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Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.39-43.
Zuerst veröffentlicht in Ordine Nuovo, 11. Oktober 1919.
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Die proletarische Organisation als Gesamtausdruck der Arbeiter- und Bauernmasse, die in den Zentralbüros der Confederazione del Lavoro ihre Spitze hat, durchläuft eine konstitutionelle Krise, die ihrer Natur nach der Krise gleicht, mit der sich der parlamentarisch-demokratische Staat vergeblich herumschlägt. Es ist eine Krise der Macht und eine Krise der Souveränität. Die Lösung der einen wird die Lösung der anderen sein, denn wenn das Problem des Machtwillens innerhalb ihrer Klassenorganisation gelöst ist, werden die Arbeiter auch ein organisches Gerüst für ihren Staat errichten und es siegreich dem parlamentarischen Staate entgegensetzen können. Die Arbeiter fühlen, daß der Komplex „ihrer“ Organisation zu einem solch enormen Apparat geworden ist, daß er schließlich nur mehr den Gesetzen semer Struktur und seines komplizierten Funktionierens gehorcht, aber jener Masse fremd geworden ist, die das Bewußtsein ihrer geschichtlichen Mission als historische Klasse erworben hat. Die Arbeiter fühlen, daß es ihrem Willen zur Macht nicht gelingt, sich durch die gegenwärtigen institutionellen Hierarchien deutlich auszudrücken. Sie fühlen, daß auch in ihrem eigenen Haus, in dem Haus, das sie zäh, unter geduldigen Anstrengungen, mit Blut und Tränen gebaut haben, die Maschine den Menschen verjagt; daß das Funktionärstum den schöpferischen Geist steril macht und ein banaler wortklingelnder Dilettantismus vergebens zu verbergen sucht, daß klare Vorstellungen über die Notwendigkeiten der industriellen Produktion fehlen und für die Psychologie der proletarischen Massen kein Verständnis vorhanden ist. Die Arbeiter ärgern sich über diese Situation, die tatsächlich besteht, die zu verändern sie aber individuell machtlos sind; die Worte und der Wille der einzelnen Menschen sind zu wenig gegenüber der funktionellen Struktur des Gewerkschaftsapparats mit den ihm immanenten ehernen Gesetzen.
Die Führer der Organisation bemerken diese tiefe und verbreitete Krise nicht. Je deutlicher wird, daß die Arbeiterklasse nicht in Formen organisiert ist, die ihrer wirklichen geschichtlichen Struktur entsprechen, um so mehr wird offenbar, daß die Arbeiterklasse auch nicht in einer Organisation zusammengefaßt ist, die sich unablässig den Gesetzen anpaßt, die den inneren Prozeß der realen geschichtlichen Entwicklung der Klasse selbst lenken; um so mehr verbohren sich diese Führer in ihre Blindheit und bemühen sich, die Zwistigkeiten und Konflikte „juristisch“ beizulegen. Als eminent bürokratische Geister glauben sie, daß ein objektiver Umstand, der in einer Psychologie wurzelt, wie sie sich in den lebendigen Erfahrungen des Betriebes entwickelt, mit einer gemütsbewegenden Rede und einem einstimmig gefaßten Beschluß im Anschluß an eine Versammlung voll von Geschrei und langschweifigen Reden aus der Welt geschafft werden kann. Heute bemühen sie sich, „auf der Höhe der Zeit“ zu sein und – um zu zeigen, daß sie auch fähig sind, „scharf nachzudenken“ – rudern mit alten und abgenutzten syndikalistischen Ideologien herum und bestehen krampfhaft darauf, eine Identität zwischen dem Sowjet und den Gewerkschaften festzustellen; bestehen krampfhaft darauf, daß das gegenwärtige System der gewerkschaftlichen Organisation bereits das Gerüst der kommunistischen Gesellschaft darstelle, das Kräftesystem also, in dem sich die proletarische Diktatur verkörpern soll.
In ihrer gegenwärtigen Form ist die Gewerkschaft in Westeuropa nicht allein als Organisationstyp vom Sowjet verschieden, sondern sie differiert auch beträchtlich von der Gewerkschaft, die sich in der kommunistischen Republik Rußlands immer mehr entwickelt.
Die Berufsgewerkschaften, die Arbeiterkammern, die Industrieverbände, die Confederazione del Lavoro sind spezifische proletarische Organisationstypen einer vom Kapital beherrschten Geschichtsepoche. In gewissem Sinn kann man behaupten, daß sie integrierender Bestandteil der kapitalistische Gesellschaft sind und eine Funktion haben, die dem Regime des Privateigentums inhärent ist. In dieser Epoche, in der nur Geltung hat, wer Besitzer von Waren ist und mit seinem Besitz handelt, haben auch die Arbeiter dem ehernen Gesetz der Notwendigkeiten gehorchen müssen und sind zu Verkäufern ihres einzigen Eigentums, der Arbeitskraft und der beruflichen Intelligenz, geworden. Da sie den Risiken der Konkurrenz stärker ausgesetzt sind, haben die Arbeiter ihr Eigentum in größeren und umfassenderen „Firmen“ angelegt, haben diesen enormen Apparat der Konzentration sich abplagender Körper geschaffen, haben Preise und Arbeitszeiten festgelegt und den Markt diszipliniert. Sie haben von außen und aus dem eigenen Kreis vertrauenswürdiges Verwaltungspersonal gewonnen, das in diesen Spekulationen erfahren ist, die Marktbedingungen beherrscht, fähig ist, Verträge zu schließen, das kommerzielle Würfelspiel abzuwägen, ökonomisch nützliche Schritte in die Wege zu leiten. Die Natur der Gewerkschaften ist wesentlich vom Konkurrenzsystem, nicht vom Kommunismus geprägt. Die Gewerkschaft kann nicht Werkzeug der radikalen Erneuerung der Gesellschaft sein; sie kann dem Proletariat bürokratische Erfahrungen bieten, technische Experten für allgemeine Fragen der Industrie zur Verfügung stellen, sie kann aber nicht die Basis der proletarischen Macht sein. Sie hat keinerlei Möglichkeit, die zur Leitung der Gesellschaft geeigneten proletarischen Persönlichkeiten auszuwählen; in der Gewerkschaft können sich nicht die Hierarchien manifestieren, in denen sich der élan vital, der Rhythmus der fortschreitenden kommunistischen Gesellschaft verkörpert.
Die proletarische Diktatur kann sich nur in einem Organisationstyp verkörpern, wie er für die eigentliche Tätigkeit der Produzenten typisch ist, und nicht für Lohnarbeit, der Sklavenarbeit des Kapitals. Der Fabrikrat ist die erste Zelle einer solchen Organisation. Im Rat sind alle Arbeitszweige vertreten, proportional zum Anteil, den jeder Beruf und jeder Arbeitszweig bei der Herstellung des Fabrikats übernimmt. Daher ist er eine gesellschaftliche, eine Klasseninstitution. Die Berechtigung des Fabrikrats liegt in der Arbeit, in der industriellen Produktion, in einem dauerhaften Zustand und nicht bloß im Lohn, in der Klasseneinteilung – einem vorübergehenden Zustand, der ja gerade abgeschafft werden soll. Deshalb verwirklicht der Rat die Einheit der Arbeiterklasse, gibt den Massen Zusammenhang und eine Form, die ihrer Natur nach der Form gleicht, die die Masse in der allgemeinen Organisation der Gesellschaft angenommen hat.
Der Fabrikrat ist das Modell des proletarischen Staates. Alle Organisationsprobleme des proletarischen Staates hängen mit der Räteorganisation zusammen. Im einen wie im anderen Fall ist der Begriff des Staatsbürgers überholt, und an seine Stelle tritt der Begriff Genosse: die Zusammenarbeit, die eine gute und rationelle Produktion erfordert, schafft Solidarität, stärkt die Bande der Sympathie und der Brüderlichkeit. Jeder ist unentbehrlich, jeder steht auf seinem Platz: und jeder hat eine Funktion und einen Platz. Auch der unwissendste und rückständigste Arbeiter, auch der eitelste und „zivilisierteste“ der Ingenieure wird sich schließlich von dieser Wahrheit überzeugen, die die Erfahrung der Fabrikorganisation mit sich bringt: alle werden schließlich ein kommunistisches Bewußtsein haben, um den großen Fortschritt zu verstehen, den die kommunistische Wirtschaft gegenüber der kapitalistischen bedeutet. Der Fabrikrat ist das geeignetste Organ der gegenseitigen Erziehung und der Entwicklung jenes neuen gesellschaftlichen Geistes, den das Proletariat aus der lebendigen und fruchtbaren Gemeinschaft der Arbeit heraus auszudrücken vermochte. Die Solidarität der Arbeiter – in der Gewerkschaft im Kampf gegen den Kapitalismus, im Leiden und Opfer entstanden – nimmt im Rat dauerhafte, positive Formen an, sie ist auch im kleinsten Moment der Industrieproduktion enthalten, und sie spiegelt sich in dem freudigen Bewußtsein wider, ein organisches Ganzes, ein homogenes und geschlossenes System zu sein, das in sinnvoller Arbeit ohne Eigennutz den gesellschaftlichen Reichtum produziert, seine Souveränität behauptet, seine Macht und seine geschichtsschöpferische Freiheit ausübt.
Die Existenz einer Organisation für die produzierende homogene Arbeiterklasse ermöglicht eine spontane und freie Entfaltung von würdigen und geeigneten Hierarchien und Persönlichkeiten, sie wird wichtige, grundlegende Auswirkungen auf die Verfassung und den Geist der Gewerkschaft haben.
Auch der Fabrikrat gründet sich auf den Beruf. In jeder Abteilung sind die Arbeiter in Gruppen eingeteilt, und jede Gruppe ist eine (berufliche) Arbeitseinheit: Der Rat besteht ja aus Kommissaren, die von den Arbeitern in der Abteilung nach Beruf gewählt werden. Aber die Gewerkschaft stützt sich auf den einzelnen, der Rat auf die konkrete, organische Einheit des Berufes, die sich in der Disziplin des industriellen Prozesses verwirklicht. Die Gruppe spürt, daß sie sich vom homogenen Block der Klasse unterscheidet, aber zugleich fühlt sie sich einem System der Disziplin und Ordnung angehörig, dessen exaktes Funktionieren die Produktion ermöglicht. Als Ausdruck ökonomischen und politischen Interesses ist der Beruf ein vollkommen solidarischer Teil des Klassenblocks; der Beruf unterscheidet sich von der Gesamtheit der Klasse als technisches Interesse und als spezifisches, auf die Arbeit angewandtes Werkzeug. Analog sind alle Industrien homogen und solidarisch in dem Ziel, eine vollkommene gesellschaftliche Produktion, Distribution und Akkumulation des Reichtums zu verwirklichen; aber jede Industrie hat unterschiedliche Interessen, wenn es um die technische Organisation ihrer spezifischen Aktivität geht.
Der Rat ermöglicht den Arbeitern eine direkte Verantwortung an der Produktion, hält sie zur Leistungssteigerung an, schafft eine bewußte und freiwillige Disziplin, gibt ihnen das Gefühl, Produzenten zu sein und mit zur Entwicklung der Geschichte beizutragen. Die Arbeiter tragen dieses neue Bewußtsein in die Gewerkschaft, die sich ihrerseits nach der einfachen klassenkämpferischen Aktivität nun der grundlegenden Aufgabe widmet, dem ökonomischen Leben und der Arbeitstechnik eine neue Gestalt zu geben; sie erarbeitet die Form der Ökonomie und die berufliche Technik für das kommunistische Gemeinwesen. So betrachtet verwirklichen die Gewerkschaften, die sich aus den besten und bewußtesten Arbeitern rekrutieren, das höchste Moment des Klassenkampfes und der Diktatur des Proletariats: sie schaffen die objektiven Bedingungen, unter denen die Klassen weder weiter existieren, noch neue entstehen können.
In Rußland übernehmen die Industriegewerkschaften diese Funktion. Sie sind zu Organisationen geworden, in denen sich alle einzelnen Unternehmen eines Industriezweiges zusammentun und eine große industrielle Einheit bilden. Die sehr unwirtschaftliche Konkurrenz wird beseitigt, die großen Dienstleistungen auf dem Gebiet der Verwaltung, Vorratshaltung, Distribution und Akkumulation werden in großen Zentralen vereinigt. Arbeitssysteme, Produktionsgeheimnisse, neue Anwendungsmöglichkeiten werden unmittelbar der gesamten Industrie zugänglich gemacht. Die Vielzahl der bürokratischen und disziplinarischen Funktionen, die für privatwirtschaftliche Verhältnisse charakteristisch sind, werden auf das industriell notwendige Maß reduziert. Die Anwendung der gewerkschaftlichen Prinzipien in der Textilindustrie hat in Rußland zu einer Reduktion der Bürokratie von 100 000 auf 3500 Angestellte geführt.
Die Organisation nach Fabriken fügt die Klasse (die gesamte Klasse) zu einer homogenen Einheit zusammen, die dem industriellen Produktionsprozeß organisch angehört, ihn beherrscht und sich seiner endgültig bemächtigt. In der Organisation nach Fabriken verkörpert sich also die Diktatur des Proletariats, der kommunistische Staat, der die Klassenherrschaft im politischen Überbau und in seinen Verästelungen zerstört. Die Berufs- und Industriegewerkschaften sind das solide Rückgrat des großen proletarischen Körpers. Sie verarbeiten die individuellen und lokalen Erfahrungen, akkumulieren sie und bewirken jene nationale Vereinheitlichung der Arbeits- und Produktionsbedingungen, auf denen die kommunistische Gleichheit konkret beruht.
Aber damit den Gewerkschaften diese positiv kommunistische Klassenführung aufgegeben werden können, müssen die Arbeiter ihren ganzen Willen und Glauben darauf richten, die Räte zu konsolidieren, zu verbreiten und die arbeitende Klasse zu vereinigen. Auf diesem homogenen und soliden Fundament werden sich alle höheren Strukturen der kommunistischen Diktatur und Wirtschaft entfalten.
Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008