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Gelegentlich der Diskussionen über den Entwurf des neuen Programms der Sozialdemokratischen Partei schlug ich in der Neuen Zeit vor, es solle ein populärer Kommentar zum Programm verfaßt werden, der dessen kurze nackte Sätze weiter ausführe, begründe und erläutere.
Aufgefordert, meinen Vorschlag selbst durchzuführen, machte ich mich ans Werk, fand aber bald, daß es geradezu unmöglich sei, in dem engen Rahmen eines Manifests, wie ich geplant, eine umfassende und gemeinverständliche Darstellung aller der Grundsätze zu geben, die für die Beurteilung unserer Partei in Frage kommen. Ich hätte mich entweder darauf beschränken müssen, sie kurz zu kennzeichnen, und dann im besten Fall einen dürftigen Abklatsch des „Kommunistischen Manifests“ liefern können, der gleich diesem zu seinem Verständnis bereits gewisser ökonomischer und historischer Vorkenntnisse bedurfte. Oder ich hätte mich auf die Erörterung einiger weniger Hauptsätze beschränken müssen, wie ich auch in einer Broschüre getan, die gleichzeitig mit vorliegendem Büchlein erscheint.
Aber diese erfüllt für sich allein nicht den Zweck, den mein Vorschlag im Auge gehabt. Neben kurzen Broschüren, welche die Massen auf unsere Bestrebungen aufmerksam machen, brauchen wir eine Art Katechismus der Sozialdemokratie, einen Leitfaden für denjenigen, der sich mit ihrem Gedankengang vertrauter machen will, sowie einen Leitfaden für den Agitator, der andere in diesen Gedankengang einführen soll. Eine derartige Schrift fehlt bisher unserer Literatur. Alle die Werke der deutschen sozialistischen Literatur, die den Umfang einer Broschüre überschreiten, sind Monographien, von denen jede nur eine oder mehrere, aber keineswegs alle Seiten des modernen Sozialismus behandelt. Allerdings ist diese Literatur bereits so umfangreich, daß sie eine allseitige Erfassung unserer Prinzipien ermöglicht. Wer z. B. das Kapital von Marx, ferner die Schriften von Engels über die Lage der arbeitenden Klasse in England, die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft und über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, dann Bebels Die Frau und der Sozialismus sowie endlich das schon erwähnte Kommunistische Manifest, dessen Gedankengang sich wie ein roter Faden durch alle diese Werke zieht [1], gelesen und begriffen hat, der muß bereits imstande sein, die Gedankenwelt des modernen Sozialismus nach allen Seiten zu erfassen.
Aber das Lesen aller dieser Bücher, namentlich des Kapital, ist nicht jedermanns Sache, und es fehlte bisher ein Zwischenglied zwischen den Broschüren und den Spezialwerken der sozialistischen Literatur, es fehlt eine populäre und dabei doch eingehendere zusammenfassende Darlegung und Begründung der gesamten Grundsätze der Sozialdemokratie.
Vorliegende Schrift macht den Versuch, diese Lücke auszufüllen. An der Hand des Erfurter Programms will sie in allgemeinverständlicher Weise jede Seite der sozialistischen Ideenwelt, die wesentlich und für das Verständnis der Sozialdemokratie von Bedeutung ist, zur Darstellung bringen. Es handelt sich hier selbstverständlich nicht um eine systematische, wissenschaftliche Grundlegung, sondern in erster Linie um das Erschließen des Verständnisses für die praktische Tätigkeit der Sozialdemokratie. Daher sind die allgemeinen grundlegenden Theorien nur kurz berührt, nur die Resultate der Forschung ohne Begründung und Auseinandersetzung gegeben worden. Ein näheres Eingehen auf diese Theorien ist Sache des Spezialstudiums. Dagegen wird eine Reihe näherliegender Einzelfragen, die augenblicklich lebhaft diskutiert werden, eingehender erörtert, so der Untergang des Kleinbetriebs, die Kartelle, die Überproduktion, das Verhältnis der Arbeiterklasse zur politischen und gewerkschaftlichen Tätigkeit usw., namentlich aber die Frage des „Zukunftsstaates“.
Im ganzen und großen bietet vorliegende Schrift schon ihrer Anlage nach nur eine Übersicht der in den grundlegenden Werken der sozialdemokratischen Literatur bereits niedergelegten Ideen. Aber eben diese umfassende Anlage machte es auch hin und wieder notwendig, Gebiete zu berühren, die von unserer Parteiliteratur noch nicht oder nicht in dem Zusammenhange wie hier behandelt worden sind. Wir hoffen daher, daß in dieser Schrift nicht nur jene Leser, die unserer Partei bisher ferne gestanden, sondern auch diejenigen, die unsere Literatur kennen, manchen neuen Gedanken finden werden.
Zum Schlusse erfülle ich die angenehme Pflicht, meinem lieben Freund und Mitarbeiter Eduard Bernstein an dieser Stelle für die Förderung zu danken, die er dieser wie mancher anderen meiner Arbeiten durch seine Ratschläge und die kritische Durchsicht des Manuskripts zuteil werden ließ.
Stuttgart, im Juni 1892
1. Die Lage der arbeitenden Klasse in England erschien allerdings zwei Jahre vor dem Kommunistischen Manifest, atmet aber schon denselben Geist wie dieses.
Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2018