Antonio Gramsci


Die Eroberung des Staates

(12. Juli 1919)


Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Cramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.29-34.
Ursprünglich veröffentlicht in Ordine Nuovo, 12. Juli 1919.
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Der von der Produktionsweise bestimmten kapitalistischen Konzentration entspricht die Konzentration arbeitender Menschenmassen. Hierin muß man den Ursprung sämtlicher revolutionärer Thesen des Marxismus, muß man die Bedingungen der neuen proletarischen Verhaltensweisen und der neuen kommunistischen Ordnung suchen, die die bürgerlichen Sitten und die durch freie Konkurrenz und Klassenkampf heraufbeschworene kapitalistische Unordnung ablösen sollen.

Im Bereich der allgemeinen kapitalistischen Aktivität handelt auch der Arbeiter im Sinn der freien Konkurrenz, ist Individuum und Staatsbürger. Aber die Ausgangsbedingungen des Kampfes sind nicht für alle gleich: die Existenz des Privateigentums bedingt das Privileg der gesellschaftlichen Minderheit, läßt den Kampf ungleich werden. Der Arbeiter ist ständig tödlichsten Risiken ausgesetzt: sein eigenes, elementares Leben, seine Kultur, das Leben und die Zukunft seiner Familie sind bei Veränderungen des Arbeitsmarktes heftigen Rückschlägen ausgesetzt. Der Arbeiter versucht also, aus der Sphäre der Konkurrenz und des Individualismus herauszukommen. Das assoziative und solidarische Prinzip wird für die arbeitende Klasse wesentlich, es verändert die Psychologie und die Sitten der Arbeiter und Bauern. Es entstehen Institutionen und Organe, in denen sich dieses Prinzip verkörpert; auf ihrer Grundlage beginnt der Prozeß der geschichtlichen Entwicklung, der zum Kommunismus der Produktionsmittel und des Austausches führt.

Der Wille zur Organisation kann und muß als die wesentliche Tatsache der proletarischen Revolution angesehen werden. Aus dieser Tendenz heraus haben sich in der Periode, die der unmittelbaren Gegenwart vorausging (die wir die Periode der I. und II. Internationale oder Periode der Rekrutierung nennen können), die sozialistischen Parteien und die Berufsgewerkschaften entwickelt.

Die Entwicklung dieser proletarischen Institutionen und der gesamten proletarischen Bewegung im allgemeinen war jedoch nicht autonom, gehorchte nicht den Gesetzen, die dem Leben und der geschichtlichen Entwicklung der ausgebeuteten arbeitenden Klasse immanent sind. Die Gesetze der Geschichte wurden von der besitzenden, im Staat organisierten Klasse diktiert. Der Staat ist immer die Hauptfigur der Geschichte gewesen, weil sich in seinen Organen die Macht der besitzenden Klasse zusammenballt. Im Staat diszipliniert sich die Besitzerklasse und bildet, jenseits von Zwistigkeiten und Zusammenstößen der Konkurrenz, eine Einheit, um die Bedingungen des Privilegs in der höchsten Phase der Konkurrenz unangetastet zu lassen: im Klassenkampf um die Macht, um die Vormachtstellung in der Führung und Disziplinierung der Gesellschaft.

In der besagten Periode war die proletarische Bewegung nur eine Funktion der freien kapitalistischen Konkurrenz. Nicht aufgrund innerer, sondern äußerer Gesetze mußten die proletarischen Institutionen ihre Form annehmen, unter dem mächtigen Druck der Ereignisse und unter dem Zwang der kapitalistischen Konkurrenz. Daraus resultierten die inneren Konflikte, die Abweichungen, die Schwankungen und die Kompromisse, die die gesamte Periode der proletarischen Bewegung vor unserer Zeit kennzeichnen und die ihren Gipfel im Bankrott der II. Internationalen erreichten. Einige Strömungen der proletarischen sozialistischen Bewegung stellten die Arbeiterberufsorganisation ausdrücklich als wesentlichen Faktor der Revolution hin und bauten auf dieser Basis ihre Propaganda und ihre Aktion auf. Für einen Augenblick schien die syndikalistische Bewegung der wahre Vertreter des Marxismus, wahrer Interpret der Wahrheit zu sein. Der Irrtum des Syndikalismus besteht darin, daß er die Berufsgewerkschaft in der gegenwärtigen Form und Funktion als dauernden Faktor, als ewige Form der Organisation annimmt, obwohl sie aufgezwungen und nicht freiwillig angenommen wurde, also keine konstante und vorhersehbare Entwicklungslinie haben kann. Der Syndikalismus, der sich selbst als Initiator „spontaneistisch“, als der Tradition des Freihandels entsprungen darstellt, war in Wirklichkeit eine der zahlreichen Verkleidungen des jakobinischen und abstrakten Geistes.

Daher die Irrtümer der syndikalistischen Strömung, der es nicht gelang, die sozialistische Partei in der Aufgabe abzulösen, die arbeitende Klasse zur Revolution zu erziehen. Die Arbeiter und Bauern fühlten, daß für die gesamte Periode, in der die Besitzerklasse und der demokratisch-parlamentarische Staat die Gesetze der Geschichte diktieren, jeder Versuch, der Sphäre dieser Gesetze zu entfliehen, lächerlich und vergeblich wäre. Gewiß nimmt jeder Mensch, bei der Gestalt, die die Gesellschaft durch die industrielle Produktion angenommen hat, aktiv am Leben teil, und er kann seine Umwelt nur dann verändern, wenn er als Individuum-Staatsbürger und Mitglied des demokratisch-parlamentarischen Staates, handelt. Die liberale Erfahrung ist nicht umsonst, und man kann sie nur überwinden, nachdem man sie gemacht hat. Die apolitische Haltung der Apolitischen war nur eine Degeneration der Politik. Den Staat negieren und bekämpfen ist ebenso eine politische Tat wie der Anschluß an die allgemeine, geschichtliche Aktivität, die sich im Parlament und den Gemeinden, den Volksinstitutionen des Staates vereint. Die Qualität des politischen Faktums wechselt: die Syndikalisten arbeiteten unabhängig von der Wirklichkeit, und somit war ihre Politik grundlegend falsch; die parlamentarischen Sozialisten arbeiteten im Inneren der Dinge, konnten irren (ja, sie begingen auch viele und schwere Fehler), aber sie irrten nicht, was den Sinn ihrer Aktion anbetraf und triumphierten daher über die „Konkurrenz“; die großen Massen, die mit ihrem Eingreifen die gesellschaftlichen Verhältnisse objektiv verändern, organisierten sich in der sozialistischen Partei. Trotz aller Fehler und Versäumnisse gelang es der Partei letztlich, ihre Mission zu erfüllen: das Proletariat, das nichts war, etwas werden zu lassen, ihm ein Bewußtsein zu geben, der Befreiungsbewegung eine klare und durchschlagende Richtung zu verleihen, die in großen Zügen dem geschichtlichen Entwicklungsprozeß der menschlichen Gesellschaft entsprach.

Der schwerste Fehler der sozialistischen Bewegung entsprach dem Kardinalfehler der Syndikalisten. Indem sie an der allgemeinen Aktivität der menschlichen Gesellschaft im Staat teilnahmen, vergaßen die Sozialisten, daß ihre Position wesentlich kritisch, antithetisch bleiben mußte. Sie ließen sich von der Wirklichkeit absorbieren, sie beherrschten sie nicht. Die kommunistischen Marxisten müssen sich durch eine Psychologie auszeichnen, die wir „mäeutisch“ nennen können. Ihre Aktion besteht nicht darin, sich dem – von den Gesetzen der bürgerlichen Konkurrenz bestimmten – Lauf der Ereignisse auszuliefern, sie besteht in kritischer Erwartung. Die Geschichte ist ein kontinuierlicher Gestaltungsprozeß und daher wesentlich unvorhersehbar. Aber das bedeutet nicht, daß nun alles in der geschichtlichen Entwicklung unvorhersehbar sei, daß also die Geschichte von Willkür und unverantwortlichen Launen beherrscht werde. Die Geschichte ist Freiheit und Notwendigkeit zugleich. Die Institutionen, in deren Entwicklung und deren Aktivität die Geschichte sich verkörpert, sind entstanden und bleiben bestehen, weil sie eine Mission zu erfüllen haben. Bestimmte objektive Bedingungen der Produktion materieller Güter und des Bewußtseins der Menschen sind entstanden und haben sich weiterentwickelt. Wenn diese objektiven Bedingungen, die aufgrund ihrer mechanischen Natur nahezu mathematisch meßbar sind, sich ändern, ändert sich der Grad der Bewußtheit der Menschen: die gesellschaftliche Gestalt verändert sich, die traditionellen Institutionen verarmen, entsprechen ihrer Aufgabe nicht mehr, werden schwerfällig und schädlich. Wenn die Intelligenz sich unfähig erwiese, im Werden der Geschichte einen Rhythmus, einen Prozeß festzustellen, so wäre das Leben der Zivilisation unmöglich: das politische Genie erkennt man gerade an der Fähigkeit, sich der größten Anzahl notwendiger und konkreter Daten zu bemächtigen, um einen Entwicklungsprozeß festzustellen; d. h. an der Fähigkeit, die nahe und ferne Zukunft vorwegzunehmen und dieser Intuition entsprechend die Aktivität eines Staates zu bestimmen und das Glück eines Volkes zu riskieren. So betrachtet ist Karl Marx mit Abstand das größte aller zeitgenössischen politischen Genies gewesen. Die Sozialisten haben, oft blindlings, die von der kapitalistischen Initiative produzierte geschichtliche Wirklichkeit hingenommen; sie sind dem Irrtum der Psychologie der liberalen Ökonomisten verfallen: nämlich an die Ewigkeit der Institutionen des demokratischen Staates, an ihre grundsätzliche Perfektion zu glauben. Ihrer Meinung nach kann die Form der demokratischen Institutionen mit Retuschen hier und da korrigiert werden, muß aber grundsätzlich respektiert werden. Ein Beispiel dieser engen, eitlen Psychologie ist Filippo Turatis Urteil, demzufolge das Parlament sich zum Sowjet wie die Stadt zur barbarischen Horde verhält.

Aus dieser irrigen Auffassung vom geschichtlichen Werden, aus der hochbetagten Praxis des Kompromisses und aus einer „kretinhaft“ parlamentarischen Taktik heraus, erwächst die heutige Formel von der „Eroberung des Staates“.

Wir sind überzeugt, daß nach den revolutionären Erfahrungen Rußlands, Ungarns und Deutschlands der sozialistische Staat sich nicht in den Institutionen des kapitalistischen Staates verkörpern kann, sondern – verglichen mit ihnen, sogar verglichen mit der Geschichte des Proletariats – in einer grundlegend neuen Schöpfung. Die Institutionen des kapitalistischen Staates sind zum Zweck der freien Konkurrenz organisiert: es genügt nicht, das Personal auszutauschen, um ihnen eine andere Richtung zu geben. Der sozialistische Staat ist noch nicht der Kommunismus, d. h. die Einsetzung von solidaristisch-ökonomischen Handlungsweisen und Sitten; er ist vielmehr ein Übergangsstaat, der die Aufgabe hat, mit der Aufhebung des Privateigentums, der Klassen und der nationalen Wirtschaft die Konkurrenz aufzuheben: diese Aufgabe kann die parlamentarische Demokratie nicht lösen. Die Formel „Eroberung des Staates“ muß in diesem Sinne verstanden werden: es muß ein neuer Staatstypus geschaffen werden, der aus den Erfahrungen der Vergesellschaftung der proletarischen Klasse hervorgeht, und den demokratisch-parlamentarischen Staat ersetzt.

Und hier kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. Wir haben gesagt, daß ich die vergangenen Institutionen der sozialistischen und proletarischen Bewegung nicht autonom entwickelt haben, sondern aus der allgemeinen Konstellation der menschlichen Gesellschaft resultierten, die von den souveränen Gesetzen des Kapitalismus beherrscht wird. Der Krieg hat die strategische Lage des Klassenkampfes umgestülpt. Die Kapitalisten haben ihre Vormacht eingebüßt: ihre Freiheit ist begrenzt; ihre Alleinherrschaft annulliert. Die kapitalistische Konzentration hat den höchstmöglichen Grad ihrer Entwicklung erreicht und das Weltmonopol der Produktion und des Austauschs verwirklicht. Die entsprechende Konzentration der arbeitenden Massen hat der revolutionären proletarischen Klasse eine unerhörte Macht gegeben.

Die traditionellen Institutionen der sozialistischen Bewegung sind nicht mehr in der Lage, soviel aufblühendes revolutionäres Leben zu umfassen. Ihre Form ist nicht geeignet, die Kräfte, die sich dem bewußten geschichtlichen Prozeß anschließen, zu disziplinieren. Die Institutionen sind nicht tot; als Funktion der freien Konkurrenz geboren, müssen sie weiterbestehen bis zur Unterdrückung eines jeden Rests von Konkurrenz, bis zur völligen Auflösung der Klassen und Parteien, bis zur Verschmelzung der nationalen proletarischen Diktaturen in der kommunistischen Internationale. Aber daneben muß sich ein neuer Typ von Institutionen entwickeln, staatliche Institutionen, die die privaten und öffentlichen des demokratisch-parlamentarischen Staates ersetzen; Institutionen, die die Person des Kapitalisten in den administrativen Funktionen und in der industriellen Macht ersetzen und in der Fabrik die Autonomie des Produzenten verwirklichen. Diese Institutionen müssen alle leitenden Funktionen der komplizierten Produktions- und Tauschverhältnisse zwischen den Abteilungen einer Fabrik übernehmen können, sie müssen eine elementare ökonomische Einheit bilden, so wie die verschiedenen Aktivitäten innerhalb der Agrarwirtschaft miteinander verbunden sind. Sie müssen, horizontal und vertikal, den ausgewogenen Komplex der nationalen und internationalen Ökonomie bilden, der nun von der hinderlichen und parasitären Tyrannei der Privateigentümer befreit ist.

Niemals ist der revolutionäre Enthusiasmus im Proletariat Westeuropas glühender gewesen als heute. Aber es scheint uns, daß im Augenblick das klare Bewußtsein vom Ziel nicht von einem genauso klaren Bewußtsein der Mittel, wie das Ziel zu erreichen sei, begleitet wird. In den Massen hat nun mehr die Überzeugung Fuß gefaßt, daß der proletarische Staat sich im System der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte verkörpert. Jedoch ist noch keine taktische Konzeption entwickelt worden, die die Gründung eines solchen Staates objektiv sichert. Es ist deswegen notwendig, von jetzt an ein Netz von proletarischen Institutionen zu schaffen, die im Bewußtsein der großen Massen verankert sind und sich auf die Disziplin und die Treue der großen Massen verlassen können, innerhalb derer die Klasse der Arbeiter und der Bauern in ihrer Totalität eine an Dynamik und Entwicklungsmöglichkeiten reiche Form annimmt. Wenn unter den gegenwärtigen Bedingungen der proletarischen Organisation eine Massenbewegung revolutionären Charakters entstünde, so ist gewiß, daß die Ergebnisse sich in einer bloß formalen Korrektur des demokratischen Staates konsolidieren, sich (durch eine verfassunggebende Versammlung) in einer Machtausweitung der Abgeordnetenkammer und in einer Machtübernahme der antikommunistischen, unaufrichtigen Sozialisten auflösen würden. Die deutschen und österreichischen Erfahrungen sollten als Lehre dienen. Die Macht des demokratischen Staates und der Kapitalisten ist noch sehr groß: man sollte sich nicht verhehlen, daß der Kapitalismus sich vor allem mit Hilfe von Denunzianten und Lakaien aufrechterhält – und dieses Pack ist noch nicht verschwunden. Die Gründung eines proletarischen Staates ist also keine wundertätige Handlung: sie ist ein Werden, ein Entwicklungsprozeß. Man muß den bereits bestehenden proletarischen Institutionen in der Fabrik größere Entwicklungsmöglichkeiten und größere Vollmachten geben, ähnliche Institutionen in den Dörfern einrichten und erreichen, daß ihre Mitglieder Kommunisten sind, die sich der revolutionären Aufgabe dieser Institutionen bewußt sind. Sonst werden aller Enthusiasmus und aller Glaube der arbeitenden Massen nicht verhindern können, daß sich die Revolution in einem Parlament von Schwindlern und Verantwortungslosen elendig wiederfindet und daß neue und schrecklichere Opfer nötig sein werden, ehe der Staat der Proletarier kommen wird.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008