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Nicht gezeichnet, Il Grido del Popolo, 16.3.1918, Jg.XXIII, Nr.712;
in: Antonio Gramsci, Scritti giovanili 1913-1918, Turin 1958, S.194-197.)
Ins Deutsch übersetzt von Sabine Kebir;
in: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig, 1986.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan fü das Marxists’ Internet Archive.
Ein Jahr ist verstrichen seit jenem Tag, an dem das russische Volk den Zaren Nikolaus II. gezwungen hat, abzudanken- und ins Exil zu gehen. Die Erinnerung an diesen Jahrestag bringt wenig, Erfreuliches. Schmerz, Zerstörung, scheinbarer Ruin, Gegenoffensive der Bourgeoisie mit deutschen Bajonetten und Maschinengewehren.
Ist die russische Revolution zu Ende? Ist das russische Proletariat gescheitert bei dem größten Aufstandsversuch, den es jemals in der Geschichte unternommen hat? Nach außen hin sieht es trostlos aus: Die deutschen Generäle sind in Odessa angelangt; die Japaner, sagt man, sind bereit zu intervenieren; 50 Millionen Menschen sind von der Revolution abgeschnitten und mit ihnen die fruchtbarsten Böden, Meereshäfen, die Straßen der Zivilisation und des Wirtschaftslebens. Die Revolution, geboren aus Schmerz und Verzweiflung, setzt sich mit Schmerz und Leiden fort, zusammengepreßt von einem Ring feindlicher Kräfte, getrieben in eine ökonomische Situation, die weit entfernt von ihrem Ideal, von ihren Zielen ist.
Im März 1917 [1] meldeten uns die Depeschen, daß in Rußland eine Welt zusammengebrochen sei: eine nunmehr vergangene Welt, lebloser Schein einer Macht, welche entstanden war und sich gestärkt und aufrechterhalten hatte durch blutige Gewalt, durch die.. Unterdrückung des Geistes und die Folter gequälter Leiber.
Diese Macht hatte eine gewaltige Staatsmaschinerie hervorgebracht. 170 Millionen menschlicher Kreaturen waren gezwungen worden, ihr Menschsein, ihr geistiges Wesen zu vergessen, um zu dienen. Wem? Der Idee des russischen Imperiums, des großen russischen Staates, der bis zu den warmen offenen Meeren gelangen sollte, um der ökonomischen Aktivität Absatzgebiete zu erobern, die vor jeglicher Konkurrenz und vor jeder Kriegsüberraschung sicher waren. Das russische Imperium war eine monströse Notwendigkeit der modernen Welt: Damit es leben,. sich entwickeln und sich Möglichkeiten für seine Aktivität sichern konnte, mußten sich zehn Rassen, 170 Millionen Menschen einer grausamen staatlichen Disziplin unterwerfen, auf das Menschsein verzichten und reine Instrumente der Macht sein. Das waren Jahrhunderte des Martyriums und der Kreuzigung; und solch ein Martyrium verschärft sich je mehr die Zivilisation fortschreitet und das Bewußtsein sich entwickelt. Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit macht sich immer zwingender bemerkbar, aber die Staatsräson, muß es ersticken, muß Tausende, Hunderttausende von Individuen vernichten, um die Einheit zu bewahren, um diese 170 Millionen zusammenzuhalten, die allein durch ihre Zahl der kapitalistischen Konkurrenz die Stirn bieten, das Gleichgewicht gegenüber den gegnerischen Kräften der Weltkonkurrenz herstellen. Die Individuen verlieren jede Selbständigkeit, jede Freiheit, damit der Staat im Verhältnis zu anderen Staaten selbständig und frei sein kann. So kommt es, daß die Individuen in ihrem Bewußtsein Höhepunkte an Geistigkeit erreichen, die in keinem anderen Land erklommen worden sind. Die russische Literatur ist das schmerzvolle. Dokument eines inneren Bewußtseins, das nicht seinesgleichen hat. Niemals hat eine solche Suche nach menschlichen Werten, eine solche Selbstanalyse, eine solche Inbesitznahme der Persönlichkeit stattgefunden. Die russische Literatur ist ein einzigartiges Dokument in der Geschichte, weil der Schmerz, die Erniedrigung, denen die Menschen in Rußland unterworfen waren, nicht ihresgleichen hatten. Die Körper krümmten sich unter der Last der sozialen Ketten, doch die Seelen; denen der Blick auf die äußere Welt genommen ist, besinnen sich auf sich selbst. Und ein Gesang erhebt sich, erhaben und übermenschlich, ein Gesang komprimierten Schmerzes, der Verzweiflung, der Läuterung, für den man nur beiden Propheten des Volkes von Israel eine gewisse Ähnlichkeit finden kann.
Im März 1917 brach die monströse Maschinerie zusammen, verfault, aufgelöst in ihrer angeborenen Impotenz. Die Menschen richten sich auf, schauen einander in die Augen. Die menschlichen Werte bekommen die Oberhand. Die Äußerlichkeit hat keinen Wert mehr, sie hat zuviel Unheil angerichtet, zuviel Schmerz erzeugt, zuviel Blut vergossen. Es beginnt die Geschichte, die wahre Geschichte. Jeder will Herr des eigenen Schicksals sein, man möchte, daß sich die Gesellschaft in Übereinstimmung mit dem Geist formt und nicht umgekehrt. Die Organisation des Zusammenlebens der Bürger muß ein Ausdruck der Menschlichkeit sein, sie muß alle Selbständigkeit alle Freiheiten respektieren. Die neue Geschichte der menschlichen Gesellschaft beginnt, es werden neue Erfahrungen in der Geschichte, des menschlichen Geistes gemacht. Sie kommen in Übereinstimmung mit dem Ausdruck, den das sozialistische Ideal den elementaren Bedürfnissen der Menschen gegeben hatte. Die Sozialisten als politische Klasse erringen die Macht ohne allzu große Anstrengung: Ihr Glaubensbekenntnis. stimmt überein mit den unklaren und vagen Bestrebungen des russischen Volkes. Sie müssen eine neue Organisation verwirklichen, neue Gesetze. geben, die neue Ordnung festigen.
Die Vergangenheit lebt noch fort, sie wird verschwinden. Dem Anschein nach herrschen Auflösung, Unordnung, Durcheinander. Scheinbar kehrt man zur Gesellschaft auf der Stufe der Barbarei, also zur Nichtgesellschaft zurück. Die Vergangenheit lebt fort, jenseits des befreiten Territoriums, sie drängt und fordert Revanche. Die neue Ordnung zögert, sich zu verwirklichen. Zögert sie? Oh, skeptische und verirrte Menschheit – sie zögert nicht, nein, weil man eine Gesellschaft nicht mit einem "Es werde" aufbaut, weil das Unheil der Vergangenheit kein papierenes Haus ist, das man im Nu entzünden kann. Das Leben ist eine schmerzhafte Anstrengung, ein zäher Kampf gegen die Gewohnheiten, gegen das Animalische und den rohen Instinkt, der sich unablässig meldet. Man errichtet eine neue Gesellschaft nicht in sechs Monaten, wenn drei Jahre Krieg ein Land ausgelaugt und der technischen Mittel. des zivilen Lebens beraubt haben. Die Reorganisation des Lebens von Millionen und aber Millionen Menschen in Freiheit ist nicht so leicht, wenn alles dagegen ist und nichts überdauert hat als der unbezwingbare Geist. Die Geschichte der russischen Revolution ist nicht abgeschlossen und wird mit dem Jahrestag ihres Beginns Nicht abgeschlossen werden. Wie ein Gesang schon vor der Drucklegung in der Phantasie des Dichters existiert, so existiert der Plan der gesellschaftlichen Organisation im Bewußtsein und im Willen. Die Menschen haben sich gewandelt, das ist entscheidend. Man will das Äußerliche, die gedruckte Seite sehen. Man zetert wegen jedes Mißerfolgs, wegen jedes ersichtlichen Rückschlags. Man fordert von den Russen, was die Historiker nicht von den vorangegangenen Revolutionen fordern: die augenblickliche Schaffung einer neuen Ordnung. Man setzt Pläne voraus, die nie existiert haben, Hoffnungen, die niemals geträumt worden sind. Und diese Pläne, diese Hoffnungen werden verglichen mit der derzeitigen Realität, um daraus das Mißlingen, den Zusammenbruch zu schlußfolgern. Man vergleicht sie mit der Realität – die man als Ergebnis eines Jahres der neuen Geschichte ausgibt, die aber aus Jahrhunderten bestialischer Unterdrückung resultiert. Man fordert das Unmögliche, was man den Menschen der Vergangenheit niemals abverlangt hat. Wie oft ist während der Französischen Revolution die Hauptstadt von Feinden besetzt gewesen? Und diese Besetzung erfolgte, nachdem Napoleon autoritär die revolutionären Kräfte organisiert und die französischen Heere von Sieg zu Sieg geführt hatte. Und Frankreich war klein im Vergleich zum grenzenlosen Rußland. Nein, die mechanischen Kräfte setzen sich niemals in der Geschichte durch; es sind die Menschen, das Bewußtsein, es ist der Geist, der die äußere Gestalt formt und schließlich immer triumphiert. Ein Jahr Geschichte hat sich vollendet, aber die Geschichte geht weiter. ...
[Sechs Zeilen von der Zensur gestrichen.]
1. Bezieht sich auf die Februarrevolution (nach dem Gregorianischen Kalender im März).
Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008