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Aus: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig, 1980.
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Die „Militärdiktatur“ ist zum Angriff gegen die deutsche „Demokratie“ übergegangen. Sie ist jedoch nicht mit den Organisationen des parlamentarischen Staates zusammengeprallt, die außerhalb dieser Militärdiktatur kein Dasein hatten, auch nicht mit den zum allgemeinen Wahlrecht und zur konstituierenden Versammlung stehenden Milizen, die ebensowenig außerhalb der Militärdiktatur existierten, sondern mit der Arbeiterklasse, die mit einem Schlage das Wirtschaftsleben Deutschlands stillegte, mit der Arbeiterklasse, die sich mit den Waffen in der Hand erhob, um ihre Freiheit und ihre geschichtliche Zukunft zu verteidigen.
Die „Demokratie“ hielt keinen Augenblick stand, sie ist beim ersten drohenden Lärm des Marschtritts der Regimenter Ludendorffs davongelaufen. Die deutsche Demokratie war stark und ohne Erbarmen nur gegen die Arbeiterklasse, sie forderte Respekt nur von der Arbeiterklasse, sie fand sichere Waffen und getreue Milizen nur dann, wenn die Arbeiterklasse Freiheit und proletarisches Recht für sich in Anspruch nehmen wollte. Die Demokratie war nur ein Werkzeug in den Händen der Militärdiktatur, ein Werkzeug des Bürgerkriegs, das man fallen läßt, sobald es zu nichts mehr nütze ist, wenn es zu einem Hindernis wird und in die Hände des Gegners zu fallen droht.
Die Niederlage Ludendorffs ist also nicht einfach die Niederlage der deutschen Militärkaste. Sie stellt eine der bedeutendsten Phasen im Entwicklungsprozeß der deutschen Revolution dar, weil sie ein Übergewicht der proletarischen Macht gegenüber der Macht des bürgerlichen Staates, die Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Deutschland zugunsten der Arbeiterklasse anzeigt. Nach dem demokratischen Zwischenspiel nimmt die deutsche Revolution ihren Rhythmus der Gewalt wieder auf. Es wurde eine wesentliche Phase der proletarischen Revolution im europäischen wie im Weltmaßstab abgeschlossen, denn das deutsche Proletariat bleibt der Hauptdarsteller der Weltgeschichte, so wie es früher die deutsche Bourgeoisie war.
Dieses Jahr eines demokratischen Stillstands in Deutschland hatte viele Illusionen und viele Hoffnungen geweckt. Man erwartete, daß in Deutschland der Beweis erbracht werden würde, daß die russische Revolution einzig und allein die russische Revolution sei und nicht ein Moment der proletarischen Weltrevolution; man erwartete den Beweis, daß die Diktatur der Arbeiterklasse in Rußland das Ergebnis materieller Bedingungen gewesen sei, die nur Rußland eigen sind, und einer politischen Ideologie, die nur in Rußland als Reaktion auf den zaristischen Despotismus entstehen konnte. Deutschland war die Aufgabe zuteil geworden, die russische Revolution und das Rätesystem zu „europäisieren“. Das westliche Kleinbürgertum hat mit Leichtigkeit die neue Rolle als Mittelklasse zwischen dem kommunistischen Proletariat und dem konservativ, reaktionär und militaristisch gewordenen Kapitalismus übernommen. Diese neue Rolle ist ideologisch durch den Sozialreformismus gekennzeichnet. Das Kleinbürgertum, das sich ausgezeichnet in diese neue geschichtliche Stellung gefügt hat, hat sofort eine neue Verfassungstheorie aufgestellt und einen neuen Staatstyp geschaffen. Es ging darum, die bürgerliche Macht mit der proletarischen Macht, das auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählte Parlament mit dem Rätesystem auszusöhnen. Man dachte daran, in den Beziehungen zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat dasselbe Gleichgewicht herzustellen, das die bürgerlichen Revolutionen in den Klassenbeziehungen zwischen dem Landadel und der Demokratie der kapitalistischen Fabrikanten herbeigeführt hatten.
So wie England dazu gelangt war, den modernen bürgerlichen Staat mit zwei Kammern aufzubauen, dem Oberhaus und dem Unterhaus, womit es dem Aufbau der kontinentalen europäischen Staaten ein Modell geliefert hatte, so sollte Deutschland einen ganz modernen Staat mit zwei Kammern bilden: das politische Parlament und das wirtschaftliche Parlament, das Parlament der Eigentümer und das System der Arbeiterräte. [2] Das Kleinbürgertum war überzeugt, daß es damit allen Gesellschaftsklassen Glück bringen werde. Die Arbeiterklasse hätte ihr Herrschaftsgebiet gehabt, einen Platz, um zu diskutitieren, um zu schwätzen, um Gesetzentwürfe und „radikale“ Reformen vorzubereiten, und die Klasse der Eigentümer hätte ihre Ruhe wiedergefunden. Auf Grund einer höheren Produktivität innerhalb der Arbeiterklasse infolge der vom Betriebsrat geschaffenen spontanen Disziplin und „Freude an der Arbeit“ sowie der „Beteiligung“ an der industriellen Macht hätte die Eigentümerklasse ihren Profit aufblühen sehen. Auch die kleinbürgerliche Intelligenz hätte an der allgemeinen Freude ihren Anteil gehabt, denn die Einrichtung der neuen Organe hätte die Vertrauensstellungen, die Posten, die Ausschüsse, die Ämter, die Sonderkommissionen vervielfacht.
Die Theoretiker der Kommunistischen Internationale haben sich große Mühe gegeben, um diese Ideologie zu zerschlagen, um aus dem Lager des deutschen Proletariats die Vertreteter dieser Ideologie zu verjagen, um in die Hirne des deutschen Proletariats die Überzeugung einzuhämmern, daß es zwischen dem Parlament und dem Rätesystem, zwischen bürgerlicher Diktatur und proletarischer Diktatur kein friedliches Zusammenleben geben kann. Die erste Revolution hatte in Deutschland als eine feste Errungenschaft der Arbeiterklasse den Betriebsrat zurückgelassen. Der Kampf zwischen den Revolutionären und den kleinbürgerlichen Opportunisten entzündete sich hauptsächlich an dem Problem der Betriebsräte, er verschärfte sich bis zum bewaffneten Zusammenstoß. Die Arbeiterklasse wollte nicht, daß vom Parlament der lebendige, revolutionäre Schwung des Betriebsrates abgewürgt, daß der Keim des Kontrollrechtes der Arbeiterklasse über die industrielle Produktion erstickt würde. Die Selbstherrschaft des Kapitalisten im Betrieb ist jedoch die ökonomische Voraussetzung des Militarismus und Imperialismus. Sobald das Privileg der Eigentümerklasse über die Produktion eingeschränkt und kontrolliert wird, leidet darunter der ganze bürgerliche Staat, und die Macht der Bourgeoisie bricht zusammen, dem Militarismus wird der Boden unter den Füßen entzogen. Der deutsche Militarismus hat gewaltsam auf diese Drohung reagiert, er hat den parlamentarischen Staat, der für die bestehende Ordnung derart gefährliche Diskussionen und Aktionen ermöglichte, jeder Macht beraubt und versucht, offen seine Diktatur durchzusetzen.
So wurde eine Periode des demokratischen Stillstands in Deutschland abgeschlossen. Von neuem ist der Bürgerkrieg aufgeflammt. Doch das Proletariat befindet sich in einer bedeutend günstigeren Position als im Januar 1919. Die historischen Erfahrungen, die das westliche Kleinbürgertum vom deutschen „Volke“ erwartete, erwartet heute das westliche Proletariat vom deutschen Proletariat: Ausarbeitung und Aufbau des Rätesystems als Form der proletarischen Diktatur, als Werkzeug des harten Kampfes, den die Arbeiterklasse wird führen müssen, um die kommunistische Gesellschaft zu verwirklichen.
1. Geschrieben unter dem unmittelbaren Eindruck des machtvollen, einheitlichen Widerstandes der deutschen Arbeiterklasse gegen den Kapp-Putsch (13.3.1920).
2. Die Weimarer Verfassung hatte neben dem Parlament einen „Reichswirtschaftsrat“ vorgesehen.
Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008