Antonio Gramsci


Die Revolution in Deutschland

(30. März 1921)


Aus: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, S.89ff; Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig 1980.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wenn auch die Nachrichten aus Deutschland [1] fragmentarisch und ungenau sind, was eine Folge der Bedingungen ist, unter denen die Bewegung sich vollzieht, aber auch durch zahlreiche Elemente verursacht wird, die ein Interesse daran haben, die Wahrheit zu verfälschen, und die ausdrücklich zu ihrer Verfälschung eingreifen, so sagen sie doch, daß ein nicht unbedeutender Teil des revolutionären deutschen Proletariats einen Kampf aufgenommen hat, der sich in einen grundlegenden Kampf zur Verteidigung und zur Erreichung des höchsten Zieles zu verwandeln scheint.

Die Bewegung ist unter Bedingungen entstanden, die im gegenwärtigen Moment für fast alle Länder typisch sind, in denen der Klassenkampf den Höhepunkt seiner Schärfe und seiner Erbitterung erreicht hat.

Unter dem Vorwand, anstelle der Armee eine private Verteidigungsorganisation aufbauen zu wollen, hatte die Bourgeoisie in den verschiedenen Ländern Deutschlands seit einigen Monaten begonnen, ihre Weiße Garde zu organisieren. Gleichzeitig hatte die Industriekrise, die durch die Maßnahmen der Alliierten hervorgerufen und von den Chefs der großen Trusts zum Zwecke des Widerstandes aus nationalistischen und klassenmäßigen Beweggründen verschärft worden war, ihre äußerste Grenze erreicht. Während die Banden der „Faschisten“ mit ihren Provokationen in den zentral gelegenen Städten begannen und die Regierung und ihre Justizbehörden sie offen schützten, begannen auch die Entlassungen in den größten Industriezentren, ja, sie griffen in immer größerem Maße um sich. Einschüchterung durch Gewalt und Arbeitslosigkeit sind die Heilmittel, deren sich die Bourgeoisie eines jeden Landes zu ihrer eigenen Rettung bedient. Hunger und Terror sind die Mittel, mit denen sie den Vorkriegszustand im Wirtschaftsleben wiederherzustellen hofft, einen Zustand des relativen Gleichgewichts, einen Zustand der Ruhe für die Unternehmer und die Ausbeuter, einen Zustand der Sicherheit des Profits, der durch einen Überschuß an Arbeitskräften auf dem Markt und durch den Mangel an uneingeschränkter und vollständiger Solidarität und an Kampfesmut in der Arbeiterklasse garantiert werden soll. Die Anwendung dieses Planes der „Ordnung“ in Deutschland wäre von unermeßlicher Bedeutung für Europa und die Welt; es wäre vielleicht der bedeutendste Schritt auf dem Wege zur Wiederherstellung der bürgerlichen Vorkriegswelt. Um Deutschland dreht sich ganz Europa, dreht sich das bürgerliche Europa, dessen fortwährende nationalistische Eifersüchteleien und schlechtverhehlte Gier nach Eroberung es daran hindern, wieder mit dem arbeitsamsten der Industrieländer zusammenzuarbeiten. Um Deutschland dreht sich auch das proletarische Europa, das an das Schicksal dieser so großen und gewaltigen Massen gebunden ist, die sogar in der Lage sind, mit einer Bewegung die Geschicke einiger Staaten zu entscheiden und das Zentrum der europäischen Politik vollständig zu verlagern.

Die Bedeutung einer deutschen revolutionären Bewegung, wenn sie ihr Ziel erreichen würde, zwingt uns, vorsichtig in der Beurteilung zu sein. Als im Jahre 1919 der Angriff des Spartakusbundes den bürgerlichen Staat und die sozialdemokratischen Verräter ins Herz zu treffen schien, spürten die revolutionären Kämpfer ganz Europas, daß Spartakus für sie kämpfte, spürten sie, daß eine siegreiche deutsche Revolution eine endgültige Verbindung aller proletarischen Kräfte Mitteleuropas mit dem Rußland der Arbeiter und Bauern bedeutet hätte und daß das der Beginn des Befreiungskampfes auch für die westlichen Länder gewesen wäre. Und der Sturz von Spartakus bedeutete für die internationale Bewegung den Stillstand.

Daß auch heute die deutschen Kommunisten für die gesamte Internationale kämpfen, ist klar. Sicher, wir wissen noch nicht genau, welche Kräfte sie haben, und auch nicht, welche unmittelbaren Vorbereitungen sie treffen und welches ihre ersten Ziele sind. Aber wir wissen, und wir spüren, daß wir mit ihnen zu ein und derselben Organisation, zu ein und derselben Armee gehören, nämlich zur Organisation und Armee der Kommunistischen Internationale. Und es ist ein und dieselbe Schlacht, die unter ihrer Fahne geschlagen wird ... [2]

Den Provokationen der Industriebourgeoisie und ihrer bewaffneten Banden gegenüber geben die deutschen Kommunisten ein Beispiel, wie man sofort darauf antwortet und wie man unmittelbar an die Kraft der Arbeiterklasse appelliert. Die Kommunisten Deutschlands geben ein Beispiel dafür, daß bestimmte Positionen nur durch den Angriff und nicht anders verteidigt werden können; sie beweisen, daß das Proletariat, statt den ersten Gewaltakt über sich ergehen zu lassen, statt etwas zu tun, was als Beweis der Schwäche oder mangelnden Vertrauens zu sich selbst aufgefaßt werden könnte, immer bereit sein muß, zu den Waffen zu greifen, um seine Freiheit, seine Würde, seine Zukunft und sein Leben zu verteidigen.

Besser hundert Konflikte als eine einzige Handlung der Schwäche oder der Feigheit. Das Blut von Spartakus hat den Boden des Klassenkampfes in Deutschland und in der ganzen Welt befruchtet; aber der Kämpfer, der aufgibt und sich ohne Verteidigung zurückzieht, wird morgen nach seiner Niederlage noch getreten und beschimpft werden.

Heute nimmt Spartakus seinen Kampf wieder auf. Er hält für alle die internationale Tradition aufrecht, er sichert allen die Kontinuität des Kampfes. Und mit Spartakus sind heute alle Kämpfer der Arbeiterklasse in der ganzen Welt solidarisch.


Anmerkungen

1. Der Artikel bezieht sich auf die Märzkämpfe 1921 in Mitteldeutschland.

2. Hier folgt eine unleserliche Zeile.

 


Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008