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Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.20-23.
Zuerst veröffentlicht in Il Grido del Popolo, 29. Januar 1916.
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Vor einiger Zeit ist uns ein Artikel in die Hände geraten, in dem Enrico Leone – in der ihm allzu häufig eigenen nebelhaften und verwickelten Form – einige Gemeinplätze über Kultur und Intellektualismus und ihrem Verhältnis zum Proletariat wiederholte. Leone stellt ihnen die Praxis, das historische Faktum, gegenüber, durch die die Klasse mit eigenen Händen die Zukunft vorbereite. Wir glauben, man tut gut daran, dieses Thema wieder aufzugreifen, das auch schon früher im Grido behandelt wurde und vor allem in der Avanguardia eine mehr theoretische Behandlung, durch die Polemik zwischen Bordiga aus Neapel und unserem Tasca, erfuhr.
Wir bringen zwei Zitate in Erinnerung: das eine von Novalis: „Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollständigem Sinn und Verstand für andre. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andere wahrhaft verstehen lernen.“ Das andere, das wir hier dem Inhalt nach kurz wiedergeben, ist von G.B. Vico. Er interpretiert den berühmten Ausspruch von Solon „Erkenne dich selbst“, den später Sokrates übernahm, philosophisch. Vico behauptete, daß Solon mit diesem Ausspruch die Plebejer zum Nachdenken hätte anhalten wollen, die glaubten, tierischen Ursprungs zu sein, die Adeligen dagegen seien göttlicher Herkunft; sie sollten erkennen, daß sie menschlicher Natur seien wie die Adligen, und sollten fordern, mit jenen im bürgerlichen Recht gleichgestellt zu werden. Und Vico setzt dann dieses Bewußtsein der menschlichen Gleichheit von Plebejern und Adligen als Ursache und historische Begründung für die Entstehung der demokratischen Republiken der Antike.
Wir haben keinesfalls diese beiden Zitate aufs Geratewohl herangeholt. Sie scheinen uns die Prinzipien anzudeuten oder auch vage auszudrücken und zu definieren, auf denen sich auch im Sozialismus ein rechtes Verständnis des Begriffs Kultur gründen sollte.
Man muß sich abgewöhnen, die Kultur als enzyklopädisches Wissen zu begreifen, wobei der Mensch nur wie ein Gefäß betrachtet wird, das mit empirischen Daten und rohen, unzusammenhängenden Fakten anzufüllen ist; er muß sie in seinem Gehirn wie in den Spalten eines Wörterbuchs anordnen, um dann bei jeder Gelegenheit auf die verschiedenen Reize der Außenwelt reagieren zu können. Diese Form der Kultur ist wahrhaft schädlich, besonders für das Proletariat. Die Folge davon sind verschrobene Leute, die sich der übrigen Menschheit überlegen dünken, weil sie in ihrem Gedächtnis eine gewisse Anzahl von Daten aufgehäuft haben, die sie bei jeder Gelegenheit vor sich herplappern, um so nachgerade eine Mauer zwischen sich und den anderen aufzurichten. Die Folge ist jener gewisse dämpfige und farblose Intellektualismus, der – treffend von Romain Rolland gegeißelt – ein ganzes Rudel von Eingebildeten und Phantasten erzeugte, die das gesellschaftliche Leben mehr zerstören als der Tuberkelbazillus und die Syphilis die Schönheit und Gesundheit des Körpers zerstören können. Das Studentlein mit seinen wenigen Latein- und Geschichtskenntnissen und der Winkeladvokat, dem es gelungen ist, der Unlust und dem Schlendrian der Professoren einen lumpigen Doktortitel zu entreißen, sie glauben, auch dem besten Facharbeiter überlegen zu sein und sich von ihm zu unterscheiden, der im Leben eine genau umrissene, unentbehrliche Aufgabe erfüllt und in seiner Tätigkeit hundertmal mehr wert ist als die anderen. Ihre Tätigkeit ist keine Kultur, sie ist Pedanterie, sie ist keine Intelligenz, sondern Intellekt, und dagegen reagiert man zu Recht.
Kultur ist etwas ganzes anderes. Sie ist Organisation, Disziplin des eigenen Ichs, Besitz der eigenen Persönlichkeit, Eroberung eines höheren Bewußtseins, mit dessen Hilfe es gelingt, den eigenen geschichtlichen Wert zu begreifen, die eigene Funktion im Leben, die eigenen Rechte und Pflichten. Aber all das kann nicht auf dem Wege spontaner Entwicklung erfolgen, durch willensunabhängige Aktionen und Reaktionen, wie in der Natur bei Pflanzen und Tieren, wo jedes einzelne, vom Gesetz der Dinge bestimmt, die eignen Organe unbewußt selektiert und spezifiziert.
Der Mensch ist vor allem Geist, geschichtliche Schöpfung und nicht Natur. Sonst ließe sich nicht erklären, warum – da es immer Ausgebeutete und Ausbeuter gegeben hat, immer Produzenten von Reichtum und egoistische Konsumenten dieses Reichtums – sich der Sozialismus noch nicht verwirklicht hat. Das bedeutet, daß nur Schritt für Schritt, Schicht um Schicht die Menschheit das Bewußtsein des eigenen Werts erlangt und sich das Recht erworben hat, unabhängig von den Vorstellungen und Vorrechten von Minderheiten zu leben, die sich geschichtlich früher durchsetzten. Und dieses Bewußtsein hat sich nicht unter dem brutalen Stachel physiologischer Notwendigkeiten entwickelt. Vielmehr haben erst einige, dann eine ganze Klasse, über die Ursache gewisser Tatsachen und über die besten Mittel nachgedacht, aus ihnen statt Anlässen zur Unterdrückung Momente der Rebellion und des gesellschaftlichen Wiederaufbaus zu machen. Das bedeutet, daß jeder Revolution eine intensive kritische Arbeit vorausging, daß zunächst widerspenstige Menschen kulturell und „ideologisch“ durchdrungen wurden, Menschen, die nur bedacht waren, täglich, stündlich ihre eigenen ökonomischen und politischen Probleme für sich allein zu lösen, ohne mit den anderen, die sich in der gleichen Lage befinden, solidarisch zu erklären. Das letzte, uns nächste Beispiel, ist die Französische Revolution. Die vorausgegangene kulturelle Periode der Aufklärung, so sehr von den unbeschwerten Kritikern der theoretischen Vernunft diffamiert, war keineswegs oder zumindest nicht nur ein Gefasel oberflächlicher enzyklopädischer Geister, die von allem und jedem mit gleicher Unerschütterlichkeit redeten und glaubten, nur dann Menschen ihres Zeitalters zu sein, wenn sie die Große Enzyklopädie D’Alemberts und Diderots gelesen hatten. Es war keineswegs nur ein Phänomen pedantischen und unfruchtbaren Intellektualismus, wie wir ihn geißelten und der seinen höchsten Ausdruck in den Volkshochschulen schlimmster Güte findet. Die Aufklärung war selbst eine großartige Revolution, die – wie De Sanctis scharfsinnig in seiner Geschichte der italienischen Literatur bemerkt – sich in ganz Europa als einheitliches Bewußtsein herausgebildet hatte, als eine bürgerliche geistige Internationale, die in jedem ihrer Teile die gemeinsamen Unglücksfälle und Schmerzen fühlte und die die beste Vorbereitung für den blutigen Aufstand war, der sich dann in Frankreich abspielte.
In Italien, Frankreich, in Deutschland diskutierte man die gleichen Probleme, die gleichen Institutionen, die gleichen Prinzipien. Jede neue Komödie Voltaires, jedes neue Pamphlet war wie ein Funke, der längs der von Staat zu Staat, von Land zu Land gespannten Drähte übersprang und Zustimmende und Ablehnende überall und zu gleicher Zeit fand. Die Bajonette der napoleonischen Armeen fanden bereits den Weg von einem unsichtbaren Heer von Büchern und Broschüren geebnet, die von Paris seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgeschwärmt waren und Menschen und Institutionen für die notwendigen Erneuerungen vorbereitet hatten. Später, als die französischen Ereignisse das Bewußtsein geschärft hatten, genügte ein Volksaufstand in Paris, um ähnliche Aufstände in Mailand, Wien und in kleineren Zentren auszulösen. All das scheint natürlich, spontan und leicht; es wäre hingegen unvorstellbar, wenn nicht die kulturellen Faktoren bekannt wären, die zu jenen Gefühlen beitrugen, die für eine gemeinsam geglaubte Sache sich zu entladen bereit waren.
Das gleiche Phänomen wiederholt sich heute beim Sozialismus. Durch die Kritik an der kapitalistischen Zivilisation hat sich das einheitliche Bewußtsein des Proletariats gebildet oder ist im Begriff sich zu bilden, und Kritik bedeutet Kultur, und nicht bloß spontane und naturalistische Entwicklung. Kritik heißt eben jenes Bewußtsein des Ich, das Novalis als Ziel der Kultur bezeichnete; ein Ich, das sich den anderen entgegenstellt, sich differenziert und – nachdem es sich ein Ziel gesteckt hat – die Tatsachen und Ereignisse nicht nur an sich und für sich beurteilt, sondern auch als vorwärtstreibende oder rückwärtsdrängende Werte. Sich selbst erkennen, heißt selbst sein, heißt Herr seiner selbst sein, sich unterscheiden, aus dem Chaos heraustreten, heißt ein Element der Ordnung sein, aber der eigenen Ordnung und der eigenen, einem Ideal zugewandten Disziplin. Und dies erreicht man nicht, wenn man nicht auch die anderen kennt: ihre Geschichte, die Serie ihrer Anstrengungen, zu sein, was sie sind, die Zivilisation zu gründen, die sie gegründet haben und die wir durch unsere Zivilisation ablösen wollen. Es bedeutet zu wissen, was die Natur und ihre Gesetze sind, um die Gesetze zu kennen, die den Geist regieren. Und all dies lernen, ohne das letzte Ziel aus den Augen zu verlieren: besser sich selbst durch die anderen und die anderen durch sich selbst kennenzulernen.
Wenn es stimmt, daß die Universalgeschichte eine Kette von Anstrengungen ist, die der Mensch unternommen hat, um sich von Privilegien, Vorurteilen und Götzenverehrung zu befreien, so ist nicht zu verstehen, weshalb das Proletariat, das dieser Kette einen weiteren Ring hinzufügen will, nicht vissen darf, wie und warum, wer sein Vorgänger gewesen ist und welchen es aus diesem Wissen ziehen könnte.
Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008