Karl Kautsky

Allerhand Revolutionäres

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II. Revolutionsherde


Allerhand Revolutionäres, Die Neue Zeit, 22 Jg., 1. Bd. (1904), H. 20, S 620–627.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Die Bedenken gegen die Unterstützung der Arbeitslosen und die rasche Erweiterung der Produktion sind für Lusnia nur Nebensachen. Als der schlimmste Fehler meiner Broschüre aber erscheint ihm die gänzliche Ignorierung der polnischen Frage. Wie kann man von der Revolution sprechen und von Polen schweigen! Genosse Wilshire aber wirft mir in seiner Kritik vor, ich täte so, als existierten die Vereinigten Staaten gar nicht.

Beide Vorwürfe heben einander auf. Ich konnte nicht in eine Untersuchung der amerikanischen Revolution Polen einbeziehen, nicht bei einer Darstellung der polnischen Frage Amerika im Auge behalten. Ich hatte aber auch von vornherein nicht die Absicht, das eine oder das andere zu tun, da es dem Zwecke meiner Schrift nicht entsprochen hätte. Es handelte sich mir darum, die für unsere Gegenwartsarbeit wichtigen Probleme der Zukunft und die Mittel ihrer Lösung soweit zu untersuchen, als sie wissenschaftlicher Untersuchung zugänglich sind. Wollte ich nicht aus dem Wissenschaftlichen ins Utopistische verfallen, das heißt, wollte ich mich vor der Gefahr bewahren, an Stelle des als notwendig Erkennbaren das Wünschenswerte zu entwickeln, mußte ich mich auf die einfachsten, allen kapitalistischen Nationen gemeinsamen Tendenzen und deren Konsequenzen beschränken. Nur diese lassen sich für einen größeren Zeitraum mit einiger Genauigkeit aus den heute schon vorliegenden Tatsachen erkennen. Gehen wir dagegen zu den konkreten Formen über, die der Entwicklungsgang bei einzelnen Nationen nehmen wird, so stoßen wir auf so komplizierte Erscheinungen, daß es unmöglich ist, mit einiger Sicherheit auch nur für die nächste Zeit vorauszusehen, welche Resultate das Aufeinanderwirken der zahllosen, hier in Betracht kommenden Faktoren ergeben wird.

Ich kann mit voller Sicherheit im Frühling sagen, daß es am Ende des Jahres wieder einen Winter geben wird. Ich kann aber nur mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit das Wetter des morgigen Tages bestimmen, auch wenn ich ein noch so gelehrter und geübter Meteorolog und noch so sehr bekannt mit den jüngsten meteorologischen Tatsachen bin. Ich kann unmöglich das Wetter des kommenden Monats voraussehen.

Ähnlich verhält es sich mit der Politik. Wenn ich finde, daß in allen kapitalistischen Ländern die Klassengegensätze sich zuspitzen, daß das Proletariat ohne die Eroberung der politischen Macht sich nicht emanzipieren kann, daß diese Eroberung, von welchen Absichten und Erwartungen immer sie begleitet sein mag, naturnotwendig zur Entwicklung sozialistischer Produktion führt, so überschreite ich nicht die Grenzen wissenschaftlicher Untersuchung. Natürlich ist damit noch nicht bewiesen, daß diese Ergebnisse richtig sind; das hängt von der Richtigkeit der Methode und der Beobachtungen ab, durch die sie gewonnen wurden. Aber die Möglichkeit, über diese Fragen zu einem wissenschaftlich begründeten Ergebnis zu kommen, liegt vor.

Diese Möglichkeit wird immer geringer, je mehr man sich in die Untersuchung der besonderen Entwicklung einzelner Nationen einläßt. Jede Nation hat einen anderen Werdegang hinter sich, steht auf einer anderen Höhe der Entwicklung, wird von ihren Nachbarn beeinflußt usw. Wenn der allgemeine Entwicklungsgang aller Nationen derselbe ist und sein muß, so ist der besondere Entwicklungsgang, der jeder Nation bevorsteht, ein anderer, und für jede bestehen die mannigfaltigsten Möglichkeiten ihrer Entwicklung. Das beweist nicht, daß wir uns nicht auch um diese Fragen zu kümmern hätten und nicht auch darin zu einiger Einsicht kommen könnten. Jeder Politiker, der sich nicht von den Ereignissen treiben lassen, sondern in sie bestimmend eingreifen null, muß versuchen, sich über die Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten des besonderen Entwicklungsganges der Nation, in der er tätig ist, klar zu werden; denn sein Wirken wird nur dann von Erfolg sein, wenn sein Streben in derselben Richtung geht wie dieser besondere Entwicklungsgang, der ja ebenso notwendig wie der allgemeine, aber nicht so leicht in seiner Notwendigkeit erkennbar ist. Nichts verderblicher als das Verhöhnen jeder weitersehenden Politik, jeder Prophezeiung, wie es heute von den Fanatikern der Gegenwartspolitik und der ausschließlichen Kleinarbeit gern betrieben wird. Der praktische Politiker muß ebenso wie Per theoretische Sozialist, wenn er Erfolg haben will, versuchen, in die Zukunft zu sehen; ob diese Voraussicht die Form der Prophezeiung annimmt, wird von seinem Temperament abhängen. Aber er muß dabei freilich stets darauf gefaßt sein, daß unerwartete Faktoren auftreten, die feine Rechnung durchkreuzen und der Entwicklung eine neue Richtung geben, und er muß daher stets bereit sein, seine Taktik dementsprechend zu ändern.

Den allgemeinen Gang der kommenden sozialen und politischen Entwicklung in der kapitalistischen Gesellschaft und den besonderen in einem einzelnen Lande erforschen, das sind also zwei ganz verschiedene Aufgaben. Die Untersuchung der letzteren setzt die Lösung der ersteren voraus, dagegen kann es nur zu Konfusion führen, wenn man beide miteinander verquickt und gleichzeitig zu erforschen sucht.

Darin liegt die Ursache, daß mein Kapitel über Formen und Waffen der sozialen Revolution, wie Lusnia sich ausdrückt, „etwas Lückenhaftes ist, den Eindruck einer Halbheit, einer Zaghaftigkeit der Gedanken macht“. Er ist völlig im Irrtum, wenn er glaubt, er verspüre hier „den latenten Einfluß jenes heute eben noch herrschenden, noch nicht überwundenen Zustandes der proletarischen Bewegung, in welchem man an die Revolution, an den entscheidenden Kampf nur ungern und nicht ohne Angst denken kann und denkt“.

Die Untersuchung der von Lusnia aufgeworfenen Fragen gehörte eben nicht in den Rahmen meines Schriftchens hinein. Aber ich habe keinen Grund, ihnen aus dein Wege zu gehen. Es kann nicht schaden, wenn man sich gelegentlich auch damit beschäftigt. Aber man darf nicht vergessen, daß es sich dabei nicht mehr nm Entwicklungstendenzen handelt, die man als notwendige, sondern nur noch um solche, die man als mögliche, mehr oder weniger wahrscheinliche, erkennen kann.

Für Lusnia scheint freilich die politische Frage eine mit jeder Form der Revolution notwendig gegebene, und zwar in gleicher Weise gegebene zu sein. Er steht da noch auf dem alten Standpunkt der früheren Demokratie, den auch Marx, Engels, Liebknecht ehedem vertraten, wonach einer Revolution in Westeuropa ein reaktionäres Rußland gegenüberstehen würde, das zu paralysieren eine Notwendigkeit jeder Revolution sei. Das könnte aber am besten erreicht werden durch die Herstellung eines selbständigen Polen. Die Wiederherstellung Polens und die europäische Revolution bedingten also einander, hingen unzertrennlich miteinander zusammen und jeder polnische Patriot würde ein Kämpfer im europäischen Revolutionsheer.

Diese Auffassung war selbstverständlich und notwendig, solange es kein revolutionäres Rußland und auch kein kämpfendes Proletariat in Polen gab. Das Auftauchen des letzteren hat die Begeisterung der Mehrheit der nichtproletarischen Polen für die europäische Revolution gewaltig abgekühlt. Dagegen hat das Erstarken der revolutionären Bewegung in Rußland die Möglichkeit gegeben, dem Zarismus im eigenen Lande zu Leibe zu rücken, und damit wurde gleichzeitig die Möglichkeit, daß der russische Absolutismus wieder wie 1848 eine westeuropäische Revolution durch seine Intervention ersticken werde, aufs äußerste reduziert. Der Zarismus erwehrt sich heute nur noch mühsam des Ansturmes seiner geliebten Untertanen vermöge der Unterstützung durch die Kapitalisten Westeuropas. Setzt eine siegreiche Revolution im Westen an Stelle dieser Kapitalisten das Proletariat, dann schwindet nicht bloß jene Unterstützung des Selbstherrschertums, sondern sie wird abgelöst durch die kraftvolle Unterstützung seiner revolutionären Gegner. Dann muß der Absolutismus rettungslos zusammenbrechen, wenn er nicht schon früher diesem Geschick verfallen ist. Welche Notwendigkeit bestände dann noch, Polen herzustellen, um die Sache der Revolution zu retten?

Die polnische Frage hat demnach heute eine ganz andere Bedeutung, als noch vor einem Menschenalter. Der Sozialismus, ja schon die Demokratie schließt in sich das Prinzip der Volkssouveränität, der Selbständigkeit und Unabhängigkeit jedes Volkes ein. Daraus folgt von selbst, daß eine siegreiche europäische Revolution den Anstoß zur Herstellung einer selbständigen polnischen Republik geben wird. Aber für die Sache der Revolution ist das nicht wichtiger als die Lösung jeder anderen nationalen Frage, die das bürgerliche Regime dem proletarischen hinterläßt, als etwa die Herstellung eines tschechischen, um die Slowaken vermehrten Nationalstaats, die Vereinigung der Serben in einem Staatswesen, die Vereinigung des Trentino mit Italien.

Sicher hat die deutsche Sozialdemokratie deswegen nicht geringere Ursache, nach einem gütlichen Einvernehmen mit den polnischen Genossen zu streben. Sie hat nicht bloß die Aufgabe, deren nationales Empfinden zu achten, sie wird gut tun, auch nationaler Empfindlichkeit einige Rechnung zu tragen. Kleineren, zerstückelten, in ihrer Existenz bedrängten Nationen ist oft über das nationale Empfinden hinaus eine gewisse nationale Wehleidigkeit eigen, auch in ihrem proletarischen Teile, die leicht dort schon Unterdrückung sieht, wo bei völliger Gleichberechtigung bloß ein Überwiegen der Majorität über die Minorität vorliegt. Das schafft nicht immer angenehme Situationen, aber das Proletariat einer so großen und festgegründeten Nation, wie die deutsche, darf schon nach dem Grundsatz noblesse oblige über das theoretisch Gebotene hinaus noch einige Nachsicht mit der nationalen Reizbarkeit ihrer schwächeren und mehr unterdrückten Nachbarn haben, allerdings nicht soweit, daß es zur Störung der Einheitlichkeit der Organisation und Aktion führte.

Jedoch die Ausnahmsstellung, welche die Polen als Schutzwall der Revolution gegenüber Rußland einnahmen, hat aufgehört, und damit ist jeder Grund verschwunden, die polnische Frage in eine allgemeine Untersuchung der kommenden Revolution einzubeziehen.

Aber noch aus einem anderen Grunde fiel die polnische Frage aus dem Rahmen meiner Broschüre heraus. Lusnias Ausführungen darüber gehen von der Voraussetzung aus, die nächste Revolution werde ihren Ausgangspunkt in Deutschland, vielleicht speziell in Berlin, finden. Das ist sicher nicht unmöglich, aber es ist nur eine unter zahlreichen Möglichkeiten, und es ist unter ihnen nicht die wahrscheinlichste. Heute wenigstens stehen eure ganze Reihe von Staaten der Revolution näher als Deutschland, trotz der Raschheit seiner ökonomischen Entwicklung und des Anwachsens seiner Sozialdemokratie. Die deutsche Negierung ist heute noch die kraftvollste der Welt. Sie verfügt über die stärkste, bestdisziplirrierte Armee und Bureaukratie, und ihr steht eure Bevölkerung gegenüber, die nüchtern und friedliebend ist und jeder revolutionären Tradition ermangelt. Freilich kann man sich auch in Deutschland eine Regierung vorstellen, die verrückt genug wirtschaftet, um Armee und Bureaukratie zu desorganisieren und die Masse der Bevölkerung zur Verzweiflung zu treiben, und dabei das Reich in ebenso nutzlose wie opferreiche, vielleicht sogar demütigende Abenteuer zu verwickeln: das wären Faktoren, die selbst das deutsche Volk zur Empörung ausreizen könnten. Ansätze dazu sind bereits zu finden, weitere Dummheiten werden nicht fehlen, veranlaßt durch die wachsende Begehrlichkeit und Not des bankrotten Junkertums, die steigende Angst vor der anschwellenden Sozialdemokratie, die Zuspitzung des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, sowie das Wachstum des Imperialismus bei allen Nationen und damit die zunehmende Gefahr kriegerischer Konflikte. Aber es müßte sehr dick kommen, sollte vom deutschen Volke die Initiative der nächsten Revolution ausgehen.

Viel näher als Deutschland steht ihr sein östlicher Nachbar. Lusnia warnt uns davor, die revolutionäre Kraft des russischen Proletariats nicht zu überschätzen. Man soll sie aber auch nicht unterschätzen, und dieser Gefahr dürfte gerade Lusnia schwer entgehen, da sein Standpunkt in der polnischen Frage seine wichtigste Stütze in der Voraussetzung eines unerschütterlichen, kraftvollen Absolutismus findet und ohne diese Stütze unhaltbar wird.

Kein Zweifel, die ökonomische Entwicklung Rußlands steht weit hinter der Deutschlands oder Englands zurück und sein Proletariat ist weit schwächer und unreifer als etwa das deutsche oder das englische. Aber alles ist relativ, auch die revolutionäre Kraft einer Klasse. Mehr als anderswo ist heute in Rußland das Proletariat der Verfechter der Lebensbedingungen der ganzen Nation, so daß es in feinem Kampfe gegen die Regierung kam» eine Gegnerschaft bei einer der anderen Klassen findet. Andererseits gibt es in ganz Europa, von der Türkei vielleicht abgesehen, keine Regierung, die schwacher wäre als die russische, denn diese hat keine andere Stütze im Staate als eine völlig korrumpierte Bureaukratie und eine Armee, die bereits Keime der Desorganisation und des Mißvergnügens aufweist; es gibt keine Regierung, deren Existenzbedingungen mehr in unversöhnlichem Widerspruch ständen zu den Lebensbedingungen der Nation, deren moralischer und ökonomischer Bankrott offenbarer wäre. Bis in die achtziger Jahre fand der russische Absolutismus seine feste Stütze in einer kraftvollen Bauernschaft. Diese Stütze ist dahin; der Bauer verkommt, verhungert oder rebelliert. Dem drohenden Bankrott entging das Zarentum mit Hilfe des westeuropäischen Kapitals, die ihm dazu diente, treibhausmäßig eine ausgedehnte Großindustrie emporschießen zu lassen. Nun ist diese zusammengebrochen, und statt reicher Revenüen bringt sie dem Absolutismus ein revolutionäres Proletariat, das sich todesmutig in den Kampf stürzt, da es sich noch in dem Stadium befindet, in dem es nichts zu verlieren hat als seine Ketten, und eine Welt zu gewinnen.

Der Kampf wird um so rascher zu ungunsten des Absolutismus entschieden sein, je energischer Westeuropa ihm seine Hilfe versagt. Dahin zu wirken, das Zarentum soviel nur möglich zu diskreditieren, ist heute eine der wichtigsten Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie. Und das hat sie auch begriffen. In welcher Weise sie das in jedem Lande besorgt, muß von dessen eigenartigen Verhältnissen abhängen. Aber ob man das zaristische Barbarentum in Volksversammlungen brandmarkt, wie es unsere Genossen in Wien bei der jüngsten Anwesenheit des Zaren daselbst taten, ob man es durch die Drohung, seinen Repräsentanten auszupfeifen, in seine Schlupfwinkel zurückjagt, wie es unseren italienischen Genossen gelungen; ob man ihm im Reichstag den Krieg erklärt, wie es Bebel so wuchtig bei der Etatsdebatte vollzog – überall haben die Genossen in der der Situation entsprechendsten Weise ihre Schuldigkeit getan – mit Ausnahme der ministeriellen Sozialisten Frankreichs.

Indes, trotz aller wertvollen Freundschaften in Westeuropa wächst die Bedrängnis des Selbstherrschers aller Reußen zusehends. Der Krieg mit Japan kann den Sieg der Revolution in Rußland zusehends beschleunigen, wenn er nicht zu einem raschen und gewaltigen Erfolg der russischen Armee führt. Selbst im Falle eines schließlichen Sieges der Russen kann der Absolutismus schwer getroffen, bis aufs äußerste erschöpft werden, wenn der Krieg etwa die Dauer des Burenkriegs erreichen sollte.

Was sich nach dem russisch-türkischen Kriege ereignete, würde sich diesmal in verstärkten: Maße wiederholen: ein gewaltiges Aufflammen der revolutionären Bewegung. Nicht nur ist heute die Regierung schwächer, sind die revolutionären Elemente stärker als damals: der Krieg gegen die Türken zur Befreiung der slawischen Brüder war populär, er war ein Kamps gegen die Barbarei, für die Freiheit – wenigstens in der Illusion der Kämpfenden, er diente zunächst dazu, das Ansehen der Regierung im eigenen Lande zu heben. Wie ganz anders der Krieg gegen Japan, ein Krieg gegen ein freieres, höher stehendes Land, an dessen Niederwerfung das russische Volk nicht das mindeste Interesse hat. Man vergleiche die zum Kriege drängende Aufregung, die Rußland von 1875 ab durchtobte, als der Aufstand in Bosnien und in der Herzogowina ausbrach, bis zur Kriegserklärung 1877, mit der Gleichgültigkeit, mit der vor wenigen Wochen noch in Rußland, im Gegensatz zu Japan, die kriegsschwangere Situation aufgenommen ward.

Eine Revolution in Rußland könnte zunächst kein sozialistisches Regime begründen. Dazu sind die ökonomischen Verhältnisse noch zu unreif. Sie könnte vorerst nur ein demokratisches Regime ins Leben rufen, hinter dem aber ein starkes und ungestümes, nach vorwärts drängendes Proletariat stände, das sich erhebliche Konzessionen erringen würde. Sie könnte vorerst nur ein demokratisches Regime ins Leben rufen, hinter dem aber ein starkes und ungestümes, nach vorwärts drängendes Proletariat stände, das sich erhebliche Konzessionen erringen würde.

Ein solches Regime müßte auf die Rußland benachbarten Länder gewaltig zurückzuwirken. Einmal durch Belebung und Anfeuerung der proletarischen Bewegungen daselbst, die dadurch den stärkeren Anstoß erhielten, ihrerseits ein Sturm auf die politischen Hindernisse einer wirklichen Demokratie – in Preußen zunächst etwa auf das Dreiklassensystem – zu unternehmen. Dann aber durch Entfesselung der mannigfaltigen nationalen Fragen Osteuropas.

Es scheint mir zweifellos, daß eine russische Revolution den Panslawismus in einer neuen Form wiederbeleben müßte. In seiner bisherigen ist er ziemlich heruntergekommen. Er war ein revolutionäres Mittel zu zu reaktionären Zwecken: die Aufstachlung der slawischen Völker Österreichs und der Türkei zur Rebellion, wie diese Völker meinten, um ihre nationale Unabhängigkeit unter russischer Führung zu eroberen, wie Rußland wollte, um das Herrschaftsbereich seines Despotismus auf sie auszudehnen. Aber die Zeiten sind vorbei, wo reaktionäre Regierung ungestraft mit der völkerbefreienden Revolution spielen durften, Napoleon mit Kossuth kospirieren (1859), Bismarck eine ungarische Legion gegen das Regime Habsburgs organisieren und den nationalen Aspirationen der Tschechen entgegenkommen (1866) [1], Rieger nach Moskau als Agent des Panslawismus pilgern (1868), General Ignatiew als russischer Gesandter in Konstantinopel den Umsturz des türkischen Reiches nach allen Regel der Geheimbündelei vorbereiten könnte (1864–1877).

Seitdem sind allenthalben die Regierungen etwas vorsichtiger und ängstlicher geworden. Höchstens in Südafrika oder in Zentralamerika riskiert es noch die Regierungen eines kapitalistischen Landes, revolutionäre Methoden ihren Zwecken dienstbar zu machen. Die russische Regierung mach keine Ausnahme davon. Die rebellischen Makedonier von 1903 täuschten sich gewaltig, wenn sie dachten, der Zar werden ihnen ebenso beispringen, wie drei Jahrzehnte früher den Bosniern und Bulgaren.

Andererseits sind die Zustände in Rußland selbs so verzweifelt geworden, daß unter den Slawen Österreichs das Sehnen nach der Vereinigung mit den russischen Ländern, das während der Reformära unter Alexander II. sehr stark war, völlig erloschen ist. Daher sind auf beiden Seiten die Wurzeln des Panslawismus verdorrt.

Ein demokratisches Rußland muß den Drang der Slawen Österreichs und der Türkei nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit und das Streben, dazu die Hilfe des großen russischen Volkes zu gewinnen, von neuem gewaltig aufflammen lassen. Da wird auch die polnische Frage wieder akut werden, aber in einem anderen Sinne, als Lusnia meint; sie wird ihre Spitze nicht gegen Rußland, sondern gegen Österreich und Preußen richten, und, soweit sie der Revolution dient, ein Mittel werden, nicht sie gegen Rußland zu schützen, sondern sie von dort nach Österreich und Deutschland zu tragen.

Österreich wird dann gesprengt, denn mit dem Zusammenbruch des Zarismus zerfällt der eiserne Reifen, der heute noch die auseinanderstrebenden Elemente zusammenhält. Kommt es aber so weit, dann ersteht für das Deutsche Reich die Notwendigkeit, die von Deutschen bewohnten Länder und Landstriche der habsburgischen Monarchie – soweit sie ein zusammenhängendes Ganzes ausmachcn – in seine Gemeinschaft aufzunehmen.

Damit wird aber der Charakter des Reiches völlig verändert. Heute stehen den rund 35 Millionen Preußen nur 22 Millionen Nichtpreußen gegenüber. Der Hinzutritt der Deutschösterreicher würde Preußen und Nichtpreußen ungefähr gleich stark machen, namentlich wenn von den ersteren die heute 3 Millionen starken preußischen Polen abgezogen würden. Ein derartiges Verhältnis brächte die Gefahr einer verstärkten Opposition des Südens gegen den Norden, einer Verstärkung des Partikularismus, einer Schwächung der Reichseinheit, wenn das Reich fortführe ein Bund selbständiger Staaten zu sein. Es würde dann dringend notwendig, nachzuholen, was 1870 versäumt worden, den Bundesstaat in einen Einheitsstaat zu verwandeln. Die Lösung der polnischen Frage würde dadurch sehr erleichtert, denn die Zurückhaltung der preußischen Polen im jetzigen Staatsverband liegt im Interesse eines besonderen preußischen Staates, nicht in dem des deutschen Volkes.

So müßte die russische Revolution nicht nur den proletarischen Bewegungen des übrigen Europa einen mächtigen Anstoß erteilen, sondern auch, nicht bloß in Österreich und den Balkanländern, vielmehr selbst in Deutschland wieder die Fragen der nationalen Einigung auf die Tagesordnung setzen, um sie ihrer endgültigen Lösung zuzuführen. Die Sozialdemokratie würde sich dann zu bewähren haben als Verfechter nicht bloß einer neuen gesellschaftlichen, sondern auch einer neuen nationalen und territorialen Ordnung, als Verfechter nicht bloß der proletarischen Klasseninteressen, sondern auch der allgemeinen nationalen Interessen, denen die anderen, konservativ und ängstlich gewordenen Klassen entweder passiv oder direkt feindlich gegenüberstehen werden.

Sollte es nicht möglich sein, daß schon aus diesen Kämpfen sich schließlich eine herrschende Stellung des Proletariats im Deutschen Reiche ergibt? Das müßte aber auf ganz Europa zurückwirkcn, müßte in Westeuropa die politische Herrschaft des Proletariats nach sich ziehen und dem Proletariat Osteuropas die Möglichkeit bieten, die Stadien seiner Entwicklung abzukürzen und durch Nachahmung des deutschen Beispiels sozialistische Einrichtungen künstlich zu schaffen. Die Gesellschaft als ganzes kann nicht künstlich einzelne Entwicklungsstadien überspringen, wohl aber können es einzelne ihrer Bestandteile, die ihre rückständige Entwicklung durch Nachahmung der vorgeschrittenen Teile beschleunigen und dadurch sogar an die Spitze der Entwicklung gelangen können, weil sie nicht gehemmt werden durch den Ballast von Traditionen, den ältere Nationen mit sich schleppen. Das glänzendste Beispiel dafür ist Amerika, das die Stadien der Feudalität und des Absolutismus übersprang und von den aufreibenden Kämpfen gegen diese und den Lasten ihrer Ruinen verschont blieb.

So kann es kommen. Aber wie schon gesagt, hier haben wir das Gebiet der erkennbaren Notwendigkeit überschritten; hier bewegen wir uns nur noch aus dem von Möglichkeiten. Es kann daher auch ganz anders kommen.

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Anmerkung

1. „Wie wenig die Slawen (von der Regierung Belcredis in Österreich 1866) befriedigt waren, zeigte ... der Jubel, mit welchem die Tschechen die (man sagt vom Polizeidirektor Stieber eingegebene) Prager Proklamation des preußischen Generals Rosenberg-Gruczynski ‚an die Bevölkerung des glorreichen Königreichs Böhmen‘ begrüßten, weil dieselbe ihnen die Erfüllung ihrer nationalen Wünsche in Aussicht stellte. Nicht das Waffenglück von Königgrätz markiert den Gipfelpunkt der harten Prüfungen, die über Österreich hereingebrochen, sondern jene Zeit, wo die Tschechenblätter unter dem Schutze des vom Hradschin wehenden schwarz-weißen Banners die Deutsch-Österreicher mit Kot bewarfen und selbst dem Grafen Belcredi offen ins Gesicht sagten, Graf Bismarck werde ihnen verleihen, was er ihnen aus Angst vor der Zentralistenklique nicht zu geben sich getraue“ (W. Rogge, Österreich von Bilagos bis zur Gegenwart, II, S. 235).


Zuletzt aktualisiert am 20. Oktober 2024