Antonio Gramsci


Arbeiter und Bauern

(2. August 1919)


Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.34-39.
Ursprünglich veröffentlicht in Ordine Nuovo, 2. August 1919.
Kopiert mitn Dank von der nicht mehr vorhandenen Webseite Marxistische Bibliothek.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Während des Krieges und wegen kriegsbedingter Notwendigkeiten übernahm der italienische Staat die Regelung der Produktion und die Verteilung der materiellen Güter. Es bildeten sich Trusts der Industrie und des Handels, es vollzog sich eine Konzentration der Produktions- und Austauschmittel, und die Ausbeutung der proletarischen und halbproletarischen Massen nahm Formen an, die revolutionäre Auswirkungen zeitigten. Es ist unmöglich, den Charakter der augenblicklichen Situation zu verstehen, wenn man diese Phänomene und ihre psychologischen Wirkungen nicht in Rechnung stellt.

In den kapitalistisch noch unterentwickelten Ländern wie Rußland, Italien, Frankreich und Spanien besteht eine klare Trennung zwischen Stadt und Land, zwischen Arbeitern und Bauern. In der Landwirtschaft haben sich rein feudale ökonomische Formen und eine entsprechende Psychologie erhalten. Die Vorstellung von einem modernen, liberal-kapitalistischen Staat ist noch unbekannt; die ökonomischen und politischen Institutionen werden nicht als historische Kategorien mit einem Prinzip, einem Entwicklungsprozeß gesehen und man sieht nicht, daß sie sich auflösen können, wenn sie die Bedingungen für höhere Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens geschaffen haben; sie werden vielmehr als natürliche, ewige, nicht ableitbare Kategorien verstanden. In Wirklichkeit steht der Großgrundbesitz außerhalb der freien Konkurrenz: und der moderne Staat hat sein feudales Wesen respektiert und denkt sich juristische Formeln wie die des Fideikomisses aus, die faktisch die Investituren und die Privilegien des feudalen Regimes fortsetzen. Die Mentalität des Bauern ist deshalb immer noch die eines Leibeigenen, der bei bestimmten Gelegenheiten heftig gegen die „Herren“ rebelliert, aber unfähig ist, sich selbst als Mitglied einer Kollektivität zu begreifen (die Nation für die Besitzer und die Klasse für die Proletarier) und eine systematische und permanente Aktion in die Wege zu leiten, die eine Veränderung der ökonomischen und politischen Verhältnisse bewirken könnte.

Die Psychologie der Bauern war unter solchen Bedingungen unkontrollierbar: ihre wirklichen Gefühle blieben dunkel, einem Verteidigungssystem gegen die Ausbeutungen verhaftet, blieben nur egoistisch, ohne logische Kontinuität, und waren größtenteils das Ergebnis von Duckmäuserei und fingierter Untertänigkeit. Der Klassenkampf wurde mit Brigantentum verwechselt, mit Erpressung, mit dem Anzünden von Wäldern, mit dem Vertreiben des Viehs, dem Raub von Kindern und Frauen, mit dem Sturm auf Rathäuser: es war eine Form von elementarem Terrorismus, ohne wirksame und vorausbedachte Folgen. Objektiv reduzierte sich also die Psychologie des Bauern auf eine sehr geringe Zahl von Ur-Gefühlen, die von den gesellschaftlichen Bedingungen im demokratisch-parlamentarischen Staat abhingen: der Bauer war den Besitzern und den Denunzianten und den korrupten Staatsbeamten völlig ausgeliefert, und die größte Sorge seines Lebens war, sich vor den Unbilden der elementaren Natur, den Schikanen und grausamen Barbareien der Besitzer und der Staatsbeamten körperlich zu schützen. Der Bauer lebte immer außerhalb der Gesetze, ohne rechtliche Persönlichkeit, ohne moralische Individualität: er blieb ein anarchisches Element, das unabhängige Atom eines chaotischen Tumults, das nur von der Angst vor dem Carabiniere und dem Teufel zurückgehalten wurde. Er begriff nicht, was Organisation, was Staat, was Disziplin war. Er war geduldig und hartnäckig bei der individuellen Mühsal, der Natur wenige und magere Früchte abzuringen, war zu unerhörten Opfern für die Familie fähig; im Klassenkampf war er ungeduldig, gewalttätig und unfähig, sich ein allgemeines Ziel zu setzen und mit Ausdauer und systematischem Kampf darauf hinzuarbeiten.

Vier Jahre Schützengraben und die Ausbeutung des Blutes haben die Psychologie der Bauern radikal verändert. Diese Veränderung zeigte sich besonders in Rußland und war eine der wesentlichen Bedingungen der Revolution. Was im normalen Entwicklungsprozeß die Industrialisierung bewirkt hätte, wurde nur vom Krieg vollzogen. Der Krieg hat die kapitalistisch äußerst rückständigen, mit wenig technischen Mitteln ausgerüsteten Nationen dazu gezwungen, alle verfügbaren Männer einzuziehen, um den Kriegswerkzeugen der Mittelmächte große Massen lebendigen Fleisches entgegenzusetzen. In Rußland bedeutete der Krieg die Kontaktaufnahme zwischen Individuen, die zuvor in einem weiten Land verstreut gewesen waren, bedeutete eine jahrelange, ununterbrochene Menschenkonzentration mit Opfern, bei immer gegenwärtiger Todesgefahr unter einer uniformen und zugleich grausamen Disziplin: die psychologischen Auswirkungen dieses langdauernden kollektiven Lebens waren immens und reich an unvorhergesehenen Konsequenzen.

Die individuellen egoistischen Instinkte stumpften ab, es entwickelte sich eine einheitliche Gemeinschaftspsychologie, die Gefühle glichen sich einander an, es entstand der Habitus einer gesellschaftlichen Disziplin: die Bauern begriffen den Staat in seiner vielfältigen Großartigkeit, seiner maßlosen Macht, seiner komplizierten Konstruktion. Sie lernten eine Welt kennen, die nicht mehr unbegrenzt groß war wie das Universum oder eng und klein wie der Dorfkirchturm, und sie begriffen die Welt in ihrer Konkretheit von Staaten und Völkern, gesellschaftlichen Stärken und Schwächen, Heeren und Maschinen, Reichtum und Armut. Bindungen der Solidarität wurden geknüpft, die sonst erst nach Jahrzehnten geschichtlicher Erfahrung und Kämpfe entstanden wären; in vier Jahren, im Schlamm und Blut der Schützengräben ist eine geistige Welt entstanden, die darauf brannte, sich in dauerhaften und dynamischen gesellschaftlichen Formen und Institutionen zu behaupten. So sind an der russischen Front die Räte der Militärdelegierten entstanden, so haben die Bauernsoldaten aktiv am Leben der Sowjets von Petersburg, Moskau und den anderen russischen Industriezentren teilnehmen können und haben sich das Bewußtsein von der Einheit der Arbeiterklasse erworben; so kehrten mit der Demobilisierung des russischen Heeres die Soldaten an ihren Arbeitsplatz zurück und überzogen das gesamte Territorium des Imperiums, von der Weichsel bis zum Stillen Ozean, mit einem dichten Netz von örtlichen Räten, elementaren Organen des staatlichen Wiederaufbaus des russischen Volkes. Auf diese neue Psychologie stützt sich die kommunistische Propaganda, die von den Industriestädten ausstrahlt; und so bilden sich die frei geschaffenen und die auf Grund der Erfahrungen des kollektiven revolutionären Lebens nun anerkannten gesellschaftlichen Hierarchien.

Die historischen Bedingungen in Italien waren und sind nicht viel anders als in Rußland. Das Problem der Vereinigung der Arbeiter- und Bauernklasse stellt sich in den gleichen Termini: sie wird sich in der Praxis des sozialistischen Staates vollziehen und auf der neuen, vom gemeinsamen Leben im Schützengraben geschaffenen Psychologie beruhen. Die italienische Landwirtschaft muß ihre Verfahrensweisen radikal ändern, um die kriegsbedingte Krise zu überwinden. Die Vernichtung des Viehs erfordert, daß Maschinen angeschafft werden, daß man zur zentralisierten industrialisierten Bodenkultur übergeht und Institutionen schafft, die über ausreichende technische Mittel verfügen. Aber eine solche Umwandlung kann nicht ohne schwerste Folgen unter einem Regime des Privateigentums vollzogen werden; sie muß in einem sozialistischen Staat geschehen, im Interesse der Bauern und Arbeiter, die in kommunistischen Arbeitseinheiten zusammengeschlossen sind. Die Einführung von Maschinen in den Produktionsprozeß hat immer schwere Krisen der Arbeitslosigkeit nach sich gezogen, die nur langsam durch die Elastizität des Arbeitsmarkts überwunden wurden. Heute sind die Arbeitsbedingungen radikal gestört, die Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft ist wegen der Unmöglichkeit auszuwandern, zu einem unlösbaren Problem geworden: die industrielle Umwandlung der Landwirtschaft darf nur mit Zustimmung der armen Bauern erfolgen, durch eine Diktatur des Proletariats, die sich in den Räten der Industriearbeiter und der armen Bauern verkörpert.

Die Industriearbeiter und die armen Bauern sind die beiden Energien der proletarischen Revolution. Für sie besonders ist der Kommunismus eine existentielle Notwendigkeit: er bedeutet Leben und Freiheit, die Beibehaltung des Privateigentums dagegen bedeutet die unmittelbare Gefahr für Arbeiter und Bauern, zerrieben zu werden und bis auf das körperliche Leben alles zu verlieren. Arbeiter und Bauern sind das irreduzible Element, die Kontinuität des revolutionären Enthusiasmus; sie sind der eiserne Wille, keine Kompromisse anzunehmen, unerbittlich bis zur vollen Verwirklichung der Ziele weiterzugehen, ohne sich durch teilweise und vorübergehende Mißerfolge demoralisieren zu lassen, ohne sich allzu viele Illusionen über leichte Erfolge zu machen.

Sie sind das Rückgrat der Revolution, die eisernen Bataillone des voranrückenden Proletariats, die durch ihren Schwung die Hindernisse überwinden, oder sie mit ihrer Menschenflut belagern, sie mit geduldiger Arbeit, mit unermüdlichem Opfer zerbröseln und zernagen. Der Kommunismus ist ihre Zivilisation, ist das System historischer Bedingungen, unter denen sie eine Persönlichkeit, eine Würde, eine Kultur erwerben, für ihn werden sie schöpferischer Geist des Fortschritts und der Schönheit.

Jede revolutionäre Arbeit trägt die Wahrscheinlichkeit des Gelingens in sich, wenn sie den Lebensnotwendigkeiten der Arbeiter und Bauern, den Erfordernissen ihrer Kultur entspricht. Daß dies unumgänglich ist, sollten die Führer der proletarischen und sozialistischen Bewegung begreifen. Und sie sollten begreifen, wie drängend das Problem ist, diesen unbezwingbaren Kräften der Revolution eine Form zu geben, die ihrer nun weitverbreiteten Psychologie entspricht.

Unter den rückständigen Lebensbedingungen der kapitalistischen Ökonomie der Vorkriegszeit war eine Entwicklung von breit und tief wirkenden bäuerlichen Organisationen unmöglich, in denen die Feldarbeiter sich zu einer organischen Auffassung des Klassenkampfes erzogen hätten und zu einer zuverlässigen, für den Wiederaufbau des Staates nach der Revolution nötigen Disziplin.

Die geistigen Eroberungen aus der Kriegszeit, die in vier Jahren der Ausbeutung des Blutes in den schlammigen und blutigen Schützengräben angesammelten kommunistischen, kollektiven Erfahrungen können verlorengehen, wenn es nicht gelingt, alle Individuen in Organen neuen kollektiven Lebens zu vereinen, in deren Praxis diese Eroberungen sich konsolidieren und die Erfahrungen sich entwickeln und integrieren und bewußt auf ein konkretes historisches Ziel gerichtet werden können. So organisiert, werden die Bauern zu einem Element der Ordnung und des Fortschritts; sich selbst überlassen, ohne eine systematische und disziplinierte Aktion verfolgen zu können, werden sie zu einem unkontrollierbaren Tumult, einem Chaos verzweifelter Leidenschaften bis hin zu den grausamsten Barbareien und unerhörten Leiden, die sich immer schrecklicher abzeichnen.

Die kommunistische Revolution ist wesentlich ein Problem der Organisation und der Disziplin. Unter den gegebenen objektiven Bedingungen der italienischen Gesellschaft werden die Industriestädte mit ihren kompakten und homogenen Massen der Arbeiter die Vorkämpfer der Revolution sein.

Man muß also dem neuen Leben, das Folge der neuen Formen des Klassenkampfes in den Fabriken und im industriellen Produktionsprozeß ist, die größte Aufmerksamkeit widmen. Aber mit den Kräften der Industriearbeiter allein kann sich die Revolution nicht sicher behaupten und verbreiten: die Stadt muß dem Land verbunden werden, dort müssen Institutionen für die Kleinbauern gegründet werden, auf denen sich der sozialistische Staat aufbauen und aus denen er sich entwickeln kann und durch die es dem sozialistischen Staat möglich wird, Maschinen einzuführen und einen grandiosen Umwandlungsprozeß der Landwirtschaft in Gang zu setzen. In Italien ist diese Aufgabe weniger schwierig als man denkt: während des Krieges kam ein großer Teil der ländlichen Bevölkerung in städtische Fabriken; auf sie hat die kommunistische Propaganda schnell gewirkt; sie muß als Zement zwischen Stadt und Land dienen, muß benutzt werden, um auf dem Land eine konzentrierte Propaganda durchzuführen, die das Mißtrauen und die Ressentiments zerstört; diese Bevölkerungsschicht muß eingeschaltet werden, weil man sich ihrer genauen Kenntnis der bäuerlichen Psychologie bedienen kann und des Vertrauens, das sie genießt. So kann die notwendige Aktivität in die Wege geleitet werden, um die Gründung und Weiterentwicklung der neuen Institutionen zu bestimmen, die innerhalb der kommunistischen Bewegung die breiten Massen der Feldarbeiter aufnehmen sollen.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008