Antonio Gramsci


Die Gewerkschaften und die Diktatur

(25. Oktober 1919)


Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.44-49.
Ursprünglich veröffentlicht in Ordine Nuovo, 25. Oktober 1919.
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Der internationale Klassenkampf gipfelte bisher im Sieg der Arbeiter und Bauern zweier nationaler Proletariate. In Rußland und in Ungarn haben die Arbeiter und Bauern die proletarische Diktatur errichtet; und sowohl in Rußland wie in Ungarn hat die Diktatur einen harten Kampf nicht allein gegen die Bourgeoisie, sondern auch gegen die Gewerkschaften führen müssen: eben der Konflikt zwischen der Diktatur und den Gewerkschaften war ja einer der Gründe, die zum Sturz der ungarischen Sowjets führten. Denn wenn die Gewerkschaften auch nie offen versuchten, die Diktatur zu stürzen, so operierten sie immer als »defaitistische« Organismen der Revolution und säten unaufhörlich Unbehagen und Feigheit unter den Arbeitern und roten Soldaten aus. Auch eine nur flüchtige Untersuchung der Ursachen dieses Konflikts kann der revolutionären Erziehung der Massen nützlich sein: wenn sie sich überzeugen sollen, daß die Gewerkschaft der vielleicht wichtigste proletarische Organismus der Revolution ist, weil auf ihr die Sozialisierung der Industrie beruhen muß, weil sie die Voraussetzungen schafft, daß das Privatunternehmen ein für allemal verschwindet, so müssen die Massen sich auch von der Notwendigkeit überzeugen, daß vor der Revolution die psychologischen und objektiven Bedingungen geschaffen werden, die jeden Konflikt und jeden Machtdualismus der verschiedenen Organismen des proletarischen Kampfes gegen den Kapitalismus untereinander verhindern.

Der Klassenkampf hat in allen Ländern Europas und der Welt einen deutlich revolutionären Charakter angenommen. Die Auffassung der III. Internationale, wonach der Klassenkampf zur proletarischen Diktatur führen muß, hat sich gegenüber der demokratischen Ideologie durchgesetzt und verbreitet sich unaufhaltsam unter den Massen. Die sozialistischen Parteien gehören der III. Internationale an oder richten sich zumindest nach den Grundprinzipien, die auf dem Moskauer Kongreß erarbeitet wurden. Die Gewerkschaften hingegen sind der »wahren Demokratie« treu geblieben und versäumen keine Gelegenheit, um die Arbeiter zu bewegen, daß sie sich als Gegner der Diktatur bezeichnen und keine Solidarität mit dem Rußland der Sowjets bekunden. In Rußland wurde diese Haltung der Gewerkschaften schnell überwunden, weil sich im Vergleich zur Entwicklung der Berufs- und Industrieorganisationen die Entwicklung der Betriebsräte in schnellerem Rhythmus vollzog; dagegen hat jene Haltung die Basis der proletarischen Macht in Ungarn untergraben, hat in Deutschland dazu geführt, daß unter den kommunistischen Arbeitern ein Blutbad angerichtet wurde, hat in Frankreich den Zusammenbruch des Generalstreiks vom 20. bis 21. Juli verursacht und zur Konsolidierung des Regimes Clemenceau geführt, hat bisher jedes direkte Eingreifen der englischen Arbeiter in den politischen Kampf verhindert; sie droht, die proletarischen Kräfte aller Länder tiefgreifend zu spalten.

Die sozialistischen Parteien erwerben ein immer klareres revolutionäres und internationalistisches Profil; die Gewerkschaften hingegen neigen zur Theorie (!) und Taktik des reformistischen Opportunismus und dazu, rein nationale Organismen zu werden. Daraus erwächst ein unerträglicher Tatbestand, eine ständige Verwirrung und chronische Schwächung für die arbeitende Klasse; das allgemeine Ungleichgewicht der Gesellschaft wird dadurch erhöht, und die Gärstoffe des moralischen Zerfalls und der Barbarei gedeihen leichter. Die Gewerkschaften haben die Arbeiter nach den Prinzipien des Klassenkampfes organisiert und sind selbst die frühesten organischen Formen dieses Kampfes gewesen. Ihre Organisatoren haben immer gesagt, daß nur der Klassenkampf zur Emanzipation des Proletariats führen könne und daß die gewerkschaftliche Organisation eben das Ziel habe, den individuellen Profit und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufzuheben, da sie den Kapitalisten (den Privateigentümer) aus dem industriellen Produktionsprozeß eliminieren und folglich die Klassen abschaffen wolle. Aber die Gewerkschaften konnten dieses Ziel nicht unmittelbar verwirklichen, und so verwandten sie inzwischen ihre ganze Kraft darauf, die Lebensbedingungen des Proletariats zu verbessern, indem sie höhere Löhne, verkürzte Arbeitszeit und einen corpus sozialer Gesetzgebung verlangten. Bewegung folgte auf Bewegung, Streik auf Streik, die Lebensbedingungen der Arbeiter verbesserten sich relativ. Aber alle Ergebnisse, Siege der gewerkschaftlichen Aktion stehen auf den alten Fundamenten: das Prinzip des Privateigentums blieb intakt und stark, die kapitalistische Produktionsordnung, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bestehen weiterhin und komplizieren sich, im Gegenteil, durch neue Formen. Der Achtstundentag, die Lohnerhöhung, die Wohltaten der Sozialgesetzgebung rütteln nicht am Profit; die Gleichgewichtsstörungen, die gewerkschaftliche Aktionen in der Profitrate unmittelbar hervorrufen, gleichen sich aus und werden im Spiel der freien Konkurrenz für Länder mit Weltmarktpositionen, wie England und Deutschland, und im Protektionismus für Länder begrenzten Wirtschaftsvermögens, wie Frankreich und Italien, neu geregelt. Der Kapitalismus legt daher die angewachsenen allgemeinen Kosten der Industrieproduktion entweder auf die amorphen Massen des eigenen Landes oder auf die kolonialen Massen um.

Die gewerkschaftliche Aktion erweist sich somit als absolut unfähig, in ihrem Bereich und mit ihren Mitteln das Proletariat zu seiner Emanzipation zu führen und das hohe und universelle Ziel zu erreichen, das sie sich anfänglich gesteckt hatte.

Nach den syndikalistischen Doktrinen hätten die Gewerkschaften dazu dienen sollen, die Arbeiter zur Leitung der Produktion zu erziehen. Weil die Industriegewerkschaften, so sagte man, ein vollkommenes Spiegelbild einer bestimmten Industrie seien, werden sie zu Kadern der Arbeiter für die Leitung jener Industrien; die gewerkschaftlichen Funktionen dienten dazu, eine Auswahl der besten, lernbegierigsten, intelligentesten Arbeiter zu ermöglichen, die den komplexen Mechanismus der Produktion und des Austausches am schnellsten beherrschen. Die Arbeiterführer der Lederindustrie seien am geeignetsten, diese Industrie zu leiten, so für die Metallindustrie, die Buchindustrie etc.

Eine kolossale Illusion. Die Auswahl der Gewerkschaftsführer erfolgte nie nach Kriterien industrieller, sondern nur nach juristischer, bürokratischer oder demagogischer Kompetenz. Und je mehr sich die Organisationen vergrößerten, je häufiger ihr Eingreifen in den Klassenkampf war, je gestreuter und tiefgehender die Aktion, desto notwendiger erwies sich, das Führungsamt zu einem bloß verwaltenden und abrechnenden Büro umzuwandeln, desto mehr wurde die industriell-technische Fähigkeit zu einem Unwert, und die bürokratischen und kommerziellen Fähigkeiten erhielten das Übergewicht. So entwickelte sich eine regelrechte Kaste von Gewerkschaftsfunktionären und Journalisten, mit einer Korpspsychologie, die absolut im Gegensatz zur Psychologie der Arbeiter stand. Diese Kaste nahm schließlich gegenüber der Arbeitermasse die gleiche Haltung ein, wie die Regierungsbürokratie gegenüber dem parlamentarischen Staat: es ist die Bürokratie, die regiert und herrscht.

Die proletarische Diktatur will die kapitalistische Produktionsordnung aufheben, will das Privateigentum aufheben, weil nur so die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehoben werden kann. Die proletarische Diktatur will den Klassenunterschied, will den Klassenkampf aufheben, weil nur so die gesellschaftliche, völlige Emanzipation der arbeitenden Klassen möglich ist. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, erzieht die kommunistische Partei das Proletariat dazu, seine Klassenmacht zu organisieren und sich dieser wohl gerüsteten Macht zu bedienen, um die bürgerliche Klasse zu beherrschen und die Bedingungen festzulegen, durch die die ausbeutende Klasse aufgelöst wird und nicht wiedererstehen kann. Die Aufgabe der kommunistischen Partei in der proletarischen Diktatur ist deshalb: die Klasse der Arbeiter und Bauern endgültig in einer herrschenden Klasse zu organisieren; zu kontrollieren, daß alle Organe des neuen Staates wirklich revolutionär arbeiten und die Vorrechte und alten, durch das Prinzip des Privateigentums bedingten Verhältnisse zerstören. Aber diese zerstörende und kontrollierende Aktion muß gleichzeitig von einem positiv schöpferischen und produktiven Werk begleitet werden. Wenn dieses Werk nicht gelingt, ist die politische Kraft vergebens, und die proletarische Diktatur kann sich nicht halten; keine Gesellschaft kann ohne Produktion bestehen, um so weniger die Diktatur, die in einer Zeit ökonomischen Niedergangs durchgeführt werden soll, nach fünf Jahren erbitterten Krieges und Monaten bewaffneten bürgerlichen Terrors. Gerade sie hat eine intensive Produktion nötig.

Das also ist die umfassende und großartige Aufgabe, die sich den Industriegewerkschaften stellen sollte. Gerade sie werden die Sozialisierung durchführen müssen, sie müssen eine neue Produktionsordnung einführen, bei der das Unternehmen nicht auf dem Gewinnstreben des Besitzers basiert, sondern auf dem solidarischen Interesse der Gemeinschaft, die in jedem Industriezweig, aus dem allgemein Unbestimmten heraus, sich in der entsprechenden Arbeitergewerkschaft konkretisiert hat.

Im ungarischen Sowjet haben sich die Gewerkschaften jeglicher schöpferischen Arbeit enthalten. Politisch gesehen behinderten die Gewerkschaftsfunktionäre fortwährend die Diktatur, sie bildeten einen Staat im Staat und blieben ökonomisch untätig: mehr als einmal mußten die Fabriken gegen den Willen der Gewerkschaften sozialisiert werden, obwohl die Sozialisierung die erste Pflicht der Gewerkschaften gewesen wäre. Aber die Führer der ungarischen Organisation waren geistig beschränkt, sie hatten eine bürokratisch-reformistische Psychologie und fürchteten ständig, die Macht zu verlieren, die sie bisher über die Arbeiter ausgeübt hatten. Weil die Funktion, um derentwillen sich die Gewerkschaft bis zur Diktatur entwickelt hatte, der Herrschaft der bürgerlichen Klasse inhärent war, und weil die Funktionäre kein technisch-industrielles Können besaßen, vertraten sie die Auffassung, die Proletarierklasse sei unreif für die Leitung der Produktion; sie vertraten die »wahre« Demokratie, d. h. sie wollten die Bourgeoisie in ihren Hauptpositionen als herrschende Klasse beibehalten; sie wollten das Zeitalter der Abkommen, der Arbeitsverträge, der Sozialgesetzgebung fortsetzen, um auf diese Weise ihre Kompetenz zu beweisen. Sie wollten, daß man... die internationale Revolution abwarte und konnten nicht verstehen, daß sich die internationale Revolution ja gerade in Ungarn in Form der ungarischen Revolution manifestierte, in Rußland mit der russischen Revolution, in ganz Europa mit den Generalstreiks, mit den militärischen Staatsstreichen, mit den unmöglichen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse im Gefolge des Krieges.

Einer der einflußreichsten ungarischen Gewerkschaftsführer erklärte auf der letzten Sitzung des Sowjets in Budapest den Standpunkt der Defätisten der Revolution: »Als das ungarische Proletariat die Macht übernahm und die Republik der Räte proklamierte, hoffte es auf drei Dinge: 1) auf die bevorstehende Weltrevolution; 2) auf die Hilfe der Roten Armee Rußlands; 3) auf den Opfergeist des ungarischen Proletariats. Aber die Weltrevolution brach nicht aus, die roten Truppen gelangten nicht bis Ungarn, und der Opfergeist des ungarischen Proletariats war nicht größer als der Opfergeist des Proletariats von Westeuropa. Im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick zieht sich die Räteregierung zurück, um dem Land die Möglichkeit zu geben, mit der Entente Verhandlungen zu führen; sie zieht sich zurück, um das ungarische Proletariat nicht verbluten zu lassen, um es zu retten und zu bewahren im Interesse der Weltrevolution, weil eines Tages doch die große Stunde der sozialistischen Weltrevolution schlagen wird.« In der letzten Nummer der kommunistischen Vörös Ujsäg vom 2. August 1919 wurde dem ungarischen Proletariat die Lage, die ihm die traditionellen Organisationen eingebrockt hatten, wie folgt geschildert: ».Weiß das ungarische Proletariat, was es erwartet, wenn es nicht sofort den Mördern in seinem Haus das Handwerk legt? Weiß das Proletariat von Budapest, welches Schicksal es erwartet, wenn es nicht die Kraft findet, die Bande der Plünderer abzuwehren, die sich in den proletarischen Staat eingeschlichen hat? Der weiße Terror und der rumänische Terror werden ihre Kräfte vereinen, um über das ungarische Proletariat zu herrschen, die Peitsche wird die Hungertorturen versüßen, die produktive Arbeit wird von der Plünderung unserer Maschinen und der Demolierung unserer Betriebe begünstigt.

Die >Aristokratie< der Arbeiterklasse, alle diejenigen, die nur einmal das Wort an das Proletariat gerichtet haben, werden den Bajonetten und den Maschinengewehren der Rumänen Rechenschaft über ihre Handlungen abeben. Die >wahre< Demokratie wird in Ungarn errichtet werden, denn alle, die etwas sagen konnten, werden im Grabe gleich sein, und die anderen werden sich unter der Peitsche der Bojaren alle der gleichen Rechte erfreuen. Die Diskussion zwischen Partei und Gewerkschaft wird aufhören, weil es für lange Zeit in Ungarn weder Partei noch Gewerkschaft geben wird; die Diskussion darüber, ob sich die proletarische Diktatur der Macht oder der Milde bedienen soll, wird aufhören, denn die Bourgeoisie und die Bojaren werden schon über die Methode ihrer Diktatur entschieden haben: hunderte von Galgen werden ankündigen, wie die Diskussion zugunsten der Bourgeoisie entschieden sein wird, wegen der Schwäche des Proletariats.«


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008