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Die Erfahrung der Metallarbeiter spricht für eine allgemeine Aktion [1](23. Mai 1922) |
Ohne Unterschrift, L’Ordine Nuovo, 23.5.1922, Jg. II, Nr.142.
Antonio Gramsci, Socialismo e fascismo, L’Ordine Nuovo 1921-1922, Turin 1967, S.492-494.
Antonio Gramsci, Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1986, S.108-11.
Deutsche Übersetzung: Maria-Louise Döring.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan fü das Marxists’ Internet Archive.
Der Konflikt, in dem sich gegenwärtig das Proletariat der Metallindustrie befindet, gleicht in seiner Schärfe und seiner Ausdehnung den großen Kämpfen der Vergangenheit. Die Metallarbeiter waren nach dem Waffenstillstand die ersten, die den Achtstundentag erkämpft haben. Die Metallarbeiter waren auch die ersten, die bessere Lebensbedingungen in den Werkhallen erkämpft haben, und auf Metallarbeiter traf der erste Schlag der Offensive der Industriellen. Nach den Septembertagen [2] nachdem die roten Fahnen von den Schornsteinen der Werkhallen entfernt worden waren, waren die Unternehmer wieder dorthin zurückgekehrt, und das sicher nicht mit dem Vorsatz, sich mit der Arbeiterklasse auszusöhnen, die versucht hatte, sie zu enteignen. Es wäre dumm zu verlangen, die Kapitalisten sollten den Arbeitern leichte Bedingungen für ihren Kampf schaffen und nicht daran denken, vor allem ihre eigene Macht zu festigen, wenn diese von der Basis her bedroht wird. Was konnte nun nach dem September in den Werkhallen geschehen? Es hätte vorausgesehen werden müssen: Der September ist für die Arbeiter kein Sieg, sondern eine Niederlage gewesen. Wie es bei allen zurückweichenden Armeen geschieht, hatten die Arbeiterführer die Aufgabe, den Rückzug so vorzubereiten, daß dieser nicht ungeordnet erfolgte und daß keine Panik in den Reihen der Kämpfer hervorgerufen wurde. Unter einer geschickten Führung hätte der Rückzug auf einer Verteidigungslinie aufgehalten werden müssen, auf deren Verstärkung alle Bemühungen im Hinterland hätten gerichtet werden müssen. Nach dem September ist die Arbeiterklasse statt dessen sich selbst überlassen worden. Sie stand vor den schwierigsten Situationen, ohne eine genaue Losung, die ihr den Weg gewiesen hätte. Der zu Anfang in größter Unordnung erfolgte Rückzug der Arbeiter konnte nur unheilvolle Konsequenzen für das Leben der Organisation haben. Es folgten in der Tat die ersten Kämpfe gegen die Entlassungen. Die Metallarbeiter verstanden, daß es schon damals notwendig war, den Rückzug zu stoppen und dem Druck des Feindes standzuhalten. Die Entlassungen auf sich zu nehmen, wie es die Industriellen wollten, bedeutete, sich kurzfristig auf niedrigere Löhne vorzubereiten. Es erwies sich, daß der Kampf eine dringende Notwendigkeit zur Verteidigung des ganzen Proletariats war. Ohne hier noch einmal untersuchen zu wollen, was wir schon tausendmal aufgezeigt haben, begnügen wir uns damit, zu unterstreichen, daß die Metallarbeiter in ihrem Kampf allein gelassen wurden und sich auch diesmal zurückziehen mußten. Die Entlassungen erfolgten, aber die Unternehmer waren noch nicht damit zufrieden, daß sie ihre Macht in den Werken wiedererlangt hatten. Sie wollten ihre Macht auf noch brutalere Weise stärken und dachten sich neue Demütigungen aus, die sie der Arbeiterklasse zufügen wollten. Und jetzt kommen die Löhne an die Reihe. Die Metallarbeiter leisten Widerstand: An vielen Orten legen sie die Arbeit nieder, fest entschlossen zum Kampf.
Aber auch diesmal fehlt den Arbeitern eine Losung, so daß sie wieder nicht einheitlich vorgehen und unsicher im Kampf sind. Und die Industriellen mißbrauchen ihre Macht und brechen die Verträge, setzen Lohnkürzungen durch und vergreifen sich sogar am Achtstundentag. Diese Situation ist jedoch durch keine Vereinbarung legalisiert worden. Die Industriellen berufen sich immer auf einen Vertrag, auch wenn sie ihn selbst nicht mehr respektieren. Und deshalb wollen sie, daß die Gewerkschaft diesen Tatbestand anerkennt, und kämpfen dafür, daß die Beseitigung der Teuerungszulage in die neuen Arbeitsverträge aufgenommen wird. Der erst unterirdisch geführte Kampf wird zu einem offenen, war es zunächst ein stiller Kampf, so bricht er nun in seiner ganzen Härte aus. An diesem Punkte angelangt, kann die Gewerkschaft nicht mehr ignorieren, daß Lohnkürzungen erfolgt sind und daß die Industriellen, nachdem sie die Vereinbarungen zerrissen haben, diesen mit Gewalt geschaffenen Tatbestand legitimieren wollen. Für die Gewerkschaft gibt es nur ein einziges Problem: zustimmen oder kämpfen! Ein Jahr der Erfahrungen der Metallarbeiter, mit denen das Geschick aller anderen Arbeiter verbunden ist, beweist, daß es heute nicht mehr möglich ist, den Kampf aufzuschieben. Die Industriellen respektieren keine Vereinbarung mehr; je nachdem, wie stark sie sich fühlen, handeln sie. Die Gewerkschaft kann sich nicht einmal mehr auf die Verträge verlassen, die sie mit den Unternehmern abschließt, wenn diese nicht die Macht spüren, die sie hat. Der Kampf ist das einzige Mittel, das den Arbeitern und der Gewerkschaft noch bleibt, um den Septemberrückzug aufzuhalten. Aber der. Kampf darf nicht als die Anstrengung einer Abteilung angesehen werden. Die Realität dieser Monate hat bewiesen, wie trügerisch die Taktik ist, die Arbeiter nacheinander zum Kampf zu führen. Die Textilarbeiter, die Chemiearbeiter und die Metallarbeiter der Lombardei, Liguriens und der Venezia Giulia wissen, was es sie gekostet hat, allein gegen die Klasse der Unternehmer gekämpft zu haben. Es gab keine bessere Propaganda für die Einheitsfront als die, die durch die Realität der Ereignisse selbst in diesen letzten Monaten geführt worden war. Verschiedene Ministerien wurden gestürzt; man hatte geglaubt, den Forderungen der Industriellen Grenzen setzen zu können, indem speziell dafür eine Untersuchungskommission eingesetzt wurde; aber alle Versprechungen, alle Versuche auf diesem Gebiet brachten nur Nachteile für die Arbeiter. Die Realität hat also das Proletariat von der Notwendigkeit des allgemeinen Kampfes überzeugt. Unter dem Druck dieser Überzeugung, die in das Bewußtsein der Arbeiter eingedrungen war, haben auch die am entschiedensten gegen die Einheitsfront Auftretenden ihre Haltung ändern müssen und sich nolens volens der Aktion aller Arbeiter, die sich auf einem einzigen Kampffeld zusammen- fanden, anschließen müssen. Dieselbe Suggestivkraft der Einheit hat in Italien zur Schaffung der Arbeiterallianz [3] geführt, auf die die Arbeiter heute alle ihre Kampfeshoffnungen setzen. Die Arbeiterallianz ist wie die neue Festung, in der die Arbeiterklasse endlich ihre Sicherheit zu finden hofft. Groß ist deshalb die Aufgabe der Arbeiterallianz in diesem für das Leben des italienischen Proletariats so entscheidenden Moment. Die Metallarbeiter Piemonts und der Lombardei, die die Unterstützung der Arbeiterallianz für ihren Kampf forderten, haben das sicherlich nicht als Drohung gemeint, um eine sehr fragwürdige Solidarität zu erreichen, sondern in der festen Überzeugung, daß es heute nur möglich ist, der Offensive der Unternehmer die Stirn zu bieten, wenn man es unter der Fahne der proletarischen Einheit tut. Wenn diejenigen, die die Verantwortung für die bitterste Niederlage der Arbeiterklasse haben, das heute nicht begreifen, so hat diese wohl das Recht, morgen Rechenschaft von ihnen zu verlangen und sie die Schuld der Niedertracht und des Verrats blutig büßen zu lassen.
Alles, steht heute günstig für den allgemeinen Kampf: die Erfahrung der Vergangenheit und die heutige Realität, der Wille der Massen und die Lebensbedingungen, in die die Klasse der Unternehmer sie drängen möchte. Das nicht zu begreifen, sich auch heute noch der Einheit der Arbeiterkräfte zu widersetzen und mit leeren Versprechungen deren Verwirklichung zu verhindern, bedeutet, sich eines Verbrechens schuldig zu machen, das in der Geschichte stets persönlich bezahlt werden muß.
1. Dies ist der letzte Artikel, den Gramsci für den Ordine Nuovo als Tageszeitung geschrieben hat. Anschließend fuhr er nach Moskau,, um dort an der II,. Erweiterten Tagung des EKKI (7. bis 11. 6. 1922) teilzunehmen, die ihn in das EKKI wählte. Gramsci blieb daraufhin in Moskau bis zu seiner Abreise nach Wien im Dezember 1923.
2. Die Fabrikbesetzungen im Jahre 1920.
3. Die Arbeiterallianz (Alleanza del lavoro) wurde auf Grund eines Abkommens zwischen den Spitzenfunktionären der bedeutendsten Gewerkschaftszentralen und unabhängigen Gewerkschaften Italiens am 20.2.1922 ins Leben gerufen. Das Ziel dieses Zusammenschlusses war angeblich, durch! die direkte Aktion der Arbeiter dem faschistischen Terror ein Ende zu setzen und im Lande wieder gesetzliche Zustände herzustellen, wobei auch mit einem Generalstreik gerechnet wurde. Aus der Leitung der Arbeiterallianz waren jedoch die Vertreter der kommunistischen Opposition von vornherein durch die Reformisten ausgeschlossen worden. Die reformistischen Führer der stärksten Gewerkschaftszentrale, nämlich des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes, und die schwankenden republikanisch-syndikalistisch-anarchistischen Gewerkschaftsvertreter verhinderten jeden wirksamen Kampf der Arbeiterallianz gegen den Faschismus. Unter dem Terror der Faschisten brach sie endgültig zusammen, als im Juli 1922, zu spät und ohne jegliche Vorbereitung, der Generalstreik proklamiert wurde.
Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008