Karl Kautsky

Allerhand Revolutionäres

* * *

III. Der politische Massenstreik
(Fortsetzung)


H. 23, S. 732–740.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


4. Die Vorbedingungen des politischen Streiks

Soll das Proletariat durch einen politischen Streik siegen können, so ist also vor allem erforderlich, daß es einen überwiegenden Teil der Bevölkerung bildet, intelligent und zu einem großen Teile so fest organisiert ist, daß es Disziplin und Zusammenhalt auch dann zu wahren versteht, wenn seine Organisationen formell aufgelöst sind; daß es aus seiner Mitte immer wieder neue Führer erzeugt, denen es willig folgt, wenn seine gewohnten Vorkämpfer verhaftet sind; daß es sich nicht durch Verlockungen oder Aufreizungen zu unklugen und voreiligen Schritten, zu keinem Wutausbruch und keiner Panik fortreißen läßt und nicht über kleinen Nebendingen seine großen Ziele vergißt. Die Industrie muß sehr entwickelt sein, das Proletariat muß eine lange Schule politischer und gewerkschaftlicher Kämpfe hinter sich haben, ehe es soweit kommt.

Andererseits aber muß die Regierung gewisse Kennzeichen aufweisen, soll der Streik sie erschüttern können. Dies ist von vornherein ausgeschlossen bei einer Regierung, die vom Volke gewählt ist und sich nicht auf äußere, durch einen Streik zu desorganisierende Machtmittel stützt, sondern auf die Mehrheit des Volkes selbst. In der Schweiz zum Beispiel wäre der Versuch, die politische Gewalt durch einen Massenstreik ins Wanken zu bringen und zu erobern, ebenso aussichtslos wie überflüssig. Da der politische Streik nur durch seine desorganisierenden Wirkungen auf die Regierung, nicht durch seinen ökonomischen Druck auf die Gesellschaft zu siegen vermag, kann er nur dort am Platze sein, wo die Regierungsgewalt zu einer gewissen Selbständigkeit der Volksmasse gegenüber gelangt ist, wie das in allen modernen Großstaaten der Fall. Aber auch in solchen Staaten hat das streikende Proletariat nur dann Aussicht auf Erfolg, sobald es einer wenn auch äußerlich starken, brutalen, so doch innerlich schwachen und kopflosen Regierung gegenübersteht, die sogar bei den Besitzenden, ja selbst in der Bureaukratie und Armee kein Zutrauen mehr genießt. Eine starke, weitblickende Regierung, die allen Volksklassen imponiert, ist durch einen politischen Streik kaum zu besiegen.

Zum Glücke für das Proletariat zeigt die moderne Entwicklung allenthalben die Tendenz, die Regierungen zu schwächen und alle Klassen mit ihnen unzufrieden zu machen. Das ist kein Zufall. Solange die Staatsgewalt große Ziele hat, die im Interesse der Masse der Nation liegen, erzeugen ihre Kämpfe leicht große Männer, hinter denen geschlossene, große Parteien stehen. Ganz anders dort, wo die Staatsgewalt und die hinter ihr stehenden Klassen im wesentlichen alles erreicht haben, was sie brauchen, wie das heute der Fall. Es gibt kein großes, gemeinsames Interesse mehr, das diese Klassen zusammenschweißen könnte, die kleinen lokalen und beruflichen Sonderinteressen kommen in den Vordergrund, die Parteien der besitzenden Klassen spalten sich immer mehr in kleine, kurzsichtige Cliquen. Die Regierungen aber werden immer mehr zu Koalitionsregierungen, deren Aufgabe nicht mehr darin besteht, ein großes Programm durchzuführen, sondern darin, die auseinanderstrebenden Elemente unter einen Hut zu bringen, was nur möglich ist in der Weise, daß man jede zum Verzicht auf den Rest ihres traditionellen Programms veranlaßt, daß man also ihre gesetzgeberische Unfähigkeit steigert und ihre ganze Kraft auf irgend eine naheliegende Maßregel konzentriert – etwa einen Zolltarif oder die polizeiliche Austreibung von ein paar Pfaffen und Nonnen, worüber alles andere vernachlässigt wird.

In einer solchen Atmosphäre können energische und weitblickende Männer der Tat nicht gedeihen; sie begünstigt rückgratlose Schmeichler, Meister in der Kunst des Verschiebens und Vertuschens, die bereit sind, den widersprechendsten Tendenzen anscheinend, durch Versprechungen, zu dienen, und die in ihrem Handeln nur für den nächsten Tag sorgen, unbekümmert um seine ferneren Konsequenzen. Es sind glatte Diplomaten, oft nicht ohne Intelligenz, stets sehr liebenswürdig, gewandt in der Kunst, jeden zu gewinnen, mit dem sie zu tun haben,, aber unfähig, irgend einen großen Gegensatz zu überwinden, irgend ein großes Interesse auf die Dauer zu befriedigen; unfähig auch, den Untergebenen durch ihre Überlegenheit zu imponieren. Es sind ganz bequeme Steuermänner für die Zeit des Sonnenscheins und leiser Zephirs. Aber sie versagen , im Sturme, und sie müssen ihre Autorität schon vor seinem Ausbruch völlig abgenutzt haben angesichts der Widersprüche, denen sie dienen, die sie nicht zu überwinden, sondern nur zu überkleistern suchen.

Je unerwarteter und plötzlicher der Sturm hereinbricht, desto ratloser werden sie ihm gegenüberstehen. Hier kommen wir zu einer zweiten Ähnlichkeit der Barrikadenschlacht mit dem politischen Streik. Wir haben gesehen, daß es bei jener wie bei diesem auf die moralische Wirkung, auf die plötzliche Desorganisation der Regierung ankommt. Da dies, und nicht die taktische Überwindung des Heeres das Entscheidende bei der Barrikadenschlacht war, hatte sie nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie unvermutet losbrach, ohne daß die Regierung Zeit fand, ihre Vorbereitungen zu treffen. Das war aber in der Regel nur bei spontanen Erhebungen der Fall, in denen das Volk von selbst, einer plötzlichen Eingebung folgend, auf die Barrikaden stieg. Nicht immer ohne jede Organisation und Leitung. In Frankreich wurde dies zum großen Teile durch die geheimen Gesellschaften besorgt. Wo aber solche Geheimbünde den Ausbruch nicht bloß benutzten und ihn leiteten, sondern ihn von langer Hand vorbereiteten und in Szene setzten, da wurden sie nur zu leicht niedergeschlagen; hat doch die politische Polizei überall ihre Spione, und so erfuhr auch die Regierung in der Regel rechtzeitig von dem Vorhaben. Auch fiel der von vornherein festgesetzte Zeitpunkt der Erhebung nicht immer zusammen mit einer starken, oppositionellen Erregung der Volksmassen.

Ähnlich steht’s mit dem politischen Streik, wenn es richtig ist, daß er nicht durch seinen ökonomischen Druck auf die Kapitalisten, sondern durch seine lähmende und verwirrende Wirkung auf den Regierungsmechanismus den Sieg herbeiführt. Je unerwarteter der Streik, je spontaner, desto eher wird er diese Wirkung erzielen. Was von jedem Streik gilt, trifft am meisten für den politischen zu: der beste Teil seiner Wirkung ist dahin, wenn man ihn vorher für einen bestimmten Termin ankündigt. Diese Ankündigung hat nur dann einen Zweck, wenn man nicht die ernste Absicht hat, den Streik wirklich durchzuführen, wenn man ihn bloß als Drohung benutzen will. Aber solche Drohungen nutzen sich nur zu rasch ab, und wenn ihnen nicht die entscheidende Tat folgt, müssen sie Entmutigung und Mißtrauen in den eigenen Reihen säen.

Der politische Streik hat dann die meiste Aussicht aus Erfolg, wenn er spontan aus einer gegebenen Situation herauswächst, welche die gesamte Volksmasse in die tiefste Erregung versetzt hat – etwa ein großes, ihr zugefügtes Unrecht, ein Staatsstreich oder etwas Ähnliches –, so daß sie bereit ist, alles zu wagen und ein Losungswort, wie das der Arbeitseinstellung, gleich einem Zündfeuer durch sie läuft, alles mit sich fortreißend und durch die Plötzlichkeit, Allgemeinheit und Wucht der Eruption die Gegner einschüchternd, verwirrend, lähmend.

Nichts irriger als die Anschauung, die gesamte Arbeiterschaft müßte erst gewerkschaftlich organisiert sein, ehe man den politischen Massenstreik beginnen könnte. Diese Voraussetzung würde nie eintreffen, sie hätte aber auch nur einige Berechtigung für den Fall, daß man durch den ökonomischen Druck einer langwierigen Arbeitseinstellung den Gegner besiegen wollte. Gilt es, ihn durch einen moralischen Chok zu lähmen, dann ist dazu nicht allgemeine Organisation, wohl aber allgemeine Erregung der Proletariermassen in gleicher Richtung erforderlich eine Erregung, die freilich erfolglos verliefe, wenn hinter ihr nicht eine Organisation oder doch eine durch die Schule der Organisation gegangene Arbeiterschaft stände, die der Bewegung Gehirn und Rückgrat verliehe.

Mit den entsprechenden Änderungen darf vom politischen Streik gesagt werden, was Marx 1852 von der bewaffneten Erhebung, schrieb:

„Der Aufstand ist eine Kunst, ebenso wie der Krieg oder andere Künste, und gewissen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigung zum Verderben der Partei führt, die sich ihrer schuldig macht ... Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht entschlossen ist, allen Konsequenzen des Spieles Trotz zu bieten. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Wert sich jeden Tag ändern kann; die Streitkräfte, gegen die man zu kämpfen hat, haben den Vorteil der Organisation, Disziplin und herkömmlichen Autorität ganz auf ihrer Seite; kann man nicht große Gegenmächte dagegen aufbringen, so wird man geschlagen und vernichtet. Zweitens, ist der Aufstand einmal begonnen, dann handle man mit der größten Entschiedenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jeder bewaffneten Erhebung; diese ist verloren, ehe sie sich noch mit dem Feinde gemessen hat. Überrasche die Gegner, solange ihre Truppen zerstreut sind, sorge täglich für neue, wenn auch kleine Erfolge; halte das moralische Übergewicht fest, das die erste, erfolgreiche Erhebung dir gebracht; ziehe jene schwankenden Elemente an dich, die immer dem stärksten Anstoß folgen und sich immer auf die sicherere Seite schlagen; zwinge deine Feinde zum Rückzug, bevor sie ihre Kräfte gegen dich zusammenfassen können; kurz, nach den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik: Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit“ (Revolution und Kontrerevolution in Deutschland, S. 117, 118).

Mutatis mutandis gilt dies auch vom politischen Streik. Man spiele nicht mit ihm, verpflichte sich nicht, ihn zu einem bestimmten Termin in Szene zu setzen; wenn dann die Zeit für ihn gekommen ist, wenn die Arbeitermassen energisch danach verlangen und der Kampf gegen die Regierung entbrannt ist, dann winkt der Sieg um so eher, je rascher auf den Beschluß, zu streiken, die Ausführung , folgt, ohne Zögern, ohne Parlamentieren, ohne Beschwichtigen, ehe die Gegner ihre Machtmittel gesammelt und ihren Feldzugsplan entworfen haben; er winkt um so eher, je weniger man es zuläßt, daß sie zur Besinnung kommen und frei aufatmen.

Der belgische Generalstreik von April 1902 zeigte uns in dieser Beziehung, wie es nicht gemacht werden darf. Zuerst wurde der Regierung ein Kampf auf Leben und Tod für einen bestimmten Termin angekündigt, dann, nachdem man ihr Zeit gelassen, sich zu sammeln und zu waffnen, Streitkräfte zusammenzuziehen, nachdem sie ihre Rüstung vollendet, ließ man den allgemeinen Streik beginnen.

Fern sei es von uns, den belgischen Genossen aus diesen Fehlern einen Vorwurf zu machen. Sie haben sich trotzdem so glänzend geschlagen und einen so geordneten Rückzug angetreten, daß sie damit ihre Fehler soweit wett machten, als es möglich war. Und hinterdrein, sowie für den Zuseher, ist es immer leichter, Fehler zu entdecken, als für den Handelnden, sie zu vermeiden. Aber der Wunsch, unseren belgischen Genossen jeden Vorwurf zu ersparen, darf nicht soweit gehen, ihre Fehler zuzudecken, da wir sonst Gefahr laufen, dieselben zu wiederholen. Wir haben keinen Grund, die belgischen Genossen zu tadeln, die auf einem so dornigen und unbekannten Terrain mutig vorangegangen sind; aber wir müssen von ihnen lernen, um nicht jene Irrwege neu zu betreten, die sie vom Wege zum Erfolg abkommen ließen.

Lernen wir vom belgischen Beispiel, dann werden wir zur Überzeugung kommen, es wäre für uns in Deutschland ein verhängnisvoller Fehler, wollten wir uns auf die Proklamierung des politischen Streiks für einen bestimmten Termin, etwa für den Fall der Verschlechterung des gegenwärtigen Reichstags-Wahlrechtes, festlegen.

Gegen diese Festlegung spricht noch ein anderer Umstand. Auch hier können wir wieder an eine Ähnlichkeit zwischen Barrikadenkampf und politischem Streik anknüpfen.

Welches immer der Ausgangspunkt des Barrikadenkampfes sein mochte, er lief immer darauf hinaus, die herrschende Regierung zu stürzen, nicht bloß, ihr eine vereinzelte Konzession abzutrotzen. Und das war ganz natürlich. Ein Barrikadenkampf bedeutete den Einsatz des Lebens. Den wagt man nur für ein großes Ziel. Nur das Bewußtsein, ein unerträglich gewordenes Joch abschütteln zu können, konnte den Massen den Mut und die Begeisterung einflößen, deren sie bedurften, um sich der bewaffneten Macht entgegenzuwerfen.

Diese selbst aber konnte nur schwankend gemacht werden durch die Empfindung, das herrschende Regime sei im Zusammenbrechen begriffen. Solange der Soldat wußte, daß seine Vorgesetzten morgen dieselben bleiben würden, die sie heute waren, auch wenn seine Auflehnung gegen sie glückte, mußte er sich vor jeder Insubordination hüten, deren grausamer Bestrafung er ja dann doch nicht entging. Ihn konnte nur das Bewußtsein schwankend machen, sein Übertritt auf die Seite des Volkes oder doch seine Lahmheit in dessen Bekämpfung helfe die Regierung stürzen und verwandle die Insubordination aus einem Verbrechen in einen Akt höchster Bürgertugend.

Endlich aber stellte sich auch die nötige Kopflosigkeit bei der Regierung nur dann ein, wenn sie merkte, daß jeder falsche Schritt sowohl nach der Seite der Schwäche wie nach der der Rücksichtslosigkeit sie die ganze Existenz und nicht bloß ein bißchen mehr oder weniger an Macht oder Ansehen kosten könne.

Ähnliche Erwägungen gelten auch für den politischen Streik. Auch hier steht Großes auf dem Spiele, jeder der Kämpfenden wagt, wenn auch nicht direkt das Leben, so doch die wirtschaftliche Existenz in ganz anderem Maße als bei einem gewöhnlichen Streik, wo hinter den Gemaßregelten einer Branche in einer Lokalität die ganze Arbeiterschaft mit ihren ungebrochenen Organisationen und Hilfsmitteln steht. Eine Niederlage im politischen Massenstreik heißt, wenn er bis zum äußersten ausgefochten wird, die Niederlage der gesamten Arbeiterklasse, die Vernichtung ihrer.gesamten ökonomischen und politischen Organisationen, die völlige Kampfunfähigkeit des Proletariats auf Jahre hinaus.

Auf dem letzten Wiener Parteitag meinte Viktor Adler, er stehe dem Generalstreik sympathischer gegenüber, seitdem ihm der „glorreiche Rückzug“ der belgischen Genossen gezeigt, „er (der Generalstreik) sei in einer vernünftigen, besonnenen, klaren Weise zu Ende zu führen“. Nach dem Zusammenhang meint Adler offenbar mit dem letzten Satze nicht bloß die Möglichkeit, ihn vernünftig und besonnen zum Siege zu führen, sondern auch die Möglichkeit, ihn ohne Niederlage abzubrechen, wenn der Sieg aussichtslos erscheine. Auf diese letztere Möglichkeit möchte ich nicht zu stark bauen. Ein General, der sich in eine Schlacht einläßt mit der Erwartung, er könne sie jederzeit nach Belieben abbrechen, wenn er erkennt, der Feind sei stärker, als er erwartet, kann recht üble Erfahrungen machen. Wer eine Schlacht beginnt, muß entschlossen sein, sie bis zu ihrer Entscheidung auszufechten, er muß auch mit der Möglichkeit der Niederlage rechnen. Bei jeder größeren Aktion, in die wir eintreten, steht nur der Anfang bei uns. Wie sie sich weiterhin gestaltet, das hängt nicht bloß von uns ab, sondern auch von unseren Gegnern.

Aber die Möglichkeit einer Niederlage darf vom Kampfe nicht abhalten. Das wäre ein trauriger Krieger, der sich nur dort in einen Kampf einließe, wo er den Sieg schon in der Tasche hat. Es kann sogar Momente geben, wo mau mit der Wahrscheinlichkeit der Niederlage den Kampf aufnehmen muß, weil ein kampfloser Rückzug völligem moralischem Bankrott gleichkäme.

Aber je vernichtender die Folgen einer eventuellen Niederlage, desto mehr muß man sich davor hüten, in den Kampf ohne Not einzutreten, desto größer muß der Preis sein, um dessentwillen mau ihn aufnimmt.

Daß andererseits auch beim Massenstreik wie beim Barrikadenkampf die Regierung um so leichter den Kopf verliert, je größer die Gefahr ist, die ihr droht, bedarf bei einem wankenden, verfaulten Regime keines Beweises. Und nur um eiu solches kann es sich handeln. Eine zielbewußte, einheitliche, tatkräftige, in der Masse der Bevölkerung wurzelnde Regierung wächst in der Gefahr. Die Methode, eine solche zu stürzen, ist indes überhaupt noch nicht erfunden.

Aber der Regierungsmechanismus kommt ebenfalls um so leichter in Unordnung, je gefährdeter die Regierung ist. Das hat der Barrikadenkampf vom Militär gezeigt, das gilt auch von den staatlichen Lohnarbeitern. Wir haben oben schon auf die Eisenbahner hingewiesen, die an der Erringung eines proletarischen Regimes noch mehr interessiert sind als die meisten anderen Arbeiterschichten. Aber gerade sie riskieren auch am meisten bei einer Arbeitseinstellung, die nicht mit ihrem Siege endet und die in der Regierung alles beim alten läßt. Selbst ein vorübergehender Sieg kann die Ursache einer Niederlage für sie werden, wie der Ausgang des holländischen Streiks beweist, wenn er nur zur Gewährung einer Einzelkonzession und nicht zur Änderung des Regierungssystems in proletarischem Sinne führt. In den meisten Ländern werden sich’s die Eisenbahner wohl überlegen müssen, ob sie sich einem politischen Streik anschließen, wenn dieser nicht die Aussicht auf die Gewinnung einer vom Proletariat beherrschten Regierung bietet.

Und wie mit den Eisenbahnern steht’s mit den anderen Menschenmassen, deren die Regierung zum Funktionieren ihres Mechanismus bedarf.

Auch darin dürfen wir einen der Gründe suchen, warum der letzte belgische Generalstreik scheiterte. Die Eisenbahner, die Soldaten usw. hätten sich wohl eher dem Streik angeschlossen, wenn sie Aussicht gehabt hätten, sein Gelingen werde an Stelle der ultramontanen Regierung ein Ministerium Anseele-Vandervelde setzen.

Die Chancen für den politischen Massenstreik stehen schlecht dort, wo die Sozialdemokratie nicht stark genug und bereit ist, im Falle des Sieges das Staatsruder zu übernehmen.

Treffen alle die hier gemachten Beobachtungen zu, dann müssen wir zu dem Schluffe kommen, daß der politische Massenstreik eine Waffe ist, die unter Umständen vortreffliche Dienste leisten kann, für deren erfolgreiche Anwendung aber die Zeit noch nicht gekommen ist. Sie ist weder ein souveränes Mittel, den herrschenden Klassen einzelne Konzessionen abzuringen, noch eines, die Erhaltung der errungenen politischen Freiheiten und Rechte auf alle Fälle fortan zu sichern.

Aber der politische Massenstreik kann dort, wo dem Proletariat seine legalen politischen Machtmittel genommen sind, wo es politisch wenig zu verlieren und unendlich viel zu gewinnen hat, wenn er in einer günstigen Situation ausbricht, die eine schwache Regierung ungerüstet oder in einer Klemme vorfindet, das Mittel werden, in einem letzten Entscheidungskampf dem Proletariat die politische Macht zu erringen. Er ist ein wahrhaft revolutionäres Mittel und als solches nur in revolutionären Zeiten am Platze, beim Kampfe nicht uni einzelne Maßregeln, sei es das Wahlrecht, das Koalitionsrecht oder etwas Ähnliches, sondern beim Kampfe um die ganze politische Macht.

Ist aber der politische Streik unter den. heute gegebenen Verhältnissen nicht am Platze, so ist es andererseits sehr die Frage, ob er ein Mittel ist, dessen Anwendung unter allen Umständen notwendig wird. Wir haben gesehen, daß wir die Formen der kommenden Kämpfe um die politische Macht nicht voraussehen können; Ereignisse im Ausland – wir haben als solche genannt eine Erhebung in Belgien, einen unglücklichen Krieg irr Rußland, einen Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten – können auf Deutschland in einer Weise zurückwirken, daß sich hier die Eroberung der politischen Macht ohne jede Katastrophe aus friedlichem Wege vollzieht. Andererseits ist die Dauerhaftigkeit und Widerstandskraft der heute schon dem Proletariat zu Gebote stehenden politischen Machtmittel noch nicht auf die äußerste Probe gestellt worden, endlich vermag die Zukunft noch vieles Unerwartete zu bringen.

Nichts wäre daher voreiliger, als sich auf den politischen Massenstreik für bestimmte Gelegenheiten zu verpflichten. Aber wir haben auch nicht die geringste Ursache zum Gegenteil. Ich stimme Adler vollständig zu, wenn er in der schon zitierten Rede sagt:

„Ich bin nicht dafür, unsere Gegner zu beruhigen, daß sie vor dem Generalstreik sicher sind. Wir würden in ihnen damit eine gefährliche Illusion nähren. Abschwören wollen mir den Generalstreik nicht. Wann, wie, ob, das steht dahin.“
 

5. Der Nutzen der Diskutierung des politischen Streiks

Wenn wir über die zukünftige Anwendung des politischen Streiks noch gar nichts Bestimmtes sagen können, welchen Zweck hat es dann, über diese Kampfesmethode zu diskutieren, zu deren Ausführung wir vielleicht gar nicht kommen werden und die, wenn sie notwendig wird, um so energischer wirkt, je unvermuteter sie angewandt wird? Heißt das nicht auf der einen Seite über ungelegten Eiern brüten, andererseits sich von dem Gegner vorzeitig in die Karten schauen lassen?

Über die Zukunft sich den Kopf zu zerbrechen, ist dann zwecklos, wenn unser heutiges Tun nicht die Gestaltung der Zukunft, wenn unsere Anschauung von der Zukunft nicht unser heutiges Tun beeinflussen kann. Wo dagegen eine solche Wechselwirkung vorhanden, ist es nicht bloß gestattet, sondern geboten, die Zukunft zu erforschen. Ist aber die Anwendung des politischen Massenstreiks in der Zukunft nicht unbedingt geboten, so ist er doch nichts weniger als unbedingt ausgeschlossen. Gerade deswegen aber, weil er, wenn er wirksam sein soll, nicht das für einen bestimmten Zeitpunkt vorbereitete Werk einer kleineren Organisation, nicht ein Putsch sein darf, sondern der spontane Ausbruch eines tiefgehenden, allgemeinen Zornes des Proletariats, müssen wir ihn öffentlich diskutieren. Wenn die Barrikadenkämpfe von 1848 spontan entstanden, die Bevölkerung mit sich rissen und zu einem erfolgreichen Ende kamen, so war dies nur möglich, weil eine viele Jahrzehnte hindurchgehende, vom Bastillensturm anhebende Praxis des bewaffneten Aufstandes die Gemüter des Volkes mit dieser Methode vertraut gemacht hatte. Ein derartiger Lehrgang ist heute weder notwendig noch wünschenswert. Der heutige Stand der politischen Rechte gestattet uns, theoretisch die Mittel des politischen Kampfes vor aller Welt zu diskutieren, was vor 1848 unmöglich war. Wir sind in der Lage, durch diese Diskussionen einigermaßen die Notwendigkeit des Lernens aus der Praxis zu ersehen, und wir wären Narren, wenn wir es nicht täten. Die heutigen Formen der Demokratie machen nicht, wie die Revisionisten glauben, die großen Entscheidungskämpfe der Klaffen um die politische Macht überflüssig. Aber sie beseitigen einen großen Teil der so opfervollen fehlschlagenden Versuche, Entscheidungsschlachten vorzeitig zu provozieren, ehe die aufsteigenden Klassen noch die Kraft und die Reife besitzen, die politische Gewalt tatsächlich zu übernehmen und erfolgreich auszuüben. Wollen wir aber von allen Experimenten mit dem politischen Streik absehen, dann müssen wir um so mehr seine Theorie entwickeln und ins Bewußtsein der Genossen überführen, denn wenn es einmal dahin kommen sollte, daß das Proletariat zur Waffe des politischen Streiks greift und greifen muß, wird es sie nur dann zweckentsprechend anwenden, wenn es vorher schon klare Vorstellungen über ihn erlangt hat.

Aber die öffentlichen Diskussionen des politischen Streiks sind nicht nur ein Notbehelf, die Schule der praktischen Erfahrungen zu ersetzen, sie können auch einen sehr wertvollen Einfluß auf unser politisches Leben gewinnen.

Nach wie vor gilt das Wort von Marx, daß die Gewalt die Geburtshelferin jeder neuen Gesellschaft ist. Freiwillig, ungezwungen, dankt keine herrschende Klasse ab. Aber damit ist nicht notwendig gesagt, daß Gewalttätigkeit die Geburtshelferin einer neuen Gesellschaft sein muß. Eine aufsteigende Klasse muß über die nötigen Gewaltmittel verfügen, soll sie die alte herrschende Klasse depossedieren können, aber es ist nicht unbedingt geboten, daß diese Gewaltmittel auch zur Anwendung kommen. Das Bewußtsein der Existenz solcher Mittel kann unter Umständen genügen, eine niedergehende Klasse zu friedlichem Paktieren mit dem übermächtig gewordenen Gegner zu veranlassen.

Je zahlreicher und kraftvoller die Machtmittel des Proletariats, je verbreiteter ihre Kenntnis, desto größer die Möglichkeit des friedlichen Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus. Soweit diese Art der sozialen Revolution überhaupt erreichbar ist, hängt sie nicht ab von unseren friedlichen Beteuerungen, von dem Verzicht auf die „Freßlegende“, nicht ab von Versicherungen oder Konzessionen, die entweder nicht ernst genommen werden, nur als Heuchelei gelten, oder aber als Zeichen der Furcht ausgelegt werden und unsere Gegner in der Verweigerung aller nennenswerten Konzessionen nur bestärken. Nur durch unsere Machtmittel imponieren wir unseren Gegnern und veranlassen wir sie, eine friedliche Auseinandersetzung mit uns zu suchen, die auch wir wünschen, wenn sie ohne Gefährdung oder Verzögerung der Emanzipation des Proletariats möglich ist. Das alte Wort: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg“ gilt hier mehr als in jedem anderen Falle. Sollte aus unseren Diskussionen hervorgehen, daß wir im politischen Streik eine zwar zweischneidige und nur in den extremsten Fällen anwendbare, aber stets auch für unsere Gegner gefährliche, unter Umständen vernichtende Waffe besitzen und daß die Wahrscheinlichkeit der schließlichen Anwendung dieser Waffe uni so mehr wächst, je mehr uns alle anderen Waffen des politischen Kampfes genommen oder verkümmert werden, dann haben wir unsere Position zur Wahrung unserer politischen Rechte und zur Hintanhaltung politischer Katastrophen sehr verbessert.

Freilich, allzugroße Hoffnungen auf die friedliche Entwicklung wird mau auch dann nicht hegen dürfen. Immerhin, wenn mir ein Räuber auflauert, wird die Gefahr, daß er mich überfällt und ich ihn zu meiner Verteidigung niederschießen muß, jedenfalls geringer sein, wenn er einen Revolver in meiner Hand steht, als wenn ich meine Waffe verberge und er mich wehrlos wähnt. Und so ist auch von diesem Standpunkt ans die öffentliche Diskutierung des politischen Streiks geboten.

Ebensosehr aber endlich durch die Rücksicht auf die eigene Partei. Die ganzen Diskussionen der letzten Jahre in unseren Reihen entsprangen im Grunde dem Empfinden, daß wir bei der Fortsetzung unserer bisherigen Taktik und unseres Anwachsens rasch einen: entscheidenden Zusammenstoß mit den herrschenden Klassen entgegengehen. Können wir dabei über keine anderen politischen Waffen verfügen als über die uns von diesen Klassen selbst verliehenen, namentlich das allgemeine Wahlrecht, dann steht’s freilich schlimm um unsere Aussichten; dann liegt es nahe, nach einer Taktik zu suchen, die entweder den Entscheidungskampf auf Jahrhunderte hinausschiebt oder in eine endlose Reihe bedeutungsloser Zwergkämpfe auslöst oder aber nach proudhonistischer Manier das Kampfobjekt, die politische Macht, umgeht. Bei allen diesen Versuchen, dem Feinde auszuweichen oder gar seine gute Meinung zu gewinnen, gerät man aber in Gefahr, um der Existenz der Partei nullen alles zu opfern, was die Grundlage und Berechtigung dieser Existenz ausmacht und damit die Partei der Entmannung und langsamen Auflösung entgegenzuführen.

Ganz anders, wenn im Proletariat das Bewußtsein lebt, daß es über eine Reihe von Machtmitteln verfügt, die unabhängig sind von dem guten Willen der herrschenden Klassen, und daß diese Mittel ihm schließlich die Kraft verleihen können, über seine Gegner zu obsiegen, auch wenn diese zu den brutalsten Methoden greifen. Es wird dann den Weg, den es für den richtigen erkannt und auf dem es schon soweit gekommen, ruhig weitergehen, ohne sich provozieren zu lassen durch die Scharfmacher, die das kämpfende Proletariat gern in seinem Blute ersäufen möchten, aber auch ohne sich einschüchtern zu lassen durch die Warnungen jener ängstlich besorgten Freunde, die seinen Sieg wünschen, aber seinen Kampf verabscheuen.

Als eines der wirksamsten Mittel aber, im Proletariat dies erhebende und stählende Gefühl der eigenen Kraft und der Siegeszuversicht zu entfachen, erscheint mir die Verbreitung des Bewußtseins von der schließlichen Möglichkeit und Wirksamkeit des politischen Streiks. Und vor allem um dieser unschätzbaren Wirkung willen ist heute eine Untersuchung seiner Möglichkeiten und Methoden so notwendig.


Zuletzt aktualisiert am 20. Oktober 2024