdrücklich anerkannt. Ich unterscheide mich jedoch dadurch von Eisner, daß ich die Möglichkeit bestreite, durch ein derartiges Umwerben dauernd den Klassenkampf zu verschleiern, und das es mir unmöglich ist, in dieser Verschleierung einen Vorteil für das Proletariat zu entdecken.

Wer das erstere annimmt, der muß der Ansicht sein, das zwischen „den verschiedenen Gruppen der herrschenden Klassen“ „weit intensivere“ Interessengegensätze bestehen, als zwischen den besitzenden Klassen einerseits und dem Proletariat andererseits; wer das zweite annimmt, muß der Ansicht sein, der Klassenkampf sei ein Übel – vielleicht ein unvermeidliches Übel, aber jedenfalls ein Übel, dessen möglichste Abschwächung und Verschleierung einen Vorteil für das Proletariat bilde, so das um deswillen die Republik der Monarchie vorzuziehen sei.

Das ist in der Tat die Ansicht von Jaurès und seinen Freunden, und darin stehen sie im Gegensatz zu den Marxisten, die da erklären, der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat sei ein fundamentaler, unüberbrückbarer, weit tiefer gehend als irgendein Interessengegensatz innerhalb der besitzenden Klassen. Wohl haben diese in der Republik allen Grund, „Arbeiterfang“ zu treiben, aber nur in den seltensten, stets rasch vorübergehenden Fällen gewähren sie zu diesem Zwecke wirkliche Konzessionen, die das Proletariat kräftiger und kampffähiger machen. In der Regel sind es Scheinkonzessionen, gemacht, um das Proletariat zu spalten, einzuschläfern, auf Irrwege zu leiten oder zu korrumpieren, kurz, um es zu schwächen. Auf die Dauer läßt sich jedoch der Klassengegensatz dadurch nirgends überwinden. Früher oder später bricht er immer wieder durch, und je mehr Konzessionen die Bourgeoisie früher dem Proletariat gemacht, desto mehr muß sie sich dann bedroht fühlen, wenn dieses anfängt, die demokratischen Errungenschaften im eigenen Klasseninteresse statt im Dienste der Bourgeoisie anzuwenden; und desto energischer muß dann jeder Repressionsversuch der Bourgeoisie ausfallen, da diese in der Republik vom Proletariat weit direkter bedroht ist als in der Monarchie, sobald es sich einmal auf die eigenen Füße stellt und des Spieles satt wird, sich von einer Fraktion der Bourgeoisie gegen die andere ausspielen zu lassen.

Gerade darin, daß unter diesen Umständen die Klassengegensätze unvermittelter und schroffer aufeinanderplatzen, als bei gleicher Höhe der ökonomischen Entwicklung in der Monarchie, sehen wir Marxisten einen Vorteil der Republik. Würde sie wirklich, wie Eisner von ihr preisend sagt, die „Klassengegensätze verschleiern“, so müßte das als ein ernstlicher Nachteil in unseren Augen erscheinen, die wir im Klassenkampf die Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung sehen – solange die Gesellschaft auf Klassengegensätzen beruht – und nicht in dem kategorischen Imperativ der Kantschen Ethik und auch nicht in der berauschenden Kraft der Schlagworte der bürgerlichen Demokratie.

Der Streitpunkt ist also jetzt klar bezeichnet. Es handelt sich nicht um die Frage, ob das Proletariat die Republik vorzuziehen hat oder nicht. Darüber sind wir alle einig. Sondern es handelt sich um die Frage: Mildert die Republik den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat oder verschärft sie ihn? Wird in der Republik die Bourgeoisie getrieben, arbeiterfreundlicher zu sein, die Befreiung des Proletariats mehr zu fördern oder weniger zu hemmen, als in der Monarchien

Und anderseits: ist es die Aufgabe der Sozialdemokratie, das unleugbar vorhandene soeben der bürgerlichen Republikaner nach Verschleierung der Klassengegensätze zu unterstützen; hat sie die Aufgabe, in dem Proletariat den Glauben zu fördern, der republikanische Bourgeois sei arbeiterfreundlicher als der monarchistische? Darum handelt es sich.

Ist damit die Streitfrage begrenzt, so auch das Gebiet, für welches sie gilt. Sie kann nur auftauchen in einer Republik, sie ist praktisch gegenstandslos in einer Monarchie. Sie kann uns in Deutschland nur beschäftigen wegen unserer internationalen Beziehungen, wegen der Notwendigkeit, uns über die Differenzen der französischen Genossen klar zu werden. Für Deutschland bedeutet die Republik, mit Ausnahme der paar Hansestädte, die aber nicht demokratische Republiken sind, keineswegs eine Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Für uns hier nimmt nur ihre andere Seite in Betracht, die, ein Mittel der Emanzipation des Proletariats zu sein.


Zuletzt aktualisiert am 13.7.2011