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Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik,
I. Jg, 2. Hälfte, Zürich 1880, S. 14–25.
Transkription: Archive.org.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die Bauern! Sie sind der Stein des Anstosses für jede fortschrittliche Partei, wie denn erst für eine so revolutionäre wie die sozialdemokratische ist. Für uns ist der Bauer der leibhaftige Gottseibeiuns, stets bereit, uns beim Schöpfe zu packen, sobald wir uns ein wenig mucken. Und man muss gestehen, dass er heute wirklich gerne diese Rolle übernehmen würde. Diese bekannte Stimmung der Bauern soll uns jedoch nicht entmuthigen und abschrecken, sie soll uns vielmehr eine Mahnung sein, unser Augenmerk mehr als bisher der Agitation unter den ländlichen Arbeitern zuzuwenden.
„Verlorene Liebesmüh’,“ ruft man mir entgegen, „der Kleinbauer ist konservativ, er kann nicht früher fär ims gewonnen werden, als bis er zum Lohnproletarier, gleich dem englischen, geworden ist.“
Untersuchen wir, ob dieser Ausspruch seine Berechtigung hat, ob der Bauer oder unsere ihm gegenüber eingeschlagene Agitationsweise Schuld daran ist, dass er bisher der Partei feindlich gegenüber steht, ob, inwieweit und mit welchen Mitteln er zu gewinnen sei, oder ob wir es der „natürlichen Entwicklung“ überlassen sollen, dass sie den Bauer uns einmal in künftigen Zeiten in die Arme treibt.
Der Bauer ist konservativ! Das ist ein Axiom, welches man gelassen ausspricht, ohne seine Wahrheit im Geringsten zu untersuchen, und doch sollte schon die starke Auswanderung der deutschen Bauern und die verhältnissmässig grosse Leichtigkeit, mit der sie sich zu derselben entschliessen, dieses Axiom bedenklich erschüttern. Konservativ, das heisst, am Bestehenden hängend, ist bloss der finanziell intakte Bauer, derjenige, bis zu dem die Kultur des neunzehnten Jahrhunderts noch nicht gedrungen ist, den die Konkurrenz noch nicht zwingt, die von den Vätern ererbte Betriebsweise zu ändern, der, anstatt Staatspapiere zu kaufen, blanke Thaler in eisernen Truhen aufhäuft oder in der Erde vergräbt, und den die Konjunkturen des Marktes blutwenig kümmern, weil sein Hauswesen fast das gesammte Produkt seines Fleisses selbst konsumirt: der Bauer ist konservativ. Aber ganz anders steht es mit dem Bauern, welcher gezwungen ist, Kapital in sein Besitzthum hineinzustecken, was bei ihm gleichbedeutend ist mit Schuldenmachen; der die Kapitalzinsen nur mit Mühe erschwingt, mit den Steuern im Rückstande ist, während der Ernte theure Knechte dingen muss, weil seine Söhne das Kriegshandwerk erlernen müssen: der Bauer ist nicht konservativ, er wäre der Erste, bereit das gegenwärtige Wirthschaftsleben auf den Kopf zu stellen, wenn es sich darum handeln würde. Die Bauern der ersten Gattung finden sich aber heute nur mehr in einigen versteckten Erdenwinkeln und werden bald ein eben solches Kuriosum sein, wie die Steinböcke in den Alpen; die weitaus überwiegende Mehrheit der Bauern bietet das zweitbeschriebene klägliche Bild. Wenn man trotzdem den Bauer für allgemein konservativ hält, so rührt dies daher, dass er fast überall ein Anhänger der sogenannten konservativen politischen Parteien ist, welche aber bekanntlich in wirthschaftlicher Beziehung nichts weniger als konservativ sind, wenn sie auch noch so laut schreien: Heilig ist das Eigenthum. [2]
Diese Vorliebe für die konservativen Parteien hat ihren Grund nicht im Konservatismus des Charakters, sondern in einer anderen Charaktereigenschaft des Bauern, welche viel gefährlicher für die Sozialdemokratie und viel schwerer zu besiegen ist, als erstere: in seiner grenzenlosen Selbstsucht. Bei keinem Stande der Welt ist die Selbstsucht so entwickelt, wie bei dem Bauernstande. Und dieser Individualismus zeigt sich nicht nur dem Gemeinwesen gegenüber, wie bei der Aristokratie, er tritt sogar innerhalb der Familie auf. Eine über das thierische hinausgehende Liebe der Eltern zu den Kindern, welche sich auf mehr erstrecken würde, als ihre Aufziehung und Pflege in den Jahren der Unbehilflichkeit, kommt beim Bauern selten vor. Lässt er seinen Sohn etwas „Besseres“, z. B. Pfarrer werden, so geschieht es nicht aus väterlicher Liebe, sondern aus Stolz, um den Nachbarn zu zeigen, dass er das Geld dazu habe. Sein Besitzthum geht ihm über Alles, es ist ihm theurer, als Weib und Kind. Muss sein Sohn Soldat werden, so ärgert es ihn hauptsächlich deswegen, weil er an seiner Stelle jetzt einen bezahlten Knecht halten muss.
Mit diesem Faktor, dem Egoismus, muss jeder rechnen, der auf den Bauer Eindruck machen will. Dass er sich für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nicht erwärmen wird, ist klar, aber auch lachende materielle Aussichten, die seinen Kindern zu Gute kommen sollen, lassen ihn kalt. Geradezu in Raserei muss ihn aber jede Andeutung des Gemeineigenthums an Grund und Boden versetzen, und wer ihm davon erzählt; kann von Glück sagen, wenn er mit heiler Haut davon kommt.
Dieser Grund ist es, warum man den modernen Bauer nie und nimmer bewegen wird, für unser Programm vol
linhaltlich einzutreten und Sozialdemokrat zu werden.
Aber deswegen braucht man die Partie noch nicht aufzugeben: Werden wir den Bauer auch nie dazu bewegen, dass er auf die Barrikaden steigt, um für den Gemeinbesitz von Grund und Boden zu kämpfen, so können wir es doch ganz gut dahin bringen, ihm klar zu machen, dass die sozialdemokratische Partei seine materiellen Interessen besser zu fördern im Stande ist – wenn sie Einfluss gewinnt, natürlich – als die anderen Parteien; ja, dass die Mitglieder aller anderen Parteien, wenn sie auch vorgeben, ihm nützen zu wollen, in ihrem eigenen Interesse ihm schaden müssen, dass die Arbeiter allein kein Interesse haben an der Ausbeutung des Bauern. So können wir es dahin bringen, dass er bei Parteikämpfen unsere Partei gegen die anderen unterstützt, so weit es ihn keine Opfer kostet, oder dass er wenigstens den stillen Beobachter spielt, der uns nicht entgegentritt. Wird der Bauer auch nie in unseren Reihen marschiren, so können wir es doch erreichen, dass er in unseren Flanken sich neutral verhält, sie deckt und den Feind zwingt, ihn zu beobachten.
Diese beschränkte Aufgabe ist lösbar: lösen wir sie wirklich, dann ist der Gewinn ein ungeheuerer.
In welcher Weise dieselbe gelöst werden soll, kann kaum allgemein giltig angegeben werden. Die Hauptsache ist, dass man die Verhältnisse derjenigen Landschaft, in der man agitiren will, vorher genau studirt und Niemanden agitiren lässt, der diese Vorbedingung nicht erfüllt hat. Denn wenn Jemand zu Bauern spricht, der von ihren Verhältnissen nichts versteht, so verdirbt der mehr, als zehn nach ihm gut machen können. Eine populäre Behandlung des Stoffes ist natürlich unerlässlich, aber der Stoff selbst muss ebenfalls für den Bauer populär sein. Man rede also nicht etwa zu ihm über Dinge, wie das Verbot der Frauen- und Kinderarbeit, den Normalarbeitstag und dergleichen.
Der natürlichste Anknüpfungspunkt ist der dem Arbeiter und dem Bauer gemeine Hass gegen die Uebermacht des Kapitals.
Sehr leicht darzuthun sind die ungünstigen Einflüsse der Anarchie in der kapitalistischen Produktionsweise. Wenn man dieselben betont, hat man zugleich Gelegenheit, hinzuweisen auf die Interessensolidarität zwischen ländlichen und städtischen Arbeitern. Diese sind die Hauptkonsumenten der ländlichen Erzeugnisse, indess die Genussmittel der Grosskapitalisten zum grossen Theile aus dem Auslande importirt werden. Sind die Arbeitslöhne hoch, dann kann der Bauer seine Produkte leicht an den Mann bringen; sind dagegen die Arbeitslöhne niedrig, dann muss sich der Arbeiter einschränken, und der Absatz der Bodenprodukte vermindert sich.
Besonders die Weinbauern haben unter wirthschaftlichen Krisen sehr zu leiden, weil der Wein ein Lunxusartikel ist, dem man eher entsagt als Brod und Fleisch.
Noch in anderer Weise schädigen industrielle Krisen den Bauer. Es ist eine bekannte Thatsache, dass während „guter“ Zeiten eine förmliche Völkerwanderung vom flachen Lande in die Städte besteht. Der Landbau ist nicht so expansionsfähig, wie die Industrie, er kann nicht den ganzen Nachwuchs der ländlichen Bevölkerung ernähren, ein grosser Theil derselben wendet sich daher in die Stadt, wo so leichter Verdienst ist. Nun kommt die Krisis, welche Tausende arbeitslos macht, und es beginnt die Rückströmung der industriellen Reservearmee, insoweit sie sich vom flachen Lande rekrutirte. Der Bauer sieht seine jüngeren Söhne wieder heimkommen, ihn um Unterstützung anflehend, in Oesterreich werden sogar die Arbeitslosen zwangsweise, d. h. per Schub in ihre Heimathsgemeinden zurückgeschickt, in denen sie schon während des wirthschaftlichen Aufschwunges keinen Platz mehr hatten: die österreichische Polizei nennt dies sinnreiche Verfahren die Lösung der sozialen Frage.
In anderen Ländern – und auch in Oesterreich – fallen wieder die Arbeitslosen dem Bauern in Gestalt von fechtenden Wanderburschen zur Last.
Alles das sind Uebelstände, die der Bauer hart empfindet, und es hält gar nicht schwer, ihm begreiflich zu machen, dass die Planlosigkeit der Produktion sie verschulde, dass nur eine Regelung derselben sie beseitigen könne, dass aber vorläufig der Fabrikant nicht das Recht haben solle, die Erhaltung der Arbeiter, die er ausgebeutet, dem Bauern auf den Hals zu laden, sobald er sie nicht mehr gebrauchen kann.
Die Beziehung zur Anarchie in der Produktionsweise steht die Nothwendigkeit des Zwischenhandels, welche auch erst mit einer Regelung der Produktion verschwinden wird. Der Zwischenhandel ist aber ebenfalls eines der vielen Uebel, an denen der Bauernstand laborirt, der „Kornjude“ und der Viehhändler sind zwei Gestalten, die ihm ebenso verhasst und nothwendig sind, wie der Wucherer – wenn sie nicht identisch mit diesem sind –, und ebenso an seinem Marke zehren. Eine Partei, die Verhältnisse herbeiführen will, in denen der Zwischenhandel keine dominirende Stellung mehr einnimmt und auf das kleinstmögliche Mass herabgedrückt ist, darf stets auf die Zustimmung des Bauern rechnen.
Ich habe vom Wucherer gesprochen: damit sind wir zu einer der wichtigsten Fragen für den Bauer gelangt. Die Wucherfrage, obgleich augenblicklich wieder im Vordergrund, datirt nicht seit heute, sie ist mit dem Kapitalismus in’s Leben getreten. Mit seinen landwirthschaftlichen Maschinen, seinen Eisenbahnen hat derselbe Konkurrenten für den wehrlosen Bauer geschaffen, denen dieser ohnmächtig gegenüber steht. Der Grossgrundbesitzer kann mit Hilfe der Arbeitstheilung und grossartiger Kapitalanlagen in Hilfsdünger, Entwässerungen und Bewässerungen, Maschinen und Zuchtvieh billiger und besser produziren als der kleine Landwirth, beiden aber ist ein mächtiger Konkurrent entstanden in dem russischen, ungarischen, rumänischen, ja amerikanischen und australischen Getreide, ein Konkurrent, der mit der Entwickelung des Eisenbahnbetriebes immer gefährlicher zu werden droht. Hat sich doch z. B. Von 1866–78 die Fracht für einen Bushel Weizen von Chicago nach New York von 27 Cts. auf 7¼ Cts., also fast auf ein Viertel verringert. Dafür betrug aber auch beispielsweise die Zerealienausfuhr aus den Vereinigten Staaten 1877/78 die hübsche Summe von 10.966.975.000 Bounds. Dass dieser vereinigten Konkurrenz der kleine Landwirth unterliegen muss, ist klar. Verzweiflungsvoll hascht er zwar nach Waffen gegen den übermächtigen Feind, nach Kapital, aber nur einer ist es, er sie ihm bietet: Der Wucherer. Das solide Kapital bietet sich ihm nicht dar, und zwar aus einfachen Gründen. Die Natur des landwirthschaftlichen Betriebes bringt es mit sich, dass das in demselben verwendete Kapital sich nur langsam umsetzt, viel langsamer, als in Handel und Industrie. Bodenmeliorationen, Maschinen und Zuchtvieh ersetzen erst nach einer Reihe von Jahren das auf sie verwendete Kapital. Ueberdiess ist das Erträgniss des in der Landwirthschaft angelegten Kapitales ein äusserst geringes, wenige Güter tragen mehr als 3½–4 % ihres Werthes. Die Kompensation durch grössere Sicherheit ist beim kleinen Landwirth nicht vorhanden, das solide Kapital hält sich somit von ihm fern. Nur der Wucherer naht, der sein Kapital nicht ausleiht, um es mit Zinsen zurückzuerhalten, sondern um mit dessen Hilfe das Bauerngut zu erwerben, was ihm auch in der Regel gelingt. Die Nothwendigkeit, dass der Bauer Kapital anwende und dass er dasselbe nur vom Wucherer erhält, ist so in der Natur der Dinge begründet, dass alle Wuchergesetze der Welt daran nichts ändern werden. Wuchergesetze kennen wohl verbieten, Geld zu hohen Zinsen zu leihen, aber sie können Niemanden zwingen, sein Geld aus gut rentirenden Unternehmungen herauszunehmen und es in schlecht rentirenden anzulegen. Der Bauer braucht Kapital, und das wird ihm durch die Wuchergesetze nicht beschafft.
Trotzdem wäre es vergebliche Mühe, gegen dieselben zu eifern. Der Bauer lässt sich in dieser Beziehung nicht bekehren, und selbst wenn dies gelingen sollte, selbst wenn er überzeugt sein sollte, dass sie nichts nützen, wird er sie doch begehren, aus Durst nach Rache, aus Begierde, eine Waffe zur Hand zu haben, mit der er auch seinem Quälgeist gelegentlich ein’s versetzen kann.
Aufgabe eines Bauernagitators darf es daher nicht sein, gegen die Wuchergesetze zu eifern: das wäre vergebliches Bemühen. Er muss sich vielmehr darauf beschränken, nachzuweisen, dass ein Wuchergesetz nicht genügt, dass daneben noch dem Bauern eine billige Kapitalquelle erschlossen werden muss, und dass diese nur der bieten kann, dessen Kapital den Zweck hat, den Bürgern zu nützen, nicht aber Profite zu tragen: der Staat.
Diesem Raisonnement sind die Bauern vollkommen zugänglich, damit wären wir aber auch in der Wucherfrage auf sozialistischen Boden gelangt.
Neben dem Wucherer ist der Steuerexekutor die gefürchtetste Persönlichkeit im Dorfe. Wie man dem Bauern die Unverträglichkeit der Steuerlast und die Mittel ihrer Erleichterung klar machen kann, liegt zu nahe, als dass besonders darauf eingegangen werden müsste. Allerdings scheinen auf diesem Gebiete die Forderungen der Sozialdemokraten mit denen anderer Parteien sich zu vereinigen, dennoch nehmen wir auch hier eine Stellung ein, vortheilhafter für den Bauer als die aller anderen Parteien, auch die der „Demokraten“ nicht ausgenommen. Was den Bauer so ungemein bedrückt, ist nämlich nicht so sehr die Höhe der Steuern, als die Nothwendigkeit, dieselben in baarem Gelde zu erlegen. Früher, unter der Feudalherrschaft, lieferte er einen Antheil seiner Ernte, des Nachwuchses seines Viehstandes etc. bei der Gutsherrschaft ab, einen anderen Theil der Steuern trug er ab in der Gestalt von Arbeitsleistungen, theils seiner eigenen Person oder seines Gespannes, seines Knechtes u. dgl. Heute ist’s nicht ein Antheil der Ernte, den er abliefert, sondern eine bestimmte Summe, die sich gleichbleibt, ob nun Misswachs oder eine gute Ernte eingetreten ist. Und überdiess ist diese Summe in Geld zu bezahlen. Er kann nicht sein Getreide und Vieh direkt abliefern, sondern muss einen Käufer dafür suchen, muss seine Produkte oft zu Schleuderpreisen absetzen, nur um rechtzeitig die Steuer bezahlen zu können. Diese Zustände will nun Niemand beseitigen, ausser den Sozialdemokraten, welche die Geldwirthschaft abschaffen und an ihre Stelle wieder eine Naturalwirthschaft, wenn auch höherer Form, setzen wollen, in der wieder für den Verbrauch, nicht für den Verkauf gearbeitet wird.
Es würde zu weit führen, wollte man alle Uebelstände erwähnen, welche die moderne Gesellschaft für den Bauer mit sich bringt; ich habe blos diejenigen berührt, über welche der Bauer am lautesten klagt: die hohen Steuern und ihre Zahlung in Geld, den Wucher und die vielen Arbeitslosen, welche ihm zur Last fallen. Jeder, der die Bauernverhältnisse studirt, wird selbst Stoff genug finden, um daraus Agitationsmaterial zu schmieden. Ohne ein solches Studium, blos auf allgemeine Kenntnisse gestützt, wird man aber nie Einfluss auf den Bauern gewinnen. Die Konservativen waren es bisher, welche seine Bedürfnisse am besten erkannt haben, welche nicht mit Prinzipien, sondern mit Lokalkenntnissen ausgerüstet an ihn herantraten und ihm daher die meiste Gewähr für Sicherung seiner materiellen Interessen zu bieten schienen. Ahmen wir den Konservativen nach, studiren auch wir die Verhältnisse jeder einzelnen Landschaft, verzichten wir darauf, den Bauer zu unserem, industriellen Bedürfnissen entsprungenen Programm zu bekehren, und wir werden bedeutende Erfolge erzielen.
Soweit über den Inhalt der Agitation.
Was ihre Form anbelangt, so ist jedenfalls die beste die der mündlichen Diskussion. In Staaten, in denen das freie Wort nur eine freche Lüge ist – und es soll dergleichen geben – bieten Flugblätter ein, wenn auch etwas dürftiges Ersatzmittel, da der Bauer sie stets mit Misstrauen betrachtet, und das gesprochene Wort denn doch eine ganz andere Macht besitzt, als das gedruckte. Wirksamer wäre es, wenn man sich der gewohnheitsmässigen Lektüre des Bauern bemächtigte: Zeitungen, Kalender, Erbauungsbücher. Das erstere Mittel ist jedenfalls das Vorzüglichste, um so mehr, da man darauf rechnen kann, dass ein Bauer, der Zeitungen liest, schon zu den intelligenteren gehört. In Oesterreich erfreuen sich mehrere deutsche und tschechische Bauernblätter sehr radikaler Richtung einer grossen Verbreitung und zum Theil bedeutenden Einflusses. Ob dergleichen Blätter in Deutschland unter das Sozialistengesetz fallen würden, ist noch nicht ausgemacht, jedoch immerhin sehr wahrscheinlich, wenn sie auch blos so radikal sein sollten, wie die österreichischen.
Leichter verbreitbar und weniger beanstandbar wären Kalender. Bei Herstellung derselben müsste jedoch nicht blos der Inhalt, sondern auch die Form sorgsam behandelt werden, denn Niemand ist pedantischer als der Bauer. Haben sogar Industriearbeiter auf dem flachen Lande in Oesterreich sich geweigert, den Arbeiterkalender zu kaufen, aus dem Grunde – weil die Feiertage mit schwarzer statt mit rother Farbe gedruckt waren!
Erbauungsbücher hätten den Vortheil, dass sie vom Bauern mit einer gewissen Sorgfalt gelesen werden und er Dinge, die im Erbauungsbuche stehen, leichter glaubt, als andere. Die Kunst bestände nun darin, ein Erbauugsbuch zu schreiben, das, erbaulich beginnend, unvermerkt immer aufreizender würde. Auch wäre es nicht „ohne“, in bereits bestehende Erbauungs- und Gebetbücher einige Bogen sozialistischen Inhaltes hineinzuheften. Diese Erbauungsbücher wären gewissermassen das Gegenstück zu den Bauernzeitungen, die letzteren für die intelligenteren, die ersteren für die noch in „der Nacht der Unwissenheit“ Wandelnden bestimmt.
Man wird den Vorschlag, durch Erbauungsbücher auf den Bauer einzuwirken, vielleicht einen jesuitischen, eine Spekulation auf die Dummheit des Volkes nennen; ich muss hier offen gestehen, selbst auf die Gefahr hin, als rother Jesuit verketzert zu werden, dass ich der Ansicht bin, der gute Zweck heilige jedes Mittel, welches mit demselben nicht im Widerspruche steht.
Beim Lichte besehen, ist dieser Ausspruch gar nicht so fürchterlich, als er aussieht, wie aus seiner Anwendung auf die Bauernfrage sogleich erhellen wird. Welches ist denn unser Zweck, wenn wir es versuchen, die Bauern zu unseren Bestrebungen heranzuziehen? Doch offenbar kein anderer, als der, die Bauern zu heben, zu veredeln, zu selbständigem Denken heranzubilden, sie zur Erkenntniss ihrer Klassenlage zu bringen, auf dass sie den Bestrebungen zum Aufbau einer neuen Gesellschaft nicht feindselig entgegentreten. Ist es dazu aber absolut nothwendig, dem Bauern die religiöse Grundlage zu nehmen? Der revolutionäre Doktrinär sagt Ja, der Kenner der bäuerischen Verhältnisse sagt Nein. Der moderne Sozialismus muss sich daran gewöhnen, das Prinzip, dass Alles nur relativ, nicht aber absolut richtig ist, auch in seiner Geschichtsauffassung anzuwenden und das liberale Prinzip des vorigen Jahrhunderts, dass nur Eines absolut richtig, alles Andere aber unter allen Umständen falsch sei, abzustreifen. Der Liberale hält den modernen Staat für den einzig richtigen, wir Sozialisten erklären jede Staatsform für relativ, d. h. unter gewissen Umständen gut. Und so dürfen wir auch nicht in den Fehler der Liberalen verfallen und an Stelle der Dogmen der Religion das Dogma der alleinseligmachenden Aufklärung setzen. Es ist unbestreitbar, dass es Kulturstufen gibt, für welche das Christenthum, das ist der Ausdruck der Kultur des sinkenden römischen Weltreiches, nicht blos nicht schädlich, sondern sogar segensreich wirkt. Einer solchen Kulturstufe gehören aber noch jene Bauern an, welche statt Zeitungen Erbauungsbücher lesen. Man verwechsle nicht die Bauern in der Umgebung grosser Industriezentren, denen die moderne Kultur nichts fremdes mehr ist, mit den Bewohnern abgelegener Dörfer und Weiler, welche aufwachsen, wie das liebe Vieh, für welche der Gottesdienst der einzige Zeitpunkt während der ganzen Woche ist, an dem sie nicht sinnlichen Gedanken sich hingeben, und der Geistliche der einzige höher stehende Mensch, mit dem sie zusammenkommen. Diesen Menschen voll niederer Brutalität und Selbstsucht, ohne Funken von Gemeingeist und Mitgefühl, – denen die Religion nehmen zu wollen, heisst, sie zu einer Heerde wilder Thiere herabdrücken. Man sehe sich nur die „Freigeister“ in solchen Dörfern an – es gibt ihrer genug –: Wilde, rachgierige Subjekte, lehnen sie sich gegen ihren Gott auf aus einem persönlichen Grunde – ihn zu leugnen, sind sie zu unintelligent –, sie lästern ihn, einer, weil der Pfarrer einen Prozess gegen ihn gewonnen hat, ein anderer, weil der liebe Herrgott ihn beim Kartenspiel im Stiche lässt, ein dritter, weil er ihn beim Wildern nicht geschützt hat. Von irgend einer Freigeistigkeit aus Prinzip, aus Erkenntniss ist keine Spur, und wie sollte dieselbe in solchen ungepflügten Köpfen auch aufkeimen können? Solchen Leuten den Atheismus zu predigen, wäre ein Kulturkampf, ebenso vergeblich und verderblich, als der preussische. In diesen Leuten muss man zuerst eine Ahnung dessen erwecken, dass es ein besseres Leben gibt, als das, welches sie führen, man muss in ihnen eine Sehnsucht nach der höheren Kultur erwecken, bevor man überhaupt erwarten kann, dass die Repräsentanten derselben Gehör und Anklang finden. Die ersten Schritte in dieser Beziehung können aber nur in religiösem Gewande gemacht werden; wer diese als unseren Grundsätzen zuwiderlaufend von sich weist, der verzichtet damit überhaupt darauf, in diesen Kreisen unseren Bestrebungen – ich sage absichtlich nicht Prinzipien – Eingang zu verschaffen.
Aber selbst – wenn wir auf genauer Kenntniss des Bauerncharakters fussend, alle schwachen Seiten desselben benutzen würden, um Einfluss auf ihn zu erlangen, so dürfen wir uns doch nicht trügerischen Hoffnungen hingeben. Eine kompakte Masse in dem Bauernstände werden wir Sozialdemokraten als Personen nie für uns gewinnen können: daran werden wir verhindert durch diejenige Eigenschaft des Bauern, welche für uns neben seiner Selbstsucht die gefährlichste ist, viel gefährlicher als sein angeblicher Konservatismus: das ist sein Misstrauen. Es ist unglaublich, welches Misstrauen der Bauer gegen die „Stadtleute“ hegt; ein Jeder erscheint ihm als ein Spion oder Agent provokateur, als der Emissär eines Wucherers, als alles Mögliche, aber stets als ein heimlicher Feind. Nur wenigen, dem Bauern genau bekannten Genossen, dürfte es gelingen, dieses Misstrauen zu überwinden.
Unser Hauptbestreben muss daher nicht so sehr dahin gehen, auf die Masse der Bauern zu. wirken, als vielmehr aus diesen einen Stamm tüchtiger Agitatoren uns heranzuziehen. Diess wäre gar nicht so schwer. Der Bauer ist im Allgemeinen begabt und bildungsfähig, und besonders unter der jungem Generation dürfte es Manchen geben, der tmgefähr in der oben angegebenen Weise bearbeitet, gewonnen und zu tieferem Nachdenken und vielleicht sogar selbständiger Behandlung der ökonomischen Materie gebracht werden könnte. Ein einziger solcher Bauer, welcher die Ergebnisse der politischen Oekonomie in kurzen, dem Verständniss und Gedankengange seiner Mitarbeiter angepassten Sätzen wiederzugeben verstände, könnte schon eine furchtbare Waffe werden im Kampf gegen die bestehende Gesellschaft. Die Heranziehung einer ganzen Reihe von Agitatoren wäre aber von geradezu epochemachender Bedeutung für unsere Partei. Aus welchen Motiven dieselben zu uns kämen, ob getrieben von Gemeinsinn und Mitgefühl – was auch möglich, wenn auch unter Bauern etwas unwahrscheinlich wäre –, ob aus Rache oder gekränktem Ehrgeiz oder einem anderen selbstsüchtigen Motive, das könnte uns wohl gleichgiltig sein. Die Hauptsache ist, sie heranzuziehen, das sei das Hauptbestreben der Partei den Bauern gegenüber.
Bevor ich schliesse, sei noch die Frage untersucht, welche positiven Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage auf dem Lande zu machen wären. Auch darüber müssen wir uns klar werden: es genügt nicht, nachzuweisen, dass nur wir den Bauern helfen können und wollen und einmal auch werden. Er verlangt Mittel zu wissen, durch welche seiner Noth augenblicklich gesteuert, oder sie wenigstens gemildert werden könne. Vermögen wir solche nicht anzugeben, dann ist unsere Position sehr erschwert.
Vielfach wird behauptet, dem Bauernstände sei überhaupt nicht mehr aufzuhelfen, er müsse zu Grunde gehen. Ich bin nicht der Ansicht. In der jetzigen Form kann er sich allerdings nicht erhalten, aber ich denke, es müsste noch ein anderes Uebergangsstadium vom Kleinbetrieb auf Privateigenthum zum Grossbetrieb auf Gesammteigenthum geben, als das des Landproletariers. Eine solche Uebergangseinrichtung müsste zweierlei Forderungen erfüllen: erstens müsste sie heute schon durchführbar sein, ohne jedoch im Widerspruche mit dem Ziele der jetzigen ökonomischen Entwickelung zu stehen. Zweitens müsste sie dem Interessenkampf eine solche Form geben, dass die kommunistichen Neigungen, besonders der Gemeinsinn, durch denselben geweckt und gestärkt, die Selbstsucht dagegen sehr geschwächt würde.
Für die industriellen Arbeiter erfüllen die Gewerkschaften beide Bedingungen vollkommen, und als Erziehungsmittel zum Kommunismus sind sie von einer Wirksamkeit, die von keiner andern bestehenden Einrichtung zu Gunsten der Arbeiter übertroffen wird. In einer Gewerkschaft von Harmonieaposteln stecken mehr kommunistische Keime, als in einer Produktivgenossenschaft von Kommunisten.
Die Uebertragung der Gewerkschaften auf das bäuerliche Gebiet könnte meiner Ueberzeugung nach nur die segensreichsten Folgen haben, einerseits die Lage des Bauern soweit, als es die moderne Produktionsweise erlaubt, heben, andererseits den Gemeinsinn in ihm wecken und ihn so vorbereiten auf das Gemeineigenthum an Grund und Boden. Natürlich müssten die ländlichen Gewerkschaften oder Bauernverbände den Verhältnissen entsprechend andere Ziele und Mittel haben, ab die industriellen. Diese ziehen die Massen dadurch an sich, dass sie dieselben versichern gegen die am meisten ihnen drohenden Gefahren: Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit. Ebenso könnte das Anziehungsmittel der Bauernverbände in der Assekuranz gegen diejenigen Gefahren bestehen, welche den Bauern am meisten drohen: Feuerschaden, Hagelschlag, Viehseuchen u. dergl.
Was den Zweck anbelangt, den diese Verbände sich setzen müssten, so wäre er derselbe, wie bei den Gewerkschaften: Der solidarische Klassenkampf gegen die Uebermacht des Kapitals. Natürlich würde sich derselbe bei den Bauern in ganz anderer Form zeigen, als bei den industriellen Arbeitern. Die Bauern werden zunächst danach trachten, sich der Wucherer und Zwischenhändler, welche wie Blutegel an ihnen haften, zu entledigen. Sie werden vom Verbände verlangen, dass er ihnen billiges Kapital verschaffe und die Vermittlung zwischen ihnen und den Konsumenten übernehme. Die Verbände werden aber bald zur Einsicht kommen müssen, dass ihre Mittel nicht ausreichen, diesen Anforderungen zu genügen. Um den Zwischenhandel zu organisiren, wäre ein grosses Kapital erforderlich. Magazine müssten errichtet, Keller gebaut werden, in denen die Produkte aufbewahrt werden könnten. Durch diese Aufbewahrung gewinnt z. B. der Wein riesig an Werth. Es müsste ferner genügend Kapital vorhanden sein, um den Bauern auf ihre eingelagerten Produkte Vorschüsse geben zu können und noch zu vielen andern Dingen. Wenn aber von den Bauern keiner ein Kapital hat, haben alle zusammen auch keines, und wenn keiner einen Kredit hat, haben alle zusammen auch keinen. Die Ursachen, warum das Kapital vom Landbau sich abwendet, die geringe Rentabilität und der langsame Umsatz. der in demselben angelegten Kapitalien kann durch keinen Verband beseitigt werden. So wie bei den Gewerkschaften muss daher auch bei den Bauernverbänden nothwendigerweise der Zeitpunkt eintreten, in dem sie zur Einsicht kommen, dass sie, auf ihre eigenen Kräfte gestützt, den Kampf gegen das Kapital nicht entscheidend beenden können, dass sie zu diesem Zweck als politische Partei sich konstituiren müssen, um die gewaltige Hilfe des Staates zu erlangen. Ob es nun räthlicher ist, gleich bei der Gründnng der Verbände diess als Ziel anfzustellen, wie es die deutschen Gewerkschalten gethan, oder ob man es der Macht der Verhältnisse überlassen will, sie früher oder später dazu zu zwingen, wie es bei den englischen Gewerkschaften der Fall ist, darüber kann gestritten werden; sicher ist aber das, dass dergleichen Verbände ein ausgezeichnetes pädagogisches Mittel wären, im Bauern an Stelle des Egoismus das Klassenbewusstsein wach zu rufen und ihm die Bedeutung des Staates im wirthschaftlichen Leben klar zu machen. Der isolirte Bauer kann nicht daran denken, die Staatshilfe für sich in Anspruch zu nehmen, ein grosser, mächtiger Verband dagegen kann und wird es thun. Zur Gründung solcher Verbände anzuregen, wäre daher eine der dankbarsten Aufgaben der Parteigenossen.
Man wird mir einwenden, solche Verbände seien eigentlich reaktionärer Natur, indem sie die Tendenz hätten, den zum Tode verurtheilten Kleinbetrieb noch länger am Leben zu erhalten, als es im Interesse der menschlichen Entwicklung wünschenswerth wäre.
Wer so denkt, der möge gleich von vornherein darauf verzichten, jemals den Bauer zu gewinnen. Der Bauernstand ist noch nicht so sehr vom modernen Pessimismus angekränkelt, dass er sich ruhig zu den Todten werfen und als Kategorie von blos historischem Interesse behandeln lassen würde. Wer ihm nicht helfen will, der ist sein Feind, und möge er ihm mit noch so triftigen Gründen nachweisen, dass sein Dasein dem Fortschritt hinderlich sei. Ueberdiess findet die auf englischem Boden gewachsene Theorie von der Verdrängung des Kleinbetriebes durch den Grossbetrieb auf dem Kontinent nur in sehr geringem Grade ihre Bestätigung. Die Aufsaugung des Kleinbesitzes durch den Grossgrundbesitz findet allerdings statt, aber in so geringem Masse, dass sie keinen nennenswerthen Einfluss auf die sozialen Verhältnisse auf dem flachen Lande übt. Der Bauer hängt so zäh an seinem Besitz, dass er lieber die ärgsten Entbehrungen duldet, als ihn verlässt. Der Kampf gegen die übermächtige Konkurrenz zeigt sich eher in einer Herabdrückung des Standard of life, als in einer Verminderung der Bauernstellen: einer solchen Herabdrückung entgegen zu arbeiten, ist aber sicherlich nicht reaktionär.
Endlich wäre noch zu entgegnen, dass der von mir gemachte Vorschlag von Bauernverbänden die wirthschaftliche Entwicklung nicht im geringsten hindert. Im Gegentheil: Wer überhaupt in der Illusion lebt, durch Predigten dem Bauern Geschmack am Gemeineigenthum an Grund und Boden beibringen zu können, kann sicherlich eher auf Erfolg rechnen vor Bauern, in denen durch den Verband das Gefühl der Interessensolidarität geweckt worden, als vor solchen, welche ihre Mitbauern als ihre natürlichen Konkurrenten und Gegner betrachten. Weiters verhindert ein solcher Verband auch nicht, dass man die Güter des Grossgrundbesitzes in Staatsbesitz übergehen und durch Arbeiterassoziationen bewirthschaften lasse. Ist deren Lage dann wirklich eine um so viel bessere, als man heutzutage erhofft und auch mit Recht erwarten kann, dann werden die Bauernverbände jedenfalls mehr Lust erhalten, es nachzumachen, als wenn man die Bauern isolirt lässt. In konservativen, finanziell noch nicht angefressenen Gemeinden kann man durch Wiederbelebung der Gemeinweiden, Gemeinforste, Allmenden etc. Keime neuer kommunistischer Institutionen schaffen. Schliesslich könnte man durch ein Gesetz bestimmen, dass das Vermögen insolvent gewordener Bauern nicht, wie bisher, versteigert werden, sondern vom Staat angekauft werden sollte. Das Alles sind Bestimmungen, gegen die der Bauer nicht das Geringste einzuwenden haben wird, für welche er heutzutage schon gewonnen werden könnte, und welche bewirken, dass alle Bauern, welche die Konkurrenz mit dem sozialistisch organisirten Grossbetrieb nicht länger aushalten wollen oder können, ihre Güter in Staatseigenthum übergehen lassen, damit ihre Bewirthschaftung ähnlich organisirt werde. Gar nicht sozialdemokratisch aber wäre es, diejenigen Bauern, welche diese Konkurrenz aushalten können und wollen, zu zwingen, nach sozialistischer Façon selig zu werden. Wir dürfen nicht das Odium auf uns laden, den Bauer expropriiren zu wollen, wir müssen das den Verhältnissen überlassen. Wenn wir den Gemeinbesitz an Grund und Boden nicht als von uns angestrebtes Ziel, sondern als eine auch ohne unser Zuthun sich vollziehende Nothwendigkeit hinstellen, dann wird der Bauer den Hass gegen uns variieren. Wir müssen dem Bauer zeigen, dass nicht wir es sind, die ihn expropriiren, sondern der Grossgrundbesitzer mit seinen Maschinen, der Wucherer mit seinen Zinsen, das Grosskapital mit seinen Eisenbahnen, die ausländisches Getreide befördern, der Staat mit seinen Steuern.
Ich denke, solche und ähnliche Argumente dürften nicht ohne Wirkung auf den Bauer bleiben. Wer andere und bessere vorzubringen hat, wer bessere Vorschläge zu machen hat, als die meinen, möge mit denselben nicht hinter dem Berge halten. Es ist hohe Zeit, dass die Frage der Bauernagitation einmal in Fluss kommt, bevor man aber sich daran macht, die Agitation praktisch zu üben, werde man sich klar und einige man sich über das vorgehen, welches man bei derselben beobachten will. Für welches Verfahren aber man sich auch entscheiden möge, eines ist klar: den Bauern gegenüber ist Prinzipienreiterei nicht am Platze, die Erfahrung muss für uns massgebend werden. Wer daher Erfahrungen über die Bauern gesammelt hat, möge uns dieselben nicht vorenthalten: nur mit reichlichem Materiale ausgerüstet, können wir uns an die Bauernagitation wagen.
1. Der Artikel ist zunächst mit Rücksicht auf österreichische Verhältnisse geschrieben, dürfte aber in vielen Beziehungen auch für andere Länder Werth haben. Anmerk. d. Herausgeb.
2. Diese Hinneigung zu den konservativen Parteien ist übrigens kein notwendiges Attribut des Bauern. Einer der freisinnigsten österreichischen Abgeordneten, der auf der äussersten Linken sitzende Schönerer, ist von Bauern gewählt, und trotz seiner illoyalen Aeusserungen wiedergewählt worden.
Zuletzt aktualisiert am 19. September 2016