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Die moderne, internationale Sozialdemokratie hat geschichtlich zwei Wurzeln. Beide entstammen demselben Boden – der bestehenden Wirthschafts- und Eigenthumsordnung. Beide haben dasselbe Ziel – die Aufhebung der unsäglichen Leiden, welche unsere Gesellschaft über so viele ihrer Mitglieder, namentlich aber über die Schwächsten unter ihnen, die Besitzlosen, verhängt, durch Aufhebung dieser Wirthschafts- und Eigenthumsordnung. Aber beide sind völlig verschieden in ihrem Wesen.
Die eine dieser Wurzeln – der kommunistische Utopismus – entstammt den höheren Klassen. Die Träger dieses Utopismus gehören zu den geistigen Spitzen der Gesellschaft. Die andere der Wurzeln der Sozialdemokratie – der Gleichheitskommunismus [1] – entstammt den untersten Klassen der Gesellschaft, jenen, die bis vor wenigen Jahrzehnten auch geistig zu den tiefstehenden zählten. Der Utopismus verdankte sein Entstehen der tiefen Einsicht hochgebildeter Männer, die von den besonderen Interessen der Klasse, der sie entsprossen waren, nicht beherrscht wurden. Der Gleichheitskommunismus ist roh und naiv; nicht soziale Einsicht, nicht uninteressirtes Denken und Fühlen haben ihn geschaffen, sondern dringende materielle Bedürfnisse, der Kampf im Klasseninteressen.
Der bürgerliche, philanthropische, utopistische Kommunismus beginnt mit Thomas More. Der Gleichheitskommunismus des modernen kämpfenden Proletariats ist noch jünger. Seine ersten Regungen zeigen sich in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts.
Aber beide, der Utopismus wie der Gleichheitskommunismus der kapitalistischen Periode, haben ihre Vorgänger. Das Staatsideal, das Plato aufstellte, ist auf die Utopisten nicht ohne Einfluß geblieben, und die Anfänge des Gleichheitskommunismus tragen noch die Spuren des religiösen Kommunismus christlicher Sekten. Freilich ist die Beeinflussung keine sehr tiefgehende gewesen. So wie die kapitalistische Gesellschaft wesentlich verschieden ist von der antiken und der feudalen, so ist der neuere Kommunismus ein ganz anderer als der Plato’s und der des ursprünglichen oder des mittelalterlichen Christenthums. Jede dieser Arten des Kommunismus wurzelt in ihrer Zeit, entnimmt dieser ihre Kraft und ihre Ziele. Ihre Vorgänger können ihr kaum mehr sein als eine Stütze, an die sie sich lehnt, die ihr Selbstgefühl erhöht und in manchen Punkten das Auffinden von Beweisgründen erleichtert. Sie können sehr bedeutend ihr äußeres Auftreten, jedoch sehr wenig ihr innerstes Wesen beeinflussen.
Zum vollen Verständniß der Ursprünge des modernen Sozialismus ist es indeß unerläßlich, diejenigen seiner Vorgänger in Betracht zu ziehen, die sie in erkennbarer Weise beeinflußt haben – wie eben gesagt, den platonischen und den christlichen Kommunismus.
Aber deren Betrachtung ist für uns noch von einem anderen Gesichtspunkte aus von Bedeutung – und dieser Gesichtpunkt ist der wichtigere. Man kann die besonderen Eigenthümlichkeiten einer Erscheinung nur erkennen, wenn man diese mit anderen, gleichartigen Erscheinungen vergleicht. Eine derartige Vergleichung der verschiedenen Erscheinungsformen des Kommunismus hat schon oft stattgefunden, aber meist, um den entgegengesetzten Zweck zu erreichen; nicht um die besonderen Eigenthümlichkeiten des modernen Sozialismus hervortreten zu lassen, sondern um sie zu verwischen. Da werden die verschiedenen Arten des Kommunismus zusammen in den gleichen Topf geworfen, und was für die eine gilt, soll unterschiedslos für alle gelten. Diese Methode ist nicht nur sehr bequem, denn die allen Arten des Kommunismus gemeinsamen Züge liegen an der Oberfläche, sie ist auch für die Gegner der Sozialdemokratie sehr erwünscht, indem sie ihnen erlaubt, alles Mißliche und Unangenehme, was früheren Kommunisten passirt ist, als die naturnothwendige Folge der Bestrebungen des heutigen Sozialismus hinzustellen.
Um dessen Eigenart zu erkennen, ist es höchst nothwendig, die Eigenart seiner Vorgänger zu erforschen; und auf seine Daseinsberechtigung und seine Aussichten wird ein neues Licht fallen, wenn wir die Bedingungen kennen lernen, unter denen seine Vorgänger erwachsen und vergangen sind. Dies wird vornehmste Aufgabe in den ersten Abschnitten des vorliegenden Bandes bilden. Wir werden dabei genöthigt sein, neben einer Geschichte kommunistischer Ideen und Bestrebungen auch ein gut Stück allgemeiner Entwickelungsgeschichte der Gesellschaft zu geben. Wird der Weg dadurch auch etwas verschlungener und länger, so bietet er dafür auch größere Mannigfaltigkeit und gewährt die Möglichkeit weiterer Ausblicke. Und unser Interesse und unsere Sympathie für die Helden des Geistes und des Schwertes, die in den vergangenen Jahrhunderten um die Vernichtung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung gerungen, kann nur wachsen, wenn wir nicht blos ihre Ideen und ihre Thaten kennen, sondern sie auch aus ihrer Zeit begreifen lernen.
1. „Gleichheitskommmunismus“ nennt Engels „den Kommunismus, der sich ausschließlich oder vorwiegend auf die Gleichheitsforderung stützt.“ (Marx, Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln, Zürich 1885, Einleitung von Engels, Seite 5) Uns scheint dieser Ausdruck die entsprechendste Bezeichnung des urwüchsigen proletarischen Kommunismus überhaupt diesem Sinne wird er hier gebraucht.
Zuletzt aktualisiert am: 2.2.2011