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Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.80-89.
Zuerst veröffentlicht in Ordine Nuovo, 4. u. 9. September 1920.
Ursprünglich vewröffentlicht in Ordine Nuovo, 12. Juni 1920.
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Seit Sorel ist es ein Gemeinplatz, sich auf die urchristlichen Gemeinden zu berufen, um die moderne proletarische Bewegung zu charakterisieren. Man muß sofort sagen, daß Sorel in keiner Weise für die Engherzigkeit und Undifferenziertheit seiner italienischen Bewunderer verantwortlich ist, wie auch Karl Marx nicht für die absurden ideologischen Prätentionen der „Marxisten“ verantwortlich gemacht werden kann. Sorel ist auf dem Gebiet der geschichtlichen Untersuchungen ein „Erfinder“, er kann nicht imitiert werden, er stellt seinen strebsamen Schülern keine mechanisch anwendbare Methode zur Verfügung, die dann auch alle zu intelligenten Entdeckungen führt. Für Sorel wie für die marxistische Lehre stellt das Christentum eine Revolution im höchsten Entwicklungsstadium dar, das heißt eine Revolution, die bis zu ihren äußersten Konsequenzen vorgedrungen ist: bis zur Schöpfung eines neuen und originalen Systems moralischer, rechtlicher, philosophischer und künstlerischer Verhältnisse; diese Ergebnisse als ideologische Schemata jeder Revolution anzunehmen, heißt, die geschichtliche Intuition Sorels grob und unintelligent zu mißbrauchen, die lediglich Anlaß zu einer Reihe geschichtlicher Untersuchungen über die „Keime“ einer proletarischen Zivilisation geben kann; diese Keime muß es geben, wenn es stimmt (wie Sorel annimmt), daß die proletarische Revolution der modernen industriellen Gesellschaft immanent ist, und wenn es stimmt, daß daraus auch originale Lebensregeln und ein System von absolut neuen, für die revolutionäre Klasse charakteristischen Verhältnissen hervorgehen werden. Was bedeutet also die Behauptung, daß, im Gegensatz zu den Urchristen, die Arbeiter nicht keusch, nicht enthaltsam, in ihrem Lebensstil nicht originell sind? Abgesehen von der dilettantischen Verallgemeinerung, derzufolge die „Turiner Metallarbeiter“ zu einem zusammengewürfelten Haufen von Unholden werden, die jeden Tag ein gebratenes Hühnchen essen, sich jede Nacht in Freudenhäusern betrinken, die Familie nicht lieben, die im Kino und in der äffischen Imitation bürgerlicher Angewohnheiten die Befriedigung ihrer Ideale von Schönheit und moralischem Leben suchen – abgesehen von dieser läppischen und kindischen Verallgemeinerung, kann diese Behauptung keinesfalls die Voraussetzung eines geschichtlichen Urteils sein; sie entspräche in ihrer geschichtlichen Intelligenz etwa der Behauptung: da die modernen Christen Hühnchen essen, hinter den Frauen herlaufen, sich betrinken, falsch Zeugnis reden, Ehebrecher sind etc. etc., deshalb ist es eine Legende, daß es Asketen, Märtyrer, Heilige gegeben hat. Kurzum, jedes historische Phänomen muß auf seine besonderen Charakteristika hin untersucht werden, im Rahmen der wirklichen Aktualität, als Entwicklung der Freiheit, die sich in Zielen, in Instituten, in Formen manifestiert, die keinesfalls (es sei denn metaphorisch) mit den Zielen, Instituten, Formen vergangener geschichtlicher Phänomene verglichen werden können. Jede Revolution, die sich, wie die christliche und die kommunistische, durch einen Aufstand der tiefsten und breitesten Volksmassen verwirklicht und nur dadurch verwirklichen kann, muß das gesamte bestehende System gesellschaftlicher Organisation zerbrechen; wer kann sich die unmittelbaren Folgen vorstellen und vorhersehen, welche Zerstörungen und geschichtlichen Umschöpfungen sich vollziehen, wenn die breiten Massen, die heute weder Willen noch Macht haben, auf den Plan treten? Da sie nie „gewollt und gekonnt“ haben, werden sie verlangen, daß in jeder öffentlichen und privaten Handlung der eroberte Wille und die eroberte Macht Gestalt annehmen; sie werden gefühlsmäßig alles Bestehende als feindlich erachten und es von Grund auf zerstören wollen; aber gerade angesichts dieser Unermeßlichkeit der Revolution, angesichts ihres Charakters der Unvorhersehbarkeit und der grenzenlosen Freiheit, wer wird da auch nur eine einzige definitive Hypothese wagen über die Gefühle, die Leidenschaften, die Initiativen, die Tugenden, die sich in einem solchen weißglühenden Schmelztiegel bilden werden? Was heute außerhalb der Reichweite unseres Willens und der Kraft unseres Charakters existiert, was wir heute sehen, welche Veränderungen wird es erfahren? Wird nicht jeder Tag eines solchen intensiven Lebens eine Revolution sein? Wird nicht jede Veränderung im individuellen Bewußtsein unvorstellbare schöpferische Ergebnisse zeitigen, sofern diese Veränderung für die ganze Masse des Volkes gleichzeitig erfolgt?
Von heutigen Beobachtungen ausgehend lassen sich für die Ordnung des geistigen Lebens und der Gefühle keine Vorhersagen machen. Ein einziges Gefühl, so konstant, daß es für die Arbeiterklasse charakteristisch geworden ist, läßt sich heute feststellen: das Gefühl der Solidarität. Aber Intensität und Kraft dieses Gefühls können nur abgeschätzt werden als Unterstützung des Widerstands- und Opferwillens für einen Zeitraum, den das Volk auch bei seiner geringen Fähigkeit zu geschichtlicher Voraussicht noch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu bemessen vermag; Intensität und Kraft des Solidaritätsgefühls können nicht als Stütze des historischen Willens für die Zeit der revolutionären Schöpfung und der Gründung der neuen Gesellschaft abgeschätzt und folglich auch nicht als Stütze angenommen werden; denn im letzteren Fall ist es unmöglich, irgendeine zeitliche Grenze für Widerstand und Opfer festzusetzen, da der zu bekämpfende und zu besiegende Feind nicht mehr außerhalb des Proletariats steht, keine begrenzte und kontrollierbare, äußere, physische Kraft mehr sein wird. Sondern der „Feind“ wird innerhalb des Proletariats selbst existieren, begründet in dem Unwissen des Proletariats, in seiner Faulheit, in seiner massiven Undurchdringlichkeit raschen Intuitionen gegenüber; der „Feind“ existiert innerhalb des Proletariats, wenn die Dialektik des Klassenkampfes sich verinnerlicht haben wird und der neue Mensch bei jeder Handlung den im Hintergrund lauernden „Bourgeois“ bekämpfen muß. Deshalb kann die Arbeitergewerkschaft, der Organismus, der die proletarische Solidarität diszipliniert und verwirklicht, weder Anlaß noch Basis der Voraussicht für die Zukunft der Gesellschaft sein; sie enthält keine Elemente zur Entwicklung der Freiheit; sie ist dazu bestimmt, radikalen Veränderungen als Folgen der allgemeinen Entwicklung unterworfen zu sein: sie ist determiniert, nicht determinierend.
In ihrer gegenwärtigen Phase tendiert die proletarische Bewegung zu einer Revolution der Organisation der materiellen Dinge und der physischen Kräfte; sie kann nicht von den Gefühlen und Leidenschaften der Masse, die ihren Willen unterstützen, gekennzeichnet sein; die charakteristischen Züge der proletarischen Revolution können nur in der Partei der Arbeiterklasse, in der kommunistischen Partei, gefunden werden; sie besteht und entwickelt sich, indem sie die disziplinierte Organisation des Willens ist, einen Staat zu gründen, des Willens, die vorhandenen physischen Kräfte im Sinne des Proletariats zu regeln und die Grundlagen zur Freiheit des Volkes zu legen.
Die kommunistische Partei ist gegenwärtig die einzige Institution, die sich ernsthaft mit den religiösen Gemeinden des Urchristentums vergleichen kann; soweit die Partei bereits auf internationalem Niveau besteht, kann man einen Vergleich wagen und einige Urteile über die Kämpfer für die civitas Dei und über die Kämpfer für die civitas hominum fällen; der Kommunist steht dem Christen der Katakomben sicherlich nicht nach. Im Gegenteil! Das unaussprechliche Ziel, das das Christentum seinen Vorkämpfern setzt, bietet aufgrund seines suggestiven Mysteriums eine volle Rechtfertigung des Heroismus, der Sehnsucht nach Martyrium und Heiligkeit; es ist nicht notwendig, die großen menschlichen Kräfte des Charakters und des Willens mit ins Spiel zu bringen, um den Opfergeist dessen wachzurufen, der an die himmlische Belohnung und an die ewige Seligkeit glaubt. Der kommunistische Arbeiter, der wochenlang, monatelang, jahrelang selbstlos nach acht Stunden Fabrikarbeit weitere acht Stunden für die Partei, die Gewerkschaft und die Genossenschaft arbeitet, ist – vom Standpunkt der Menschheitsgeschichte aus – größer als der Sklave oder der Handwerker, der jeder Gefahr trotzte, um sich zur geheimen Gebetsversammlung zu begeben. So betrachtet sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht größer als die größten Heiligen Christi. Eben weil das Ziel ihres konkret, menschlich begrenzt ist, sind die Kämpfer der Arbeiterklasse größer als die Kämpfer Gottes: die moralischen Kräfte, die ihren Willen aufreiben, sind um so unermeßlicher, je klarer das dem Willen gesteckte Ziel ist. Welche Kraft der Expansion können die Gefühle des Arbeiters haben, der, über seine Maschine gebeugt, acht Stunden täglich die berufliche Geste wiederholt, monoton wie das Abbeten eines Rosenkranzes, wenn er einmal „Herrscher“ sein wird, wenn er zum Maß der gesellschaftlichen Werte wird? Ist nicht allein die Tatsache ein Wunder, daß es dem Arbeiter noch gelingt zu denken, obwohl er etwas tun muß, ohne das Wie und Warum seiner praktischen Tätigkeit zu kennen? Dieses Wunder des Arbeiters, der täglich seine eigene geistige Autonomie erobert und die eigene Freiheit, Ideen in eine Ordnung zu bringen, der gegen die Müdigkeit, die Langeweile kämpft, gegen die Monotonie der Geste, die das Innenleben zu mechanisieren und folglich abzutöten droht, dieses Wunder organisiert sich in der kommunistischen Partei, im Willen zum Kampf und zur revolutionären Schöpfung.
Der Arbeiter hat in der Fabrik nur rein ausführende Funktionen. Er folgt nicht dem allgemeinen Arbeits- und Produktionsprozeß; er ist kein Punkt, der sich bewegt, um eine Linie zu schaffen; er ist eine an einem bestimmten Platz festgesteckte Stecknadel, und die Linie ergibt sich aus einer Aufeinanderfolge von Stecknadeln, die ein fremder Wille zu seinen Zwecken angeordnet hat. Der Arbeiter neigt dazu, diese seine Seinsweise in alle Kreise seines Lebens zu tragen; überall paßt er sich leicht der Aufgabe an, materiell Ausführender, „Masse“, zu sein, die von einem ihm fremden Willen geführt wird; er ist, intellektuell gesehen, faul, weiß nichts und will nichts außerhalb des unmittelbar Gegebenen sehen, deshalb ist er bar jeden Kriteriums bei der Wahl seiner Führer und läßt sich leicht von Versprechungen täuschen; er glaubt, ohne eine große Anstrengung seinerseits und ohne zuviel denken zu müssen, etwas bekommen zu können. Die kommunistische Partei ist das Instrument und die historische Form eines inneren Befreiungsprozesses, durch den der Arbeiter von einem Ausführenden zu einem Initiator, von der Masse zum Führer, von dem Arm zu Kopf und Willen wird; mit der Bildung der kommunistischen Partei ist der Keim zur Freiheit gelegt, die ihre Entwicklung und ihre ganze Ausdehnung erreichen wird, nachdem der Arbeiterstaat die notwendigen materiellen Bedingungen organisiert hat. Der Sklave oder der Handwerker der Antike „kannte sich selbst“, verwirklichte seine Befreiung durch den Beitritt zu einer christlichen Gemeinde, wo er konkret fühlte, gleich zu sein, Bruder zu sein, weil Sohn desselben Vaters; so ist es mit dem Arbeiter, wenn er der kommunistischen Partei beitritt, wo er mitarbeitet, originale Lebensweisen zu „entdecken“ und zu „erfinden“, wo er „freiwillig“ an der Tätigkeit der Welt teilhat, verantwortlich ist; wo er nicht nur organisiert, sondern auch Organisator ist, wo er fühlt, daß er eine Avantgarde bildet, die die ganze Volksmasse mit sich zieht.
Auch als bloße Organisation hat sich die kommunistische Partei als eine besondere Form der proletarischen Revolution erwiesen. Keine Revolution der Vergangenheit hat Parteien gekannt; sie sind nach der bürgerlichen Revolution entstanden und im Rahmen der parlamentarischen Demokratie zerfallen. Auch hier erwies sich die marxistische Idee als wahr, daß der Kapitalismus Kräfte hervorruft, die er schließlich nicht mehr beherrschen kann. Die demokratischen Parteien dienten dazu, hervorragende Politiker ausfindig zu machen und sie über die politische Konkurrenz triumphieren zu lassen; heute werden die Männer der Regierung durch die Banken, die großen Zeitungen, die Industrieverbände eingesetzt; die Parteien haben sich in eine Vielzahl von persönlichen Cliquen aufgelöst. Die kommunistische Partei, die aus der Asche der sozialistischen Parteien entstand, verwirft ihren demokratischen und parlamentarischen Ursprung und enthüllt ihre wesentlichen Charakterzüge, die in der Geschichte einmalig sind: die russische Revolution wurde von Menschen vollendet, die in der kommunistischen Partei organisiert sind, die in der Partei eine neue Persönlichkeit und neue Gefühle erworben haben und ein geistiges Leben verwirklichen, das danach strebt, universelles Bewußtsein und Ziel für alle Menschen zu werden.
Die politischen Parteien sind der Reflex und die Nomenklatur der Gesellschaftsklassen. Sie entstehen, entwickeln sich, lösen sich auf, erneuern sich, je nachdem, ob die einzelnen Schichten der kämpfenden Gesellschaftsklassen Verschiebungen von wirklich geschichtlicher Tragweite unterliegen, ihre Existenz- und Entwicklungsbedingungen radikal verändert sehen, eine größere und klarere Bewußtheit ihrer selbst und der eigenen vitalen Interessen erwerben. Für die gegenwärtige Periode, als Folge des imperialistischen Krieges, der die Struktur des nationalen und internationalen Produktions- und Tauschapparats grundlegend verändert hat, ist die Schnelligkeit charakteristisch, mit der sich der Aufklärungsprozeß der traditionellen, im Rahmen der parlamentarischen Demokratien entstandenen politischen Parteien vollzieht, und die Schnelligkeit, mit der neue politische Organisationen entstehen: dieser allgemeine Prozeß gehorcht einer unerbittlichen inneren Logik, die im Zerfall der alten Klassen und alten Schichten Gestalt annimmt und im verwirrenden Übergang ganzer Bevölkerungsschichten von einer Situation zur anderen, und zwar im ganzen Staatsgebiet und oft auch im gesamten Bereich der kapitalistischen Herrschaft.
Auch die Gesellschaftsklasse, deren Differenzierung sich geschichtlich am trägsten und am spätesten vollzieht, wie die Klasse der Bauern, entgeht nicht dem energischen Einfluß der die Gesellschaft zersetzenden Reagentien. Es sieht im Gegenteil so aus, als ob diese Klassen, je träger und zurückgebliebener sie früher waren, heute um so schneller zu den dialektisch äußersten Konsequenzen des Klassenkampfes gelangen wollen, zum Bürgerkrieg und zur Zerstörung der bestehenden ökonomischen Verhältnisse. Innerhalb von zwei Jahren haben wir in Italien, wie aus dem Nichts, eine mächtige Partei der Bauernklasse entstehen sehen: die Volkspartei. Bei ihrer Gründung gab sie vor, die ökonomischen Interessen und die politischen Bestrebungen aller Gesellschaftsschichten des Landes zu vertreten, vom Latifundienbesitzer bis zum mittleren Landeigentümer, vom kleinen Eigentümer bis zum Pächter, vom Halbpächter bis zum armen Bauern. Wir haben beobachtet, wie die Volkspartei nahezu hundert Sitze im Parlament eroberte, über Blocklisten, auf denen die Vertreter des Latifundienbarons, des großen Waldbesitzers, des großen und mittleren Grundbesitzers absolut vorherrschten, obwohl sie insgesamt nur eine äußerst kleine Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung darstellten. Wir haben gesehen, wie sofort und rasch um sich greifend in der Volkspartei interne Kämpfe der einzelnen Richtungen einsetzten als Reflex der Differenzierung, die sich in der ursprünglichen Wählermasse vollzog; die großen Massen der kleinen Eigentümer und der armen Bauern wollten nicht mehr die passive Manövriermasse sein, damit die mittleren und großen Eigentümer ihre Interessen durchsetzen konnten; unter ihrem energischen Druck teilte sich die Volkspartei in einen rechten Flügel, in ein Zentrum und in eine Linke. Wir konnten beobachten, daß unter dem Druck der armen Bauern die äußerste Linke der Volkspartei sich revolutionär gebärdete und mit der Sozialistischen Partei konkurrierte, die auch zur Vertreterin breitester Bauernmassen geworden war. Wir sehen bereits die Zersetzung der Volkspartei, deren Parlamentsfraktion und Zentralkomitee nicht mehr die Interessen und das neue Selbstbewußtsein der Wählermassen und die in den weißen Gewerkschaften organisierten Kräfte vertreten; diese werden vielmehr von den Extremisten vertreten, die nicht die Kontrolle über die bäuerlichen Wählermassen verlieren wollen, sie auch nicht durch eine legale Aktion im Parlament täuschen können und sich folglich gezwungen sehen, zu einem gewaltsamen Kampf Zuflucht zu nehmen und neue Regierungsinstitutionen in Erwägung zu ziehen. Der gleiche Prozeß rascher Organisation und noch schnellerer Auflösung spielte sich in einer anderen politischen Strömung ab, die die Interessen der Bauern vertreten wollte: bei der Vereinigung der ehemaligen Frontkämpfer. Dies sind Auswirkungen der furchtbaren inneren Krise, die das italienische Land erschüttert und die sich in den gigantischen Streiks Nord- und Mittelitaliens manifestiert; die apulischen Latifundien wurden besetzt und aufgeteilt, feudale Schlösser wurden gestürmt, und Hunderte und Tausende von bewaffneten Bauern drangen in die Städte Siziliens ein. Dieser tiefgreifende Aufruhr der Bauernklassen erschüttert das Gerüst des demokratisch-parlamentarischen Staates bis in die Grundfesten. Als politische Kraft reduziert sich der Kapitalismus auf einen Interessenverband der Fabrikbesitzer; er verfügt nicht mehr über eine politische Partei, deren Ideologie auch die kleinbürgerlichen städtischen und ländlichen Schichten ergreift und somit das Weiterleben eines legalen Staates auf breiter Basis erlauben würde. Der Kapitalismus sieht sich nur noch durch die großen Zeitungen (400.000 Auflage, tausend Wähler) und durch den Senat politisch vertreten, der als Institution gegen die Aktionen und Reaktionen der großen Volksmassen zwar immun, aber ohne Autorität und Prestige im Lande ist. Deshalb neigt die politische Kraft des Kapitalismus dazu, sich immer mehr mit der oberen Militärhierarchie, mit der Guardia Regia, mit den vielerlei nach dem Waffenstillstand umherschwirrenden Abenteurern zu identifizieren, die, sich untereinander befehdend, der Kornilow oder Bonaparte Italiens werden möchten. Deshalb kann sich die politische Macht des Kapitalismus heute nur noch in einem militärischen Staatsstreich realisieren und im Versuch, eine eiserne, nationalistische Diktatur durchzusetzen, die die verrohten italienischen Massen dazu treiben wird, durch bewaffnete Plünderung der Nachbarländer die Ökonomie zu restaurieren.
Da sich die Bourgeoisie als führende Klasse erschöpft hat, der Kapitalismus als Produktions- und Austauschform, die einen Staat zu schaffen fähig wäre, verbraucht ist, ist die Arbeiterklasse unausweichlich von der Geschichte berufen, die Verantwortung als führende Klasse auf sich zu nehmen. Nur das Proletariat ist fähig, einen starken und gefürchteten Staat zu schaffen; denn es hat ein Programm für den ökonomischen Wiederaufbau: den Kommunismus, der seine notwendigen Prämissen und Bedingungen in der Entwicklungsphase vorfindet, die der Kapitalismus mit dem imperialistischen Krieg von 1914 erreichte. Nur durch ein neues Organ des öffentlichen Rechts, das System der Sowjets, kann das Proletariat der flüssigen und weißglühenden gesellschaftlichen Masse eine dynamische Form geben und durch die allgemeine Umwandlung der Produktivkräfte wieder eine Ordnung herstellen. Es ist natürlich und historisch gerechtfertigt, daß sich gerade in einer Zeit wie dieser sich das Problem der Gründung einer kommunistischen Partei stellt, die Ausdruck der proletarischen Avantgarde ist, ein genaues Bewußtsein ihrer geschichtlichen Mission hat, die neue Ordnungen schaffen wird und die Initiatorin und Protagonistin der neuen und neuartigen Geschichtsperiode sein wird.
Auch die traditionelle politische Partei der italienischen Arbeiterklasse, die Sozialistische Partei, hat sich diesem für unsere Periode charakteristischen Zersetzungsprozeß aller Formen von Verbänden nicht entziehen können. Zu glauben, das alte Parteigefüge von seinem inneren Zerfall retten zu können, war der kolossale geschichtliche Irrtum der Männer, die vom Ausbruch des Weltkrieges bis heute die Regierungsorgane unseres Verbandes kontrolliert haben. In Wirklichkeit unterscheidet sich die italienische Sozialistische Partei in nichts von der englischen Labour Party und ist revolutionär nur in den allgemeinen Sätzen ihres Programms. Der Grund dafür liegt in ihren Traditionen, im historischen Ursprung ihrer verschiedenen Strömungen, im stillschweigenden oder expliziten Bündnis mit dem allgemeinen Gewerkschaftsbund (einen Pakt, der auf den Kongressen und Ratssitzungen und allen beschließenden Zusammenkünften dazu dient, den Gewerkschaftsfunktionären eine ungerechtfertigte Macht zu garantieren), in der unbegrenzten Autonomie der Parlamentsgruppe (die auch den Abgeordneten auf Kongressen, Ratssitzungen und hochwichtigen Beratungen eine den Gewerkschaftsfunktionären ähnliche Macht verleiht, die ebenso ungerechtfertigt ist). Die Sozialistische Partei ist ein Konglomerat von Parteien. Sie bewegt sich, aber kann sich nur träge bewegen. Sie ist ständig der Gefahr ausgesetzt, zur leichten Beute von Abenteurern, Karrieremachern und Ehrgeizlingen ohne Ernst und politische Fähigkeit zu werden. Durch ihre Heterogenität, durch die vielfachen Störungen in ihrem Getriebe, das von den Liebedienern ausgehölt und sabotiert wurde, ist sie nie imstande, das Gewicht und die Verantwortung für die revolutionären Initiativen und Aktionen auf sich zu nehmen, die die drohenden Ereignisse unaufhörlich von ihr verlangen. Das erklärt das geschichtliche Paradoxon, daß es in Italien die Massen sind, die die Partei der Arbeiterklasse antreiben und „erziehen“, und es nicht die Partei ist, die die Massen führt und erzieht.
Die Sozialistische Partei gibt sich als Verfechterin der marxistischen Lehren aus; die Partei müßte demnach in diesen Lehren einen Kompaß haben, um sich in den verwirrenden Ereignissen zurechtzufinden, müßte jene Fähigkeit zur historischen Voraussicht haben, die die intelligenten Anhänger der marxistischen Dialektik auszeichnet. Sie müßte einen auf dieser geschichtlichen Voraussicht beruhenden allgemeinen Aktionsplan haben und in der Lage sein, der kämpfenden Arbeiterklasse klare und genaue Losungen zu geben. Jedoch ist die Sozialistische Partei, – die Partei, die in Italien den Marxismus vertritt – wie der Partito Popolare die Partei der rückständigsten Klassen Italiens – allen Pressionen der Massen ausgesetzt. Sie agiert und differenziert sich erst, wenn die Massen agiert und sich differenziert haben. In Wirklichkeit ist diese Sozialistische Partei, die sich Führerin und Lehrerin der Massen nennt, nichts anderes als ein armer Notar, der die spontanen Operationen der Massen registriert; diese arme Sozialistische Partei, die sich Führerin der Arbeiterklasse nennt, ist nichts anderes als ein Hindernis für die proletarische Armee.
Wenn dieses seltsame Vorgehen der Sozialistischen Partei und diese bizarre Stellung der politischen Partei der Arbeiterklasse bisher noch keine Katastrophe heraufbeschworen haben, so deshalb, weil es innerhalb der Arbeiterklasse – in den städtischen Sektionen der Partei, in den Gewerkschaften, in den Fabriken, in den Dörfern – energische Gruppen von Kommunisten gibt, die ihrer geschichtlichen Aufgabe bewußt sind, die tatkräftig und in der Aktion erfahren sind und fähig, die lokalen Massen des Proletariats zu führen und zu erziehen; somit existiert potentiell innerhalb der Sozialistischen Partei eine kommunistische Partei, der nur die ausgesprochene Organisation, die Zentralisierung und die eigene Disziplin fehlen, um sich rasch entwickeln, das Gefüge der Partei der Arbeiterklasse erobern und erneuern, dem allgemeinen Gewerkschaftsbund und der Genossenschaftsbewegung eine neue Richtung geben zu können.
Das unmittelbare Problem dieser Periode, der Periode nach dem Kampf der Metallarbeiter in Turin und vor dem Parteikongreß, auf dem die Partei ernsthaft und genau ihre Stellung zur Kommunistischen Internationale klären muß, liegt eben darin, die bereits bestehenden und wirksamen kommunistischen Kräfte zu organisieren und zu zentralisieren. Von Tag zu Tag zerfällt die Sozialistische Partei mit rasender Geschwindigkeit; in sehr kurzer Zeit wandelten sich bereits die Tendenzen. Vor die Verantwortung für die geschichtliche Aktion gestellt und angesichts der Verpflichtungen, die sich aus dem Beitritt zur Kommunistischen Internationale ergeben, haben sich Personen und Gruppen zerstreut oder umgestellt; ein Teil der Direktion hat eine zweideutige zentristische und opportunistische Haltung angenommen und stiftet Verwirrung in den Sektionen. Bei diesem allgemeinen Niedergang des Bewußtseins, des Glaubens und des Willens, bei diesem Umsichgreifen von Gemeinheit, Niedertracht und Defaitismus ist es die Pflicht der Kommunisten, sich zu festen Gruppen zusammenzuschließen, sich miteinander vertraut zu machen, sich für die zukünftigen Losungen bereitzuhalten. Auf die Thesen des Zweiten Kongresses der III. Internationale gestützt und in loyaler Disziplin gegenüber der höchsten Autorität der Weltarbeiterbewegung, müssen die aufrichtigen und selbstlosen Kommunisten die notwendige Arbeit leisten, damit in möglichst kurzer Zeit eine kommunistische Fraktion der italienischen Sozialistischen Partei gebildet wird; sie muß dann, um des guten Namens des italienischen Proletariats willen, auf dem Kongreß von Florenz nominell und de facto die Kommunistische Partei Italiens und Sektion der III. Internationale werden. Denn die kommunistische Fraktion muß sich mit einem organischen und stark zentralisierten Führungsapparat konstituieren, mit eigenen disziplinierten Gliederungen überall dort, wo die Arbeiterklasse arbeitet, sich versammelt und kämpft, und mit einem komplexen Instrumentarium zur Kontrolle, Aktion und Propaganda, das sie in die Lage versetzt, sofort als richtige Partei zu fungieren und sich zu entwickeln.
Die Kommunisten, die im Kampf der Metallarbeiter durch ihre Energie und ihre Initiative die Arbeiterklasse vor einem Unglück bewahrt haben, müssen in ihrer Haltung und ihren Aktionen bis zu den letzten Schlußfolgerungen gelangen: sie müssen die ursprüngliche Struktur der Partei der Arbeiterklasse wiederherstellen, müssen dem italienischen Proletariat die kommunistische Partei geben, die fähig ist, den Arbeiterstaat und die Bedingungen für die kommunistische Gesellschaft zu schaffen.
Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008