Antonio Gramsci


Volksaufstand

(23. Juli 1921)


Aus: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig 1980, S.101ff.
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In den 365 Tagen des Jahres 1920 haben 2.500 Italiener (Männer, Frauen, Kinder und Greise) unter den Kugeln der öffentlichen Sicherheitsorgane und des Faschismus den Tod auf Straßen und Plätzen gefunden. In den vergangenen 200 Tagen dieses barbarischen Jahres 1921 wurden ungefähr 1.500 Italiener durch die Kugel, durch das Messer und durch den mit Eisen bewehrten Schlagstock des Faschismus getötet; etwa 20.000 weitere äußerst freie Bürger des äußerst demokratischen Italien wurden durch reguläre Verfügungen verbannt oder durch Drohungen gezwungen, von ihren Arbeitsplätzen zu fliehen und durch das Land zu irren, ohne Hilfe, ohne Beschäftigung, ohne Familie; ungefähr 300 Gemeindeverwaltungen, die auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählt worden waren, wurden zum Rücktritt gezwungen; Druckereien und Redaktionen von etwa zwanzig sozialistischen, kommunistischen, republikanischen und Zeitungen der christlichen Volkspartei wurden zerstört; Hunderte und aber Hunderte von Arbeiterkammern, Volkhäusern, Genossenschaften, kommunistischen und sozialistischen Sektionen wurden geplündert und in Brand gesteckt; 15 Millionen Italiener aus der Emilia, dem Polesine, der Romagna, der Toskana, aus Umbrien, dem Veneto und der Lombardei standen ständig unter der Herrschaft bewaffneter Banden, die gebrandschatzt, geplündert, ungestraft geschlagen, Hausfriedensbruch begangen, Frauen und Greise beschimpft, Hunderte von Familien in Hunger und Verzweiflung getrieben, alle Gefühle des Volkes, von der Religion bis zur Familie, mit Füßen getreten und Kinder und Greise durch Terror wahnsinnig gemacht und in den Tod getrieben haben. Alles das wurde von den offiziellen Behörden gestattet; entweder wurde es von den Zeitungen verschwiegen oder aber gepriesen; ein allgemeiner Wahnsinn schien die führende Klasse, das Parlament und die Regierungen heimgesucht zu haben. Sie alle dachten, daß sich das nationale Leben nach faschistischem Rhythmus normalisieren könne, daß keinerlei Reaktion, weder psychischer noch physischer Art, in der auf diese Weise gequälten, gedemütigten und getretenen Bevölkerung hervorbrechen dürfte.

Heute ändert sich die Situation. Es handelt sich nicht mehr um Individuen oder Gruppen, die revoltieren, die versuchen, sich zu verteidigen und ihre Toten zu rächen; es sind ganze Bevölkerungsschichten, die sich ohne Unterschied der politischen Parteien erheben; der Priester läßt die Glocke Sturm läuten, während die Frauen kochendes Öl vorbereiten und die Männer sich mit allem, womit man zuschlagen kann, bewaffnen; sie bilden Verteidigungsgruppen, und mit einemmal spüren sie, wie der ganze aufgestaute Haß und alle erlittenen Demütigungen in ihnen auflodern, und sie werden rasend und sagen den Faschisten wie einen ausländischen Invasoren, der sich durch seine Schandtaten und seine Grausamkeit außerhalb der menschlichen Gesellschaft gestellt hat. Und endlich rührt sich der Staat; heute, da sich die Bevölkerung erhebt, regt sich der Staat; heute, da die Wut des Volkes sich Recht verschaffen will für die erlittenen Schmerzen, regt sich der Staat, ganz behutsam und vorsichtig, denn es handelt sich nicht darum, die armen Leute zu treffen, sondern es handelt sich darum, die Söhne der Bourgeois zu treffen, Menschen, die plündern, während sie mit der Trikolore drapiert rufen: „Es lebe Italien, es lebe der König!“, also auserwählte Leute aus der guten Gesellschaft, die verwandtschaftliche Beziehungen zu Abgeordneten, zur Militärhierarchie, zu Richtern haben. Und tatsächlich! Dreizehn Faschisten werden von der Polizei getötet [1], 13 Mitglieder einer bewaffneten Bande von 600 Personen, die gegen eine Stadt vorging: Trauer, Tränen, Trostlosigkeit. 2.500 Italiener wurden 1920 getötet; 1.500 Italiener wurden in den ersten sechs Monaten des Jahres 1921 getötet; sie jedoch gehörten einer niedrigen Kaste an, sie jedoch waren „Volksvieh“, von dem es viel zuviel gibt, das zu zahlreich ist für die verfügbaren Lebensmittel, das die Möglichkeiten der Produktion des kapitalistischen Apparates in Industrie und Landwirtschaft übersteigt. Deshalb protestiert niemand gegen ihre Ermordung, keine Trauer, keine Tränen, keine Trostlosigkeit wegen ihres gewaltsamen Endes. Die 13 sind mehr wert als die 4.000; der Tod der 13 läßt den Tod der 4000 vergessen, läßt die Schmerzen und die Leiden von Millionen und aber Millionen von Menschen vergessen, die sich unter dem Regime der faschistischen Invasion befinden.

Alles das ist natürlich. Es wäre dumm, etwas anderes zu erwarten, es wäre absurd, auf ein ständiges Vorgehen des Staates und der Zeitungen gegen den faschistischen Terror zu hoffen. Von der herrschenden Klasse die Zerschlagung des Faschismus zu fordern, hieße so viel, wie ihren Selbstmord zu fordern. Die Waffen, die fünf Minuten lang gegen die Faschisten gerichtet waren, werden nicht zögern, sich gegen das aufständische Volk zu richten; der Volksaufstand wird dem bürgerlichen Staat dazu dienen, die Waffen festzustellen, die sich im Besitz der Werktätigen befinden, und nach ihnen zu suchen. Die absurdesten Legenden wird man gegen das barbarische, unmenschliche und aus Kannibalen bestehende Volk erfinden; für 13 Tote aus der Bourgeoisie wird man sich ein Hekatombe von 1.000 Werktätigen leisten

Wenn das Volk nicht ständig auf der Hut ist, wenn es sich entwaffnen läßt, wenn es sich von den Versprechen desjenigen täuschen läßt, der niemals ein Versprechen gehalten hat, ... [2] Die Stunde, die wir jetzt erleben, ist tatsächlich die Stunde des Volkszornes; wehe den politischen Parteien, die keine Entscheidung zu fällen wissen, die aus der historischen Erfahrung der anderen Länder keine Schlußfolgerung für die eigene Aktion ziehen können.

Die Kommunistische Partei steht auf ihrem Platz; sie ist dabei, die volkstümlichste Partei Italiens zu werden, und zwar durch den Mut ihrer Mitglieder, die sich an die Spitze derer stellen, die sich erhoben haben, und sie zur Befreiung und zum Frieden führen. Die Menschen werden sich davon überzeugen, daß die Kommunistische Partei heute die einzige Partei ist, die Ordnung und Ruhe will und die diese beiden für die menschliche Gesellschaft unschätzbaren Güter gewährleisten kann„. Die Menschen werden vielfältige und reiche Erfahrungen sammeln, welchen Wert die parlamentarische Demokratie und die bürgerliche Gesetzgebung haben, die unfähig sind, den Massen Brot, Frieden sowie Sicherheit der Person und des Heims zu garantieren; und sie werden sich in den Städten und Dörfern erheben und sich zusammenschließen. Die bürgerlichen Zeitungen, die überall Kommunisten sehen, haben eine präzise Vorstellung von der italienischen Wirklichkeit: In Italien orientiert sich jede Volkserhebung schnell zur Kommunistischen Partei hin, in Italien wird die kommunistische Revolution die volkstümlichste und tiefgreifendste Bewegung sein, die es jemals in der Geschichte unseres Landes gegeben hat.


Anmerkungen

1. Als am 21. 7. 1921 eine Bande von Faschisten in der Ortschaft Sarzana eine „Strafexpedition“ durchzuführen versuchte, traten ihr zum ersten Male die Karabinieri mit Waffengewalt entgegen. Die Faschisten flohen und ließen dreizehn Tote und zahlreiche Verletzte zurück. Diese Episode zeigte, daß die Staatsgewalt, wenn sie den Willen dazu aufgebracht hätte, ohne weiteres imstande gewesen wäre, dem Terror der Faschisten Einhalt zu gebieten.

2. Eine Zeile unleserlich.


Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008