Karl Kautsky

Friedrich Engels
Zu seinem siebzigsten Geburtstag

(1890)


In: Die Neue Zeit, 9. Jahrg., 1. Bd., 1890/1891, S. 225–235.
Abgedruckt in Mohr und General, Erinnerungen an Marx und Engels, 2.  Auflage, Berlin: Dietz Verlag, 1965, S. 515–40.
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Am 28. November dieses Jahres wird Friedrich Engels siebzig Jahre alt. In kein glorreicheres Jahr hätte sein siebzigster Geburtstag fallen können: Der Winter brachte den 20. Februar, der Frühling den 1. Mai, der Herbst die verschiedenen Kongresse, die die Macht und Einheitlichkeit des sozialistischen Gedankens so glänzend dokumentierten und ihm neue Gebiete eröffneten. – Erfüllt jeden von uns Jüngern schon ein Rückblick auf die vielen Siege, die uns die ersten 10 Monate des Jahres gebracht, mit stolzester Freude, welche Genugtuung darf erst unser Veteran empfinden, der seit fünf Jahrzehnten am Kampfe teilnimmt, der an der Wiege der Sozialdemokratie gestanden hat und der einer der Schöpfer der Grundlagen gewesen ist, auf denen sie erstarkte und ihre Siege erfocht.

Aber nicht bloß Siege hat Engels in seiner langen Laufbahn als Parteimann mitgemacht, er hat auch Niederlagen der Sache erlebt, für die er kämpfte: den Niedergang des Chartismus, das Scheitern der Revolutionen von 1848 und 1849, die Niederschlagung der Kommune von Paris, den Zerfall der „Internationale“, das Sozialistengesetz in Deutschland: Schläge, so wuchtig, daß, sooft einer derselben das Proletariat traf, nicht nur seine Gegner aufjubelten in der Erwartung, es für immer niedergeworfen zu sehen, sondern auch die schwachmütigeren seiner Freunde die Courage verloren und meinten, nun sei alles aus. Engels gehörte zu denen, die nie die Flinte ins Korn warfen, und er hatte stets die Genugtuung, die Sache, die er vertrat, nach der Niederlage sich mächtiger und herrlicher als je zuvor wieder erheben zu sehen, gleich dem Riesen Antäus, dem aus jeder Niederwerfung neue Kräfte erwuchsen. Die Anfänge der wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit von Friedrich Engels fallen zusammen mit den Anfängen der Theorien und Bestrebungen, aus denen die moderne internationale Sozialdemokratie erstanden ist, und von da an sind seine Geschicke unzertrennlich mit ihren Geschicken verbunden gewesen. Würde Engels seine Memoiren schreiben, sie würden zur Geschichte unserer Partei werden; außer Marx hat niemand die internationale Sozialdemokratie mehr beeinflußt als er.

Man könnte vielleicht meinen, die Annahme eines solchen Einflusses widerspreche eben der Theorie, die Marx und Engels eigentümlich ist, der materialistischen Geschichtsauffassung. Das ist jedoch nicht der Fall. Diese Auffassung sagt wohl, daß die Entwicklung der Gesellschaft durch bestimmte materielle, vom Wollen des einzelnen unabhängige Ursachen bedingt wird, sie sagt jedoch nicht, daß sie selbsttätig, ohne Eingreifen der einzelnen vor sich gehe. Die Gesellschaft ist kein Organismus in physiologischem Sinne, sondern bloß eine Vereinigung von Personen, und jede Veränderung in ihr muß durch Personen bewirkt werden. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zum Beispiel geht nach bestimmten Gesetzen vor sich, aber nicht von selbst: sie setzt voraus, daß die Erfinder immer wieder neue technische Fortschritte hervorrufen, daß die Kapitalisten schachern und spekulieren usw. Die soziale Entwicklung ist nicht von der Tätigkeit der einzelnen unabhängig, sondern bloß von dem Wollen der einzelnen. Wenn jemand morgen eine Maschine erfände, die etwa neun Zehntel aller Bergarbeiter überflüssig machte, so würde dieser einzelne die Geschicke der Gesellschaft sicher aufs höchste beeinflussen. Aber welche Absichten er bei Erfindung dieser Maschine hegt, ist für die gesellschaftliche Entwicklung höchst gleichgültig. Die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung ist durch die materiellen Verhältnisse unverrückbar gegeben. Aber die Art und Weise, wie sie vor sich geht, und die Schnelligkeit ihres Fortschrittes ist bis zu einem gewissen Grade von der Tätigkeit der einzelnen abhängig.

Es sind aber die Menschen nicht gleich. Schon von Natur aus sind sie verschieden begabt; diese Verschiedenheiten verschwinden jedoch in dem Klassenstaat vor den Ungleichheiten, die die Verschiedenheit der sozialen Stellung mit sich bringt. Je größer die Macht oder der Einfluß des einzelnen im Staat und in der Gesellschaft, desto größer auch seine Kraft, durch sein Tun (nicht durch sein Wollen) die gesellschaftliche Entwicklung zu fördern oder zu hemmen, die Leiden und Opfer, die sie heischt, zu mindern oder zu mehren. Die einen beeinflussen die historische Entwicklung durch die Machtmittel, die ihr Amt ihnen verleiht, sei es, daß sie hinein geboren oder gewählt werden. Andere wirken auf sie vermöge ihres Reichtums. Es gibt aber auch Menschen, die großen Einfluß erringen durch ihre besondere, die 'durchschnittliche weit überragende Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse oder durch ihre besondere Fähigkeit, zerstreute, isolierte Kräfte zu einer Gesamtkraft zu vereinigen. Verfügen diese Menschen auch selbst über keine Machtmittel, so können sie doch die Entwicklung sehr beschleunigen und ihre Opfer verringern, wenn sie von Irrwegen ablenken, von dem Anstreben unerreichbarer oder nutzloser Ziele abhalten, wenn sie die Kraft einer in der Richtung der Entwicklung vorwärtsdrängenden Bewegung vermehren, indem sie ihr Stetigkeit, Zielbewußtsein und Einheit verleihen.

Je größer die Klassengegensätze in einer Gesellschaft, je größer infolgedessen die Überlegenheit an Macht, Reichtum und Wissen einzelner über die Masse, desto mehr muß die Geschichte der Entwicklung dieser Gesellschaft die Geschichte des Wirkens einzelner Personen sein – eines Wirkens, das freilich nur verständlich wird, wenn man seine materiellen Grundlagen kennt. Noch nie sind die Klassengegensätze so schroff gewesen wie in diesem Jahrhundert, noch nie vorher sind so große Massen dem Einfluß und der Macht einzelner unterlegen: vielleicht noch nie haben daher einzelne eine so wichtige Rolle gespielt wie in der Geschichte unserer Zeit. Ein Napoleon, ein Rothschild, ein Darwin, ein Marx – so sonderbar die Zusammenstellung klingen mag – jeder von ihnen hat unleugbar das Gepräge dieser Zeit beeinflußt – der eine geräuschvoll, der andere still, aber nicht weniger tief.

Aber noch in anderer Weise sind die einzelnen in der Geschichte hervorragenden Persönlichkeiten für den Historiker von Bedeutung: nicht bloß als wirkende Kräfte, sondern auch als Symptome des Zustandes der Massen und Klassen, auf die sie wirkten. Aus den Personen, die in einer Klasse oder Partei sich wohl fühlen, die in ihr zur Geltung kommen, kann man auf die betreffende Klasse oder Partei selbst schließen. Napoleon I., Napoleon III., Boulanger – diese Aufeinanderfolge der Heroen des französischen Philisters charakterisiert dessen moralischen und politischen Niedergang im Laufe dieses Jahrhunderts. Der Einfluß Bismarcks ist ebenso charakteristisch für die deutsche Bourgeoisie wie der von Marx und Engels für das deutsche Proletariat. Wenn unsere Gegner unsere Führer beschimpfen, so wissen sie, warum sie das tun: in den einzelnen wollen sie die Partei treffen, welche diese an ihre Spitze berufen hat.

Aber das Proletariat darf stolz sein auf seine Vorkämpfer: ihre Tüchtigkeit bezeugt der Welt die seine. Wie ist aber die Individualität jedes einzelnen zu erklären? Auch sie ist im Grunde ein Produkt der materiellen Verhältnisse, ebenso wie die Gesellschaft; die Tendenzen und Leistungen des einzelnen werden bestimmt durch seine physiologischen Anlagen und die Einwirkungen seiner Umgebung, seines „milieu“. Dies Milieu selbst wird wieder gebildet von Personen, die teils direkt, teils durch ihre Schriften das Individuum beeinflussen, sowie von natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Beeinflußt das Individuum bis zu einem gewissen Grade die Gesellschaft, so wird es auch bis zu einem gewissen sehr hohen Grade von ihr beeinflußt. Auch bei Engels, ebenso wie bei Marx, läßt sich der Einfluß ihres Milieus wenigstens in ihren Anfängen verfolgen.

Engels kam in Barmen als Sohn eines Fabrikanten zur Welt. Erst kurz vorher waren die Rheinlande preußisch geworden (1815), nachdem die sie bildenden Gebiete zwanzig Jahre lang tatsächlich, der größte Teil derselben eine Zeitlang auch formell französisch gewesen. In der ganzen Provinz herrschten dieselben französischen Sympathien, dieselben Antipathien gegen die neuen Herren, die preußischen Junker, wie etwa heute im Elsaß. Die Traditionen der großen französischen Revolution waren da noch in voller Kraft und ihnen verdankte wohl Engels die Keime seines Verständnisses und seiner Begeisterung für die Revolution. Schon früh zeigte sich in ihm ein revolutionärer Enthusiasmus, der ihm eine Beamtenkarriere unerträglich erscheinen ließ. Er wurde Kaufmann (ein Jahr vor dem Abiturientenexamen), aber ohne in seinem Beruf aufzugehen. Sowohl in Bremen als Volontär (seit 1838), wie auch später in Berlin als Einjährigfreiwilliger und endlich in Manchester, wo er von 1842-1844 in einem Fabrikunternehmen arbeitete, an dem sein Vater Teilhaber war – betrieb er philosophische Studien und machte sich mit Hegel und Feuerbach vertraut. In diesem philosophischen Drang erwies er sich als echter Deutscher seiner Zeit. Zu den Einflüssen Deutschlands und Frankreichs gesellten sich in Manchester die Englands. Hatte ihm die Heimat den Sinn für die politische und philosophische Revolution geschärft, so erschloß sich ihm im Mutterlande der kapitalistischen Produktionsweise das Verständnis für die industrielle Revolution. In England lernte er die höchste Form des utopistischen Sozialismus kennen, den Owenismus, aber auch die höchste Form der damaligen Arbeiterbewegung, den Chartismus.

Wenn der junge Engels sich nun mit Feuereifer dem Sozialismus zuwandte, so stand er damit nicht allein da unter seinen Klassengenossen. Im Gegenteil, der Sozialismus war damals eine rein bürgerliche Bewegung; die Sozialisten waren ehrliche Menschenfreunde aus der Bourgeoisie, denen die Mißstände des Fabriksystems tiefen Abscheu vor demselben einflößten und die erkannten, daß deren Beseitigung ohne eine tiefgehende gesellschaftliche Änderung nicht möglich sei. Aber sie verzweifelten an der Möglichkeit, diese Änderung anders als durch Gewinnung der oberen Klassen dafür durchsetzen zu können. Sie hielten es für unmöglich, daß die so verkommene Arbeiterklasse sich selbst befreien könne. Sie standen der Arbeiterbewegung nicht nur mißtrauisch, sondern geradezu feindselig gegenüber, weil diese die Gewinnung von Proselyten für den Sozialismus in den Reihen der Bourgeoisie erschwerte. Aber in Engels war der revolutionäre Sinn viel zu kräftig, als daß er nicht hätte einer revolutionären Massenbewegung sympathisch gegenüberstehen müssen. Er beteiligte sich an beiden, an der Arbeiterbewegung wie an der sozialistischen Bewegung, und zwar nicht bloß als Zuschauer. Er wurde Mitarbeiter des Northern Star (Nordstern), des Parteiorgans der Chartisten, wie des New Moral World (Die neue sittliche Welt) von Robert Owen. Durch diese praktische Verbindung von Sozialismus und Arbeiterbewegung tat er den ersten großen Schritt vom bürgerlich-philanthropischen, utopistischen Sozialismus ebenso wie von der auf bloße Verbesserungen der Lage der Arbeiterklasse im Rahmen der bestehenden Produktionsweise sich beschränkenden Arbeiterbewegung zum proletarischen wissenschaftlichen Sozialismus. Lehrte ihn sein französisch-revolutionärer Geist die Einseitigkeiten des Sozialismus wie der Arbeiterbewegung Englands praktisch überwinden, so ermöglichte ihm seine Vertrautheit mit der Philosophie Deutschlands auch die theoretische Überwindung dieser Einseitigkeiten. Aber er blieb bei der Kritik nicht stehen. Er studierte die englischen Arbeiterverhältnisse, wozu ihm seine Stellung in Manchester eine treffliche Gelegenheit bot, und zwar studierte er, bezeichnenderweise, nicht bloß die augenblickliche Lage der Arbeiterklasse, sondern auch ihre historische Entwicklung und ihren Zusammenhang mit dem gesamten Mechanismus der Produktion, und so kam er dahin, bei seiner Untersuchung der Arbeiterverhältnisse nicht nur das Elend und die Verkommenheit des Proletariats zu sehen, sondern auch die Wurzeln seiner Erhebung und Befreiung zu finden. Die treibenden Kräfte, die zur Emanzipation des Proletariats führten, waren ihm nicht mehr das Mitleid und die Unterstützung der Bourgeoisie, sondern die ökonomische Entwicklung und der Klassenkampf des Proletariats.

Das wurde zum ersten Mal klar ausgesprochen in der Lage der arbeitenden Klasse in England, die 1845 erschien. Aber schon mehr als ein Jahr vorher schrieb Engels einen bemerkenswerten Artikel, betitelt Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, der 1844 in den von Marx und Ruge herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbüchern erschien. Dieser Artikel ist wichtig, weil hier zuerst der Versuch gemacht wird, den Sozialismus auf die politische Ökonomie zu begründen. Er ist der erste Schritt zum wissenschaftlichen Sozialismus und als solcher von historischer Bedeutung: Mit ihm hat sich unser Veteran seine ersten Sporen als sozialistischer Forscher und Denker verdient... Wohl merkt man dem Artikel die Jugend des Verfassers wie der Sache an, die er vertritt. Kaum mehr als 23 Jahre alt, ohne Vorgänger oder Berater, auf den er sich hätte stützen können, bereits erfüllt von seinen neuen Anschauungen, ohne mit den bisherigen völlig bewußt gebrochen zu haben, kühn und phantasievoll, aber noch ohne allseitige Durchbildung seiner theoretischen Grundlage, stellt er mitunter Behauptungen auf, die unhaltbar sind, und verhüllt die Keime des wissenschaftlichen Sozialismus, die er entwickelt, durch Anklänge an die Formen des Sozialismus, die er in England vorgefunden.

Und doch ist das Ganze eine Arbeit, die auch heute noch mehr als bloß historischen Wert hat. Der Genuß, den ihre Lektüre gewährt, beruht nicht allein auf der Frische, Klarheit und Kraft der Darstellung, sondern auch auf der Fülle wichtiger Beobachtungen und Darlegungen, die für ihre Zeit neue Wahrheiten enthielten; Wahrheiten, die in einer auch für die meisten von uns noch neuen, anregenden Form vorgetragen werden. Aber noch aus einem anderen Grunde ist der in Rede stehende Artikel bemerkenswert: Er ist die einzige bedeutende Arbeit aus der Zeit von Engels’ geistiger Isolierung, aus der Zeit, in der der Einfluß von Marx auf ihn sich noch nicht geltend gemacht hatte. Gerade dieser Artikel aber wurde die Veranlassung zur Annäherung der beiden Männer, die für die Entwicklung des Sozialismus von so weittragendem Einfluß werden sollte. Zwischen Engels, dem Mitarbeiter, und Marx, dem Redakteur der Deutsch-Französischen Jahrbücher, entspann sich ein lebhafter Briefwechsel. Die beiden einander so verwandten Naturen fanden sich bald. Unabhängig voneinander waren beide zu Anschauungen gekommen,die auffallend miteinander übereinstimmten. Im wechselseitigen Verkehr sollte diese Übereinstimmung eine so vollkommene werden, daß wir heute, trotzdem jeder der beiden seine Individualität bewahrte, eigentlich nur von einer Marx-Engelsschen Theorie und Methode reden können, ohne daß wir imstande wären, auseinanderzuhalten, welchen Anteil der eine oder andere daran hat.

Im Laufe des Jahres 1844 verließ Engels Manchester, um nach Deutschland zurückzukehren. Er ging über Paris, wo er Marx besuchte. Im persönlichen Verkehr näherten sich die beiden so rasch, daß sie schon bei dieser Gelegenheit gemeinsam ein Buch verfaßten, in dem ihr neuer, dialektischer Materialismus seinen ersten Ausdruck fand. Es war dies die Heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik, gegen Bruno Bauer und Konsorten, die, schon 1844 geschrieben, erst 1845 in Frankfurt erschien. In seiner Heimat angelangt, machte sich Engels an die Verarbeitung des in Manchester gesammelten Materials, an die Schilderung des Fabriksystems, die er am Schlusse seiner Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie in Aussicht stellte. Das Ergebnis seiner Arbeit, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, die 1845 in Leipzig erschien, bedeutet bereits einen großen Fortschritt, verglichen mit dem genannten Artikel. Zeigt sich auch in der „Lage der arbeitenden Klasse“ der Gärungsprozeß noch nicht völlig abgeschlossen, in dem sich die Anschauungen des jungen Engels damals befanden, so ist das Werk doch ein klassisches, der Vorläufer der Schilderungen des englischen Fabriksystems, die Marx später in seinem „Kapital“ gab. „Auf die Periode vom Beginn der großen Industrie in England bis 1845“, sagt Marx in diesem Buch, „gehe ich nur hier und da ein und verweise den Leser darüber auf Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Friedrich Engels, Leipzig 1845. Wie tief Engels den Geist der kapitalistischen Produktionsweise begriff, zeigen die Factory Reports, Reports on Mines usw., die seit 1845 erschienen sind, und wie bewundrungswürdig er die Zustände im Detail malte, zeigt der oberflächlichste Vergleich seiner Schrift mit den 18 bis 20 Jahre später veröffentlichten offiziellen Reports der Children’s Employment Commission.“ (Kapital, I, 2. Aufl., S. 232) Im Verein mit den Schilderungen des Kapitals ist die Lage der arbeitenden Klasse die Grundlage der großen und täglich mehr, namentlich in Deutschland, anschwellenden Literatur der deskriptiven Nationalökonomie geworden. Sie ist aber auch das erste Werk, in dem der wissenschaftliche Sozialismus völlig bewußt und klar zum Ausdruck gekommen ist.

Während Engels die Lage der arbeitenden Klasse vollendete, überzeugte er sich auch, daß ein dauernder Aufenthalt in dem pietistischen Barmen, im Schoße einer strenggläubigen und hochkonservativen Familie mit seinen Ansichten unverträglich sei. Es drängte ihn wieder zu Marx. Er wandte sich nach Brüssel, wohin Marx sich begeben, nachdem ihn die französische Regierung auf Veranlassung der preußischen ausgewiesen. Und nun entfalteten beide zusammen eine rege Tätigkeit, sowohl auf theoretischem wie praktischem Gebiet. Sie vertieften ihre neuen Theorien, bauten sie aus und vollendeten die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des von ihnen begründeten wissenschaftlichen Sozialismus. Dabei vergruben sie sich jedoch nicht in die Studierstube. Hand in Hand mit dem Ausbau ihrer wissenschaftlichen Grundlage ging ihre praktische Tätigkeit, ihr Bestreben, das Proletariat zum Selbstbewußtsein über den Inhalt und das Ziel seiner Kämpfe zu bringen durch Propaganda, aber auch, wo es anging, durch energische Teilnahme an diesen Kämpfen. Am wichtigsten wurde ihre Verbindung mit dem internationalen Bund der Gerechten, den sie zum Vorläufer der „Internationale“ machten. Im Jahre 1847 war ihr Einfluß in sozialistischen Kreisen schon so groß, daß sie aufgefordert wurden, dem Bund beizutreten, unter der Versicherung, daß man bereit sei, den konspiratorischen Charakter fallenzulassen, den er bis dahin gehabt, und die neuen theoretischen Gesichtspunkte anzunehmen. Beide folgten der Aufforderung. Engels, der sich von Brüssel nach Paris begeben, vertrat die dortigen Mitglieder auf dem ersten Bundeskongreß, der im Sommer 1847 stattfand und auf dem der Bund nicht bloß seinen neuen Namen erhielt – Bund der Kommunisten – unter dem er historisch bedeutend geworden, sondern auch eine neue Organisation. Aus einem Verschwörungsbund wurde eine Propagandagesellschaft. Schon Ende November desselben Jahres fand in London ein zweiter Kongreß statt, auf dem neben Engels auch Marx erschien. Derselbe ist vor allem dadurch wichtig geworden, daß er die beiden beauftragte, das Manifest des Bundes auszuarbeiten. Die Folge dieses Auftrags war die Abfassung des Kommunistischen Manifests. Eine Charakterisierung desselben ist überflüssig. Wir dürfen erwarten, daß die weitaus größte Zahl unserer Leser es kennt; denjenigen, denen es noch unbekannt geblieben sein sollte, können wir nur raten, sich auf das schleunigste damit vertraut zu machen. Man hat das Kapital von Marx die Bibel der Arbeiterklasse genannt. Wenn man diesen etwas nach der Kirche schielenden Ausdruck gebrauchen will, dann paßt er vielleicht eher auf das Kommunistische Manifest. Die späteren Werke von Marx und Engels sind vielfach eingehender und umfangreicher; sie erschöpfen manchen Gegenstand; aber jedes von ihnen behandelt nur einige Seiten der Grundlagen der modernen Arbeiterbewegung. Das Kommunistische Manifest umfaßt sie alle. Es ist die wahre Quintessenz des Sozialismus, es bildet heute noch, ja heute mehr als je das wirkliche Programm der internationalen Sozialdemokratie. Es gibt vielleicht kein glänzenderes Zeugnis für die Unerschütterlichkeit der theoretischen Grundlagen der Sozialdemokratie, aber auch für die Gewissenhaftigkeit und den Weitblick ihrer Gründer, als die Tatsache, daß der siebzigjährige Engels im wesentlichen nichts zurückzunehmen hat von dem, was der siebenundzwanzigjährige im Verein mit dem neunundzwanzigjährigen Marx geschrieben. Manche Stelle ist gegenstandslos geworden durch den Wechsel der Verhältnisse; mancher praktische Vorschlag ist durch die ökonomische und politische Entwicklung der letzten vierzig Jahre und deren Erfahrungen überholt. Aber in der Darlegung der Zwecke und Tendenzen der Kommunisten und ihrer wissenschaftlichen Begründung ist im wesentlichen nicht das Geringste zu ändern, und kaum hie und da etwas im Ausdruck, so präzise und genau ist die Form. Und doch liegen zwischen der Jetztzeit und der Abfassung des Manifestes über vierzig Jahre gewaltiger Revolutionen, politischer, ökonomischer, technischer und wissenschaftlicher Art.

Kaum war das Manifest erschienen, da brach die Revolution aus, zuerst in Paris, dann in Deutschland. Mit Feuereifer warfen sich Marx und Engels in die Bewegung, kehrten nach Deutschland zurück und gründeten in Köln ein tägliches Blatt, die Neue Rheinische Zeitung, damals das einzige Blatt Deutschlands, das den sozialdemokratischen, oder wie man zu jener Zeit sagte, den kommunistischen Standpunkt vertrat. Marx und Engels machten zur Tat, was sie im Kommunistischen Manifest erklärt: „In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Klembürgerei!“ Aber unter der Unterstützung der Bourgeoisie verstanden sie keine Schwanzpolitik. Sie trieben sie vorwärts, übten aber gleichzeitig an ihr Kritik und wandten sich entschieden gegen sie, sobald sie Miene machte, die Revolution zu verraten. Und das geschah sehr bald. Die Reaktion siegte mit Hilfe der Bourgeoisie, der vor dem revolutionären Proletariat bange geworden war.

An verschiedenen Orten erhoben sich die Arbeiter, um der hereinbrechenden Reaktion gewaltsamen Widerstand zu leisten, so auch in der Rheinprovinz. In den Hauptorten des bergisch-märkischen Industriebezirks, Elberfeld, Solingen, Düsseldorf, fanden im Mai 1849 Aufstände statt. Engels eilte auf die Nachricht davon sofort von Köln nach Elberfeld, aber nur um zu sehen, wie die Erhebung zusammenbrach. Die Arbeiter allein waren damals nicht imstande, sich zu halten, wenn Bourgeoisie und Kleinbürgertum sie im Stiche ließen. Dem Scheitern der aufständischen Bewegung folgte am 19. Mai das Verbot der Neuen Rheinischen Zeitung und die Ausweisung von Marx. Auch Engels musste, wegen seiner Teilnahme am rheinländischen Aufstand verfolgt, Köln verlassen, wo er sich eine Zeitlang verborgen gehalten. Er ging in die Pfalz, die sich neben Baden zum Schutze der Reichsverfassung erhoben, und schloß sich einem Freischarenkorps an, in dem er die Stelle eines Adjutanten des Kommandanten Willich bekleidete. Er nahm an drei Gefechten teil sowie an dem Treffen an der Murg, in dem 60.000 Preußen und Reichstruppen dank der Verletzung der Neutralität Württembergs das schlecht geführte Revolutionsheer, das 13.000 Mann stark war, schlugen und so das Schicksal des badischen Aufstandes entschieden. Die geschlagene Armee wandte sich der Schweiz zu.

Engels war einer der Letzten, die auf Schweizer Gebiet übertraten, nachdem alles verloren war, am 12. Juli 1849. Er blieb einige Monate in der Alpenrepublik, da sich ihm aber dort keine Aussicht auf befriedigende Tätigkeit bot, begab er sich nach England, und zwar nahm er, da der Weg über Frankreich für deutsche Flüchtlinge gefährlich geworden war, den Weg über Genua, von wo er auf einem Segelschiff über Gibraltar nach London ging. Dort traf er Marx und neben ihm die Mehrzahl der Häupter der deutschen Revolution, die nichts anderes sannen als eine Erneuerung der revolutionären Erhebung.

Marx und Engels dagegen erkannten gar bald, daß von einer wirklichen Revolution für längere Zeit keine Rede mehr sein könne, und sie traten offen gegen die chimärischen Illusionen und bombastischen Manifestationen der Emigranten auf in einer politisch-ökonomischen Revue, der sie ebenfalls den Titel Neue Rheinische Zeitung beilegten. Geächtet in der Heimat, erregten sie durch diese Haltung die lebhafteste Entrüstung der Geächteten im Exil. Sie wurden von der Demokratie ebenso geboykottet wie von den Regierungen. Alle Zeitungen verschlossen sich ihnen. Für längere Zeit war es nicht bloß mit jeder politischen, sondern auch literarischen Tätigkeit, die auf Deutschland berechnet war, für sie zu Ende. Dazu kamen materielle Sorgen: eine Zeit angestrengter Erwerbstätigkeit, aber auch eifriger Studien begann. Marx zog sich in das Britische Museum zurück, Engels ging 1850 nach Manchester, wurde wieder Kommis in der Fabrik, in der sein Vater Teilhaber war und 1864 Associé. Zwanzig Jahre lang blieb er von Marx getrennt; wie wenig der geistige Verkehr der beiden dadurch unterbrochen wurde, haben unsere Leser erst kürzlich aus dem Artikel von Lafargue über Karl Marx (Neue Zeit, LX, S. 39) gesehen. Die ökonomischen und historischen Studien, die die Revolution unterbrochen, setzte Engels jetzt in Manchester fort. In den Vordergrund aber traten bei ihm die Militärwissenschaften, deren Notwendigkeit ihm die Kampagne von 1849 gezeigt, dann vergleichende Sprachwissenschaft, die von jeher sein Lieblingsstudium gewesen, und Naturwissenschaften. 1859 veröffentlichte er anonym eine militärische Broschüre, Po und Rhein, worin er einerseits der österreichischen Theorie entgegentrat, der Rhein müsse am Po verteidigt werden, anderseits den „kleindeutschen“ preußischen Liberalen, die der Niederlage Österreichs entgegenjubelten und nicht sahen, daß Bonaparte der gemeinsame Feind war. Eine zweite Broschüre ähnlichen Inhalts, Savoyen, Nizza und der Rhein, folgte nach dem Krieg. Während des preußischen Militärkonflikts gab er eine weitere Broschüre heraus, Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei (1865), worin er die Widersprüche und Halbheiten der Liberalen und Fortschrittler geißelte und aussprach, eine wirkliche Lösung der Militärfrage wie aller anderen ernstlichen Fragen könne nur durch die Arbeiterpartei erfolgen. Während des Deutsch-Französischen Krieges schrieb er eine Reihe militärisch-kritischer Artikel an die Londoner PallMall Gazette, worin er unter anderem so glücklich war, bereits am 25. August die Schlacht von Sedan (2. September) und den Untergang der französischen Armee vorherzusagen.

Im Jahre 1869 war Engels imstande, sich von seinem Geschäfte zurückziehen zu können. Selbstverständlich benutzte er die gewonnene Freiheit, um sofort nach London zu übersiedeln und nunmehr mit Marx zusammen seine ganze Kraft dem aufstrebenden Proletariat zu widmen.

Und Marx bedurfte seiner bereits dringend. Die Arbeiterbewegung war seit Anfang der sechziger Jahre in allen modernen Staaten mächtig angeschwollen; damit wuchsen auch zusehends der Umfang, die Bedeutung, die Aufgaben der Internationalen Arbeiterassoziation, die, 1864 gegründet, Einheitlichkeit und Klarheit in die proletarischen Bewegungen der verschiedenen Länder bringen sollte. Der Kopf der Internationale aber war Marx. Er erlag schließlich fast der Last, die ganze internationale Arbeiterbewegung zu verfolgen und in all den zahllosen Klassenkämpfen, die sich entspannen, zu raten und Hilfe zu schaffen. Seine wissenschaftliche Tätigkeit drohte darüber völlig in den Hintergrund zu treten: Man kann wohl sagen, ohne die Internationale wäre Marx mit dem „Kapital“ fertig geworden. In dieser Situation war ihm Engels ein willkommener Helfer. Dieser kam eben recht. Denn der Deutsch-Französische Krieg entfesselte Kämpfe und schuf Verhältnisse, die die Kraft der Internationale aufs äußerste anspannten. Engels wurde Mitglied des Generalrats der Internationale, 1871 korrespondierender Sekretär für Belgien und Spanien, später für Italien und Spanien. Mit diesem Hinweis müssen wir uns begnügen. Die Tätigkeit von Engels in der Internationale eingehend zu schildern, würde nicht bloß den uns zugemessenen Raum weitaus übersteigen, sondern auch ein Studium der Protokolle und Korrespondenzen des Generalrats voraussetzen, die der Öffentlichkeit heute noch nicht vorliegen. Mit dem Aufhören der Internationale endete die praktische, unmittelbare Parteitätigkeit von Engels sowohl wie von Marx. Aber sie blieben nach wie vor die Berater des kämpfenden Proletariats aller Länder. Es ergab sich das ganz von selbst. Bei niemandem andern fand sich in demselben Maße jene seltene Vereinigung umfassender wissenschaftlicher Erkenntnis mit der reichen praktischen Erfahrung einer fast halbhundertjährigen Tätigkeit in der Arbeiterbewegung; jene genaue Kenntnis der Zustände und Eigentümlichkeiten jeder der modernen Nationen, die eine Arbeiterbewegung aufzuweisen haben, eine Kenntnis, zu der sie durch eigene Anschauung in den wichtigsten Industriestaaten den Grund gelegt, die sie durch eingehende Studien und steten, teils brieflichen, teils mündlichen Verkehr mit den hervorragendsten Sozialisten aller Nationen erweitert hatten und immer noch erweiterten. So waren sie besser imstande als irgend jemand anderer, in den jeweiligen politischen und ökonomischen Erscheinungen eines Landes das Wesentliche vom Nebensächlichen, das Dauernde vom Vorübergehenden zu scheiden und den Standpunkt zu erkennen, den die sozialistischen Arbeiter der verschiedenen Länder diesen Erscheinungen gegenüber einzunehmen hatten. Niemand besaß in größerem Maße das Vertrauen der einsichtigen sozialistischen Elemente aller Länder; kein Wunder, daß diese in kritischen Momenten sich stets gern an die beiden Veteranen in London um Rat gewendet haben. Und nie haben ihn diese verweigert. Sie sprachen frank und frei ihre Überzeugung aus, ohne Rückhalt, aber auch ohne sich aufdrängen zu wollen. Kein Proletarier, keiner, dem es um die Sache der Proletarier ernst war, hat sich je vergebens an die beiden gewendet. Zahllose Briefe in verschiedenen Sprachen legen Zeugnis ab von ihrer unermüdlichen Tätigkeit als Berater des internationalen Proletariats.

Aber Engels beschränkte sich nicht auf Briefe. Wenn neue Fragen auftauchten, denen gegenüber es Stellung zu nehmen galt; wenn Theorien und Anschauungen sich breitzumachen suchten, die die Einheitlichkeit und das Zielbewußtsein der Arbeiterbewegung zu stören drohten, dann äußerte er sich nicht bloß in privaten Briefen, sondern auch in der Öffentlichkeit, in Artikeln und Broschüren. Indem er diese Seite der Vertretung der gemeinsam gefundenen Theorie ganz auf sich nahm, gab er Marx Zeit, sie systematisch für die wissenschaftliche Welt weiter auszuarbeiten. Dieser Arbeitsteilung ist es wohl zuzuschreiben, daß die Ergebnisse der Engelsschen Forschungen in, meist kleinen, Gelegenheitsschriften zerstreut sich finden – in Arbeiten, die so zahlreich sind, daß uns der Baum gebricht, auch nur die wichtigeren derselben hier zu charakterisieren. Wir können uns das wohl um so eher ersparen, als, ungleich den von uns bisher genannten (abgesehen vom Kommunistischen Manifest) die Mehrzahl der bedeutenderen Arbeiten von Engels aus der Zeit nach 1870 noch im Buchhandel zu haben ist. Trotzdem sie nur Gelegenheitsschriften sind, enthalten sie doch so viel von bleibendem Wert, eine solche Fülle positiver Aufklärung, daß von den meisten derselben wiederholte Auflagen notwendig geworden sind. Die Verbote durch das Sozialistengesetz wirkten gar nicht störend darauf. Auch die hervorragendste Schrift von Engels aus der Zeit nach 1870, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, ein anscheinend rein polemisches Buch, das aber in Wirklichkeit die wichtigsten Punkte des gesamten modernen Wissens vom Standpunkte der Marx-Engelsschen Dialektik behandelt, hat unter dem Sozialistengesetz eine Neuauflage erlebt.

Die Zeit von 1870 an versprach für Engels die schönste seines Lebens zu werden: frei von materiellen Sorgen, konnte er ganz seinem Freunde leben und der Bewegung, die auf den von Marx und ihm gelegten Grundlagen so kräftig und unwiderstehlich sich entwickelte. Doch dies sonnige Leben sollte nicht zu lange dauern. Der erste schwere Schlag, der Engels traf, war der Tod seiner Gattin, einer, nach allem, was wir über sie gehört, ebenso charaktervollen wie liebenswürdigen Frau, an der er mit großer Zärtlichkeit hing. Wenige Jahre darauf folgte die Frau des Freundes – dann dessen älteste Tochter – endlich der Freund selbst. Und erst vor kurzem hat ihn ein neuer schmerzlicher Verlust getroffen: Am 4. d. Mts. ist Fräulein Helene Demuth gestorben, eine ausgezeichnete Frau, die unsere Leser schon aus der trefflichen und in keiner Weise übertriebenen Schilderung Lafargues über Karl Marx und sein häusliches Leben kennen. Nach dem Tode von Marx hatte sie ihre ganze mütterliche Sorgfalt dem Engelsschen Hause zugewendet und war durch ihr reiches Gemüt, ihre liebenswürdige Heiterkeit, ihre hingebende Selbstlosigkeit für Engels nicht bloß eine Freundin, sondern eine wirkliche Stütze gewesen. Der siebzigste Geburtstag ist für unseren greisen Vorkämpfer kein fröhliches Fest: er begeht ihn an einem frischen Grabe.

Was ihn bisher diese schweren Verluste, von denen jeder in seiner Art ein unersetzlicher ist, immer wieder überwinden ließ, was ihm immer wieder neuen Lebensmut und Frische einflößte, das war neben seiner persönlichen Energie die kraftvolle Entfaltung unserer Partei und die Bedeutung der Arbeiten, die auf seinen Schultern liegen und die er auf keine jüngeren überwälzen kann. Die Aufgaben, die er selbst sich gestellt und diejenigen, die der Tod seines Mitarbeiters ihm zugewiesen, kann nur er allein lösen. Als die wichtigste derselben erscheint ihm natürlich die Vollführung des Marxschen Nachlasses. Seit dem Jahre 1885 ist darin anscheinend eine Pause eingetreten, die schon manchen ungeduldig gemacht hat. Aber man bedenke, daß der dritte Band des Kapitals, bereits äußerlich sehr umfangreich – er wird ungefähr tausend Druckseiten umfassen – eine Reihe der schwierigsten Probleme behandelt. Das Kapital ist aber kein ephemeres Werk, wie jene Dutzend „Systeme“ unserer Professoren, die rasch verfertigt, aber noch rascher vergessen werden. Die Entdeckung der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise durch Marx ist in ihrer Art wohl eine ebenso unvergängliche wissenschaftliche Leistung wie die Entdeckung der Bewegungsgesetze der Gestirne durch Kepler und Newton. Dauerndes in der Wissenschaft zu schaffen ist jedoch nicht möglich ohne jenes gründliche, umfassende und gewissenhafte Arbeiten, das nicht nur Marx, sondern auch Engels eigen ist und das beide gehindert hat, ihre Produkte so rasch zu liefern, als die Nachfrage begehrt. Wohl hat Engels in bezug auf den dritten Band im wesentlichen nur noch die Redaktion der vorhandenen Manuskripte zu besorgen, aber es gibt vielleicht keine schwierigere und zeitraubendere Arbeit, als die, eine unvollendete wissenschaftliche Arbeit eines andern zu redigieren, wenn man gewissenhaft bestrebt ist, überall genau nur den Ideengang des Autors in der ihm eigentümlichen Weise auszudrücken und ihm nicht unversehens den eigenen Ideengang unterzuschieben. Mag man auch die Anschauungen des Autors völlig teilen, so hat doch jeder seine eigene Individualität.

Endlich aber vergesse man nicht, daß man zu wissenschaftlicher Arbeit der Ruhe bedarf. Wir würden vielleicht auch den ersten Band des Kapitals nicht – wenigstens nicht in seiner jetzigen Form – besitzen, wenn nicht das Dutzend Jahre nach 1849 eine Periode des politischen Waffenstillstands gewesen wäre. Daß wir jetzt in einer solchen Periode nicht sind, daß gerade seit Marxens Tod die internationale sozialistische Bewegung einen ganz ungeahnten Aufschwung genommen, brauchen wir unsern Lesern nicht erst zu sagen. Engels ist aber viel zu sehr eine tatkräftige Kampfesnatur, um sich den Kämpfen seiner Partei entziehen zu können. Er verfolgt sie nicht bloß, er nimmt auch teil an ihnen; seine Feder ist heute für die Deutschen tätig, morgen für die Russen; für die Partei in England und Amerika ebenso wie in Frankreich und Österreich.

Ich glaube, wir können Engels – und auch uns – gelegentlich seines 70. Geburtstages nichts Besseres wünschen, als die nötige Ruhe, deren er bedarf, um den dritten Band des „Kapitals“ so rasch zu vollenden, als er und wir es gern möchten.

Nur an der Ruhe fehlt es ihm, nicht an der Kraft. Trotz seiner siebzig Jahre ist unser Veteran noch jugendfrisch und kraftvoll ... Noch ist nichts Greisenhaftes an ihm zu merken. Noch ist er ein unermüdlicher Arbeiter, ein unermüdlicher Student – er lernt immer noch, akkumuliert immer noch geistiges Kapital, statt von dem erworbenen zu zehren: ungleich der Mehrzahl seiner Altersgenossen lebt er immer noch mehr in der Gegenwart und Zukunft als in der Vergangenheit. Wohl mag es Stunden geben, in denen diese lange Jugend ihm als ein zweifelhaftes Geschenk erscheinen mag, da sie nicht auch denen zuteil geworden, mit denen die engsten Bande ihn verbunden. Aber wir hoffen und wünschen, daß er für das, was er in seinen alten Freunden und Lebensgefährten verloren, wenigstens einigermaßen einen Ersatz finde in der Liebe und Verehrung, die alle denkenden und zielbewußten Proletarier und alle wahren Freunde des Proletariats für ihn empfinden, um so mehr empfinden, je näher sie ihn kennen – sei es auch nur aus seinen Schriften; einen Ersatz in dem siegreichen Fortschreiten der Bewegung, an deren Wiege er gestanden, deren Förderung seit fünf Jahrzehnten seine Lebensaufgabe ist, deren Triumph mit raschen Schritten naht.


Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012