K. K.


Die Fortpflanzung und Vermehrung des Menschen

(1880)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, I. Jg, 2. Hälfte, Zürich 1880, S. 204–207.
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Eduard Reich
Die Fortpflanzung und Vermehrung des Menschen,
aus dem Gesichtspunkte der Physiologie und Bevölkerungslehre betrachtet

Jena 1880

In diesem Werke befasst sich Reich vornehmlich mit den verschiedenen Faktoren, durch welche die menschliche Fruchtbarkeit günstig oder ungünstig beeinflusst wird. Wir erfahren, dass die Fruchtbarkeit des Menschen ungemein empfindlich ist, dass aber eine naturgemässe Lebensweise, kräftige Nahrung und heitere Gemüthsstimmung sowohl auf die Qualität als die Quantität der Nachkommenschaft günstig einwirken. (p. 123) Wir erfahren ferner, dass mit der Zunahme der Gesittung die Dauer der Fortpfianzungsfähigkeit beim Weib wächst, dass überhaupt „gesunde, wohl erzogene, über die Hilfsmittel der Zivilisation und Hygiene gebietende Menschen, wenn sie Reinheit der Sitten bewahren und Keuschheit der Gedanken als Tugend pflegen, bei weitem länger frisch und zeugungskräftig als andere“ bleiben. (p. 176) Weiteres sagt Reich, dass die zunehmende Ungleichheit des Besitzes die Fruchtbarkeit herabsetzt, weil an Stelle der Heirathen aus Liebe Konvenienzehen treten, „welche die Unmittelbarkeit nehmen und so die Glut der Liebe, die Intensität der Zeugung dämpfen“. (p. 207)

Aus alledem sollte man nun meinen, gehe die Folgerung hervor, dass die Erreichung eines vernünftigen Gesellschaftszustandes die Vermehrung der Menschen ungemein begünstigen und die in Folge dessen drohende Uebervölkeruug die ganze Summe gewonnenen Glückes wieder in Frage stellen würde. Von dieser Besorgniss findet sich jedoch in dem Buche Reich’s keine Spur. Ihm ist die Furchtbarkeit des Bevölkerungsproblems noch nicht zum Bewusstsein gelangt, das Gesetz der Bevölkerung, welches nicht nur auf das tiefste eingreift in das Leben des Menschen, sondern in das der gesammten organischen Welt, dieses Gesetz wird so leichthin mit einigen Phrasen abgethan, als ob der erbitterte Kampf um’s Dasein nichts wäre als ein Hirngespinnst. Mit grösster Seelenruhe erklärt Reich ganz einfach: „Dem naturgemäss lebenden Menschen wird grössere Fruchtbarkeit nicht beschwerlich“ (p. 60), ohne nur im geringsten den Versuch zu machen, diesen kühnen Ausspruch zu begründen.

Akzeptabler wäre noch seine Ansicht, dass „die Anzahl der Nachkommen in dem Masse sich verkleinere, in welchem die Nationen dem Höhepunkt ihrer Gesammtentwicklung sich nähern oder auch auf demselben bereits verweilen“ (p. 21), oder wie er an anderem Orte sich ausdrückt:

„Unterscheiden wir, von Osten nach Westen wandernd, die Europäer in gesittete, gesittetere und gesittetste, so dürften jene beiden Aequivalente (Verdauungskraft und Nervenkraft) bei diesen drei Kategorien in folgenden Proportionen stehen: Leib 10 : 8 Seele, Leib 10 : 10 Seele, Leib 10 : 12 Seele. Und diesen Verhältnissen entspricht ungefähr auch die (quantitative) Fruchtbarkeit.“

Diese Ansicht versucht Reich sogar zu beweisen, und zwar gestützt auf die Familienstärke der höheren Aristokratie (!) berechnet aus dem gothaischen Almanach. Die hier gegebenen Zahlen sind erstens zu klein, um ausschlaggebend zu sein, zweitens wird bei der Aristokratie die Nachkommenschaft viel mehr durch soziale Gesetze als durch die natürliche Fruchtbarkeit bestimmt, drittens ist die Gesittung der verschiedenen europäischen höheren Aristokratien blutwenig von einander verschieden, und viertens endlich sagen die vorgebrachten Zahlen gar nichts. Wir finden die Zahl der Kinder per Familie berechnet: für Frankreich auf 2.7, Italien 3.0, Deutschland 4.8, England 4.9, Russland 5.1. Rechnen wir Frankreich weg, welches als das Land des Zweikindersystems nicht gut einbezogen werden kann, so kommen wir zu dem Resultat, dass das zivilisirteste Land Italien ist, an Intelligenz und Volksbildung Deutschland und England weit voraus.

Wir müssen daher, so erwünscht es wäre, die Reich’sche Theorie annehmen zu können, sie ablehnen, so lange er ihr kein festeres Fundament zu geben vermag. Leider sprechen alle Anzeigen dafür, dass ihm dies nicht gelingen wird. In sozialistischen Kreisen dürfte zwar Reich’s Argumentation trotz ihrer Schwäche leicht Anklang finden, weil man das gerne glaubt, was man wünscht, allein damit wäre weder dem Sozialismus noch der Gesellschaft gedient. Im Gegentheil, jener wird erst dann auf festen Füssen stehen, wenn er das Gebiet der Bevölkerungsfrage an der Hand der Thatsachen untersucht und sich nicht mehr durch sentimentale Schlagworte blenden lässt.

So wenig, als auf dem Gebiete der Populationistik, konnte uns Reich’s Werk auf anderen Gebieten befriedigen. Reich vergisst, dass wir in einem skeptischen Zeitalter leben: dass uns nicht so sehr originelle, als gut begründete Ideen noth thun. Dieser Forderung hat er fast nirgends Rechnung getragen und ist in seinen vorschnellen Entscheidungen das gerade Gegentheil des vorsichtigen, abwägenden Darwin. Darwin sagt: sieh’ her und prüfe, Reich sagt: sieh’ her und glaube. So z. B. erklärt er mit der grössten Seelenruhe am Anfange des Abschnittes über die Fortpflanzung: „Es giebt eine Urzeugung;“ weiter nichts. Auch ich bin der Ansicht, dass es eine solche giebt. Aber eine so viel bestrittene Hypothese als unumstössliche Thatsache hinzustellen, über die man kein Wort weiter verliert, das ist denn doch etwas voreilig.

Mit gleicher Bestimmtheit, als ob es in einem Katechismus stünde, wird es ausgesprochen:

„Ausser der sichtbaren Welt giebt es noch eine unsichtbare, der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugängliche. Die eine Welt bedingt die andere, die eine ist nur die nothwendige Fortsetzung und Ergänzung der anderen; beide unterliegen bis in das Minutiöseste der grossen himmlischen Mechanik. Lassen wir aber die für unsere Sinne nicht wahrnehmbare ausser Acht, so nähern wir uns um keines Haares Breite der Lösung des grossen Räthsels; denn alles Sicht- und Greifbare ist etwas Sekundäres, die materielle Grundlage von Erscheinungen, das Ergebniss von Vorgängen, welche ihren Anlass finden in dem unsichtbaren, Ungreifbaren.“ (p. 63)

Nach diesen mit beneidenswerther Sicherheit gegebenen Aufschlüssen über eine Welt, von der wir nichts wissen, folgt nun die Erklärung des grossen Räthsels: Alles organische Leben besteht in der Wechselwirkung des aktiven Aethers mit den Formelementen des Organismus. Damit ist alles erklärt, der aktive Aether lässt nichts unerklärt, nichts dunkel, als – sich selbst. Auch hier wie sonst, hält es Herr Reich nicht für nothwendig, auch nur ein Wort zu verlieren darüber, was denn eigentlich für ein Begriff mit dem Wort „aktiver Aether“’ verbunden werden soll. Dieser Seelenstoff ist zwar mit dem Geruchsstoff, in welchem nach Gustav Jäger die Seele stecken soll, nicht identisch, aber jedenfalls sehr verwandt, wie Reich selbst angiebt. Es „finden jederzeit,“ sagt er,

„Ausströmungen von Aether aus dem Organismus in Folge des Einwirkens des aktiven Aethers auf die Nervenzentra statt; dieselben werden je nach den Impulsen des aktiven Aethers und je nach dem Zentralorgane, in welchem die Aktion des letzteren augenblicklich am stärksten ist, verschieden sein, sie werden weniger die Sinne berühren, als vielmehr den aktiven Aether in uns unmittelbar beeinflussen. Die beiden Geschlechter saugen einander gegenseitig nicht blos durch die Sinne sich (!) auf, sondern bekommen auch vermittelst der Aetherströmungen unbewusst Kenntniss von der Art ihres Innern.“ (p. 86)

Bei dem Vorherrschen eines solchen an Spiritismus grenzenden materialistelnden Mysticismus darf man sich nicht wundern, wenn Hand in Hand mit demselben ein grosses Vertrauen auf die Macht der Religion geht, welches so weit sich versteigt, zu behaupten, dass „durch Einführung und Pflege der entsprechenden Religion ein Mittel gegeben sei zur Verlängerung der Lebensdauer sowohl der Familien als des Gemeinwesens.“ (p. 6)

Natürlich sieht er auch in der Religion das Mittel zur Lösung der sozialen Frage.

„In solchen Zeitabschnitten (wie der jetzige) pflegt die Religion am schwächsten zu sein und die grösste Hälfte der Gemeinschaft dem Wahne sich hinzugeben, es seien Gesetze im Stande, das grosse soziale Uebel zu heilen; man glaubt, es vermöchten abstrakte Begriffe von Recht den Platz der Aufwallung des Herzens einzunehmen, und es liesse Alles wie in einer Maschine sich anordnen und regeln. Nur die Praxis der Religion der selbstlosen Liebe wird den Hebel abgeben zur Besserung jener Verhältnisse, aus deren Walten der Schiffbruch des Instituts der Ehe folgt und der leibliche und seelische Ruin der Nachkommen.“ (p. 252)

Und an anderer Stelle heisst es gar naiv:

„Die ersten und obersten Mittel hierzu sind Abschaffung des Tantum-quantum, Einführung der allgemeinen Barmherzigkeit und Liebenswürdigkeit in Staat, Gesellschaft und Sitte, Aufrichtung einer wahren Religion der selbstlosen Liebe.“ (p. 224)

Wer diese allgemeine Barmherzigkeit und Liebenswürdigkeit „einführen“ soll, wird nicht gesagt, wahrscheinlich werden das dieselben Regenten sein, von denen Reich erwartet, dass sie den Krieg abschaffen und das Elend austilgen werden. (p. 219)

Diese Naivetät in der Auffassung der sozialen Frage ist nur möglich infolge gänzlicher Unkenntniss der sozialdemokratischen Bestrebungen. Reich hält es denn auch noch für nothwendig, gegen „die volle Nichtigkeit und Kopflosigkeit aller derjenigen sozialistischen Lehren“ zu eifern, „die in Auflösung der Ehe, Gemeinschaft der Frauen und Kinder das höchste Ziel des Wünschenswerthen erkennen.“ (p. 313)

Trotzdem steht uns Reich näher, als er selbst glaubt, er ist ein Sozialist, wenn auch ein sehr utopistischer, und nur mit Bedauern kann man ein absprechendes Urtheil über ein Werk (Wen, welches auf jeder Seite unerschütterliche Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe, sowie ein warmes Gefühl für die leidende Menschheit verräth; manches Wort findet man da, das einem aus der Seele gesprochen ist, und von denen hier nur folgende Stelle wiedergegeben sei, welche die modernen, besonders deutschen Verhältnisse treffend charakterisirt:

„Ist die Staatsverwaltung unablässig bemüht, Geld auszupressen und das Volk als Arbeits- und Erwerbsmaschine zu betrachten, und verabsäumt es die Regierung, die höheren Ziele des Menschenlebens au erstreben, für das eigentliche Wohl des Volkes zu sorgen, so zu sorgen, dass Keiner verloren geht, – so steigern sich leibliches Elend gleichwie Sittenlosigkeit, und das Institut der Ehe verfällt mehr und mehr. Höchst lächerlich, ja verächtlich, wenn eine Regierung in solchem Falle an die Theologie appellirt, an den Wunderkram des Mittelalters und der wilden Völker, um der Sittenlosigkeit zu steuern und Hochachtung der Ehe zu erzwingen! Was nützt alle Theologie und Mystik, wenn das Volk getreten und gebrandschatzt wird, Religion und Erziehung abwesend sind und der Staat immer und überall mit dem schlechten Beispiel der Gewinn- und Habsucht, der Erbarmungslosigkeit, der Unverschämtheit und Brutalität voranleuchtet. Der grösste Feind des ehelichen Lebens ist Verderbniss der Sitten, und diese vergesellschaftet sich Jederzeit mit unnatürlichen Staats- und Regierungsformen, mit Despotie und Tyrannei, mit einem Liberalismus, der nur auf die besitzenden Klassen Bezug hat, während die Besitzlosen das trockene Krümchen Brodes um den Preis ihrer Freiheit, ihres Gewissens, ihrer Gesundheit, ihres Lebensglückes zu erkämpfen genöthigt sind. Ueberall dort, wo der falsche und abscheuliche Liberalismus der Advokaten, Krämer, Fabrikanten und Geldwechsler, der Despotismus höherer Korporale und die Tyrannei übermüthiger und leidenschaftlicher Dummköpfe zu Hause sind, geht es mit dem ehelichen Leben abwärts und die Erziehung verfällt.“ (p. 249)

Ich glaube hiermit die charakteristischen Eigenthümlichkeiten des Reich’schen Buches genügend hervorgehoben zu haben. Ehrlichkeit und guter Wille in Verbindung mit Phantasie und umfassender Belesenheit stehen Reich zu Gebote; aber seine Belesenheit befruchtet blos seine Phantasie, statt sie zu zügeln, und daher finden wir bei ihm so viele voreilige Schlüsse, von denen mancher richtig sein mag, die wenigsten aber genügend fundirt sind. Reich ist mehr ein Dichter als ein Mann der induktiven Wissenschaft, wir vermissen bei ihm die gehörige Dosis von Skeptizismus an den Ergebnissen fremder und eigener Forschung.


Zuletzt aktualisiert am 19. September 2016