Gustav Eckstein

Ein deutscher Professor
auf dem Kriegspfad

(1. Februar 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 5, 1. Februar 1909, S. 214–219.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Gegensatz zwischen bürgerlicher und proletarischer Denkweise tritt nicht nur auf den Gebieten der täglichen Praxis und der Politik in die Erscheinung, sondern auch auf dem der theoretischen Forschung und Erörterung. Man hat allerdings vielfach über „proletarische Mathematik oder Astronomie“ gespöttelt, um diesen Gegensatz ins Lächerliche zu ziehen und die Wissenschaft als etwas über alle Klassengegensätze Erhabenes hinzustellen; aber Spott ist stets wohlfeil und entscheidet an und für sich nichts über Wert oder Unwert seines Objekts.

Natürlich tritt dieser Zwiespalt der Auffassung in den Sozialwissenschaften am schärfsten hervor und von ihnen nimmt er auch seinen Ursprung. Es ist nicht leicht, ihn auf eine Formel zu reduzieren. Der Hauptunterschied ist aber doch wohl der, dass die bürgerliche Denkweise die bestehende soziale Welt als etwas Feststehendes ansieht, an dem wohl einzelne Veränderungen auftreten können, dessen Wesen aber doch erhalten bleibt. Uns hingegen erscheint die kapitalistische Welt, die uns umgibt, lediglich als ein Durchgangsstadium zu anderen Gestaltungen.

Beim Studium des Kapitalismus selbst muss dieser Gegensatz besonders deutlich werden. Der bürgerliche Theoretiker sucht die Gesetze des Bestandes, wir suchen die der Umwandlung der sozialen Welt; und damit ergibt sich auch eine verschiedene Auffassung den anderen Problemen gegenüber. Wer im bürgerlichen Denken befangen ist, der wird dieses auch auf die ihn umgebende Natur anzuwenden geneigt sein, ohne dass ihm dies zum Bewusstsein zu kommen braucht, er wird die Gesetze des Bestehens zu erforschen streben. Wer hingegen gewohnt ist, die gesellschaftlichen Einrichtungen als im ewigen Fluss befindlich zu betrachten, dem wird auch diese Betrachtungsweise den Naturphänomenen gegenüber näher liegen. Natürlich ist damit nicht gesagt, dass dieser Unterschied in jedem einzelnen Fall zutreffen muss. Je weiter ein wissenschaftliches Gebiet von dem sozialen Bereich entfernt ist, desto eher wird seine Behandlung von den sozialen Anschauungen unabhängig sein, denen der Forscher zuneigt. Aber in den meisten Fällen wird sich diese Abhängigkeit doch in irgend einer Weise geltend machen.

Lässt man diesen grundlegenden Unterschied ausser acht, so verschliesst man sich von vornherein meist das Verständnis der Theorien, die den Anschauungen der beiden Parteien zugrunde liegen.

So entspringt der verbreitetste Irrtum über die Marxsche Wertlehre der missverständlichen Anschauung, als ob es ihr Zweck wäre, die Erscheinungen des wirtschaftlichen Kapitalismus auf eine rationale Formel zu bringen, den Bestand dieses Wirtschaftssystems zu erklären. Dann bleibt es allerdings rätselhaft, wieso der Wert einer Ware von der zu ihrer Herstellung „gesellschaftlich notwendigen“ Arbeitszeit abhängen kann; denn wie gross das gesellschaftliche Bedürfnis ist, also auch, wie viel Arbeit zur Herstellung der Ware vom Standpunkt des gesellschaftlichen Bedarfs notwendig war, stellt sich erst heraus, wenn die Ware auf den Markt gebracht ist; dann ist aber der Produktionsprozess bereits abgeschlossen, der Wert bereits dem Produkt einverleibt. Dieser anscheinende Widerspruch, dass der Wert durch die Arbeit bestimmt wird, es sich aber erst später herausstellen muss, ob diese Arbeit auch gesellschaftlich notwendig, das heisst wirklich wertschaffend war, verschwindet aber sofort, sobald man sich bewusst wird, dass diese Grundlehre des Marxismus eben nicht den Fortbestand und ruhigen Verlauf des Kapitalismus erklären will, sondern seine inneren Widersprüche und die Notwendigkeit seiner Umwandlung in eine andere Gesellschaftsform aufzeigt. Gerade daraus, dass kein Produzent weiss, ob die Arbeit, die er in sein Produkt steckt, auch wertbildend ist, das heisst dem gesellschaftlichen, unter der Herrschaft des Kapitalismus also dem kaufkräftigen Bedarf entspricht, ob seine Ware auf dem Markt Absatz finden wird, entspringen alle diesem System eigentümlichen Widersprüche. Aus dieser ewigen Ungewissheit ergibt sich der ganze Spekulationscharakter, der unserem Wirtschaftsleben anhaftet, aus diesem Widerspruch entspringen die Wirtschaftskrisen und die gewaltsamen Versuche, sie zu bannen oder auszunützen, die Kartelle und Trusts, und andererseits die Kolonialpolitik und der Imperialismus.

Wer alle diese Erscheinungen nicht als notwendige Ergebnisse des Kapitalismus, sondern lediglich als „Auswüchse“ an seinem Körper betrachtet, die nur beschnitten werden müssen, damit der kranke Organismus aufs neue auflebe, der ist geneigt, diesen offenbaren Widerspruch nicht im wirklichen Leben zu suchen, wo ihn Marx fand und in seiner Werttheorie zum Ausdruck brachte, sondern in dieser Theorie selbst, die dadurch als falsch erwiesen wird. In nichts anderem zeigt sich vielleicht so deutlich, wie weit selbst manche sozialistische Theoretiker sich von der proletarischen Denkweise entfernt haben, wie darin, dass sie gerade diesem Kernpunkt der Marxschen Lehre verständnislos gegenüberstehen und sich der Grenznutzentheorie zuneigen, deren Unzulänglichkeit zwar wiederholt genügend dargetan wurde, die aber wenigstens den Anschein erweckt, als ob sie die Stabilität, die Beständigkeit des Kapitalismus erklärte und damit verbürgte.

Ich habe dieses Beispiel ausführlicher erörtert, nicht nur wegen seiner Wichtigkeit, da es die Grundlagen der Marxschen Theorie berührt, sondern auch um zu zeigen, dass der Gegensatz der beiden Auffassungsweisen durchaus nicht auf bösem Willen oder Vorsatz beruht. Man kann schon wohl mit dem Proletariat die wärmsten Sympathien haben, dabei aber an den Fortbestand unserer Wirtschaftsordnung glauben oder wenigstens sich von dieser Anschauung nicht losmachen können. In diesem Falle wird man geneigt sein, nur für Reformen im Rahmen dieser Wirtschaftsform einzutreten, man wird aber ihr Wesen als fest und beständig auffassen und daher jene Theorien nicht verstehen, die den Widerspruch dieses Systems, seine Selbstaufhebung in sich schliessen und dartun; die bürgerliche Denkweise wird vorherrschend bleiben.

Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass die beiden Parteien nicht viel Voneinander lernen können und dass wir die bürgerliche Wissenschaft verächtlich beiseite werfen sollen. Im Gegenteil, wir verdanken ihr viel und müssen sie fortgesetzt im Auge behalten, nicht nur, um ihre Angriffe auf uns abzuwehren und ihre Irrtümer richtigzustellen, sondern auch um von ihren Fortschritten Nutzen zu ziehen. Um dies aber mit wirklichem Gewinn tun zu können, ist es eben notwendig, ihr gegenüber eine klare prinzipielle Stellung einzunehmen, die von überhebender Verachtung ebenso weit entfernt ist wie vom blinden Autoritätsglauben, der sich seit einiger Zeit in unseren Reihen der offiziellen Universitätswissenschaft gegenüber wieder stärker geltend macht. Ich verweise da bloss auf die Stellung Maurenbrechers und Eisners gegenüber der Berliner Parteischule.

Für uns ergibt sich hieraus klar die Stellung der bürgerlichen Wissenschaft gegenüber. Wir anerkennen bereitwilligst alles Wertvolle, was sie schafft, und wir können dies um so leichter, wenn wir nicht ausser acht lassen, dass wir prinzipiell auf einem anderen Standpunkt stehen. Erst diese Erkenntnis ermöglicht uns ein objektives Urteil auch dort, wo die Anschauungen weit auseinander gehen. Wir können dann eben auseinanderhalten, was sich aus der prinzipiellen Stellung ergibt und für uns deshalb unannehmbar ist, und was uns doch noch trotzdem von realen Erkenntnissen verbleibt. Und wir können uns auch mit unseren bürgerlichen Gegnern in aller Ruhe und mit aller Höflichkeit auseinandersetzen, solange wir nur annehmen können, dass auch auf ihrer Seite das Streben herrscht, unseren Standpunkt zu verstehen und uns gerecht zu werden.

Leider lässt es die offizielle Wissenschaft gerade daran nur zu oft fehlen. In ihrem Unfehlbarkeitsglauben vergisst sie oft ganz zu untersuchen, ob ihr Standpunkt der einzig mögliche ist, und wendet darum von vornherein einen ganz falschen Massstab an. Daher kommen dann die zahlreichen Missverständnisse und Entstellungen; daher kommt es, dass unsere Gegner so oft an uns vorbeireden und Lehren eifrig bekämpfen, die wir nie verfochten haben.

Ein Musterbeispiel geradezu für diese Art des Vorbeiredens aus Mangel an Verständnis der bekämpften Lehren bietet die Rede, die Herr Professor v. Schulze-Gävernitz am 9. Mai 1908 bei der öffentlichen Feier der Uebergabe des Prorektorats der Universität Freiburg i. Br., also bei einem besonders solennen Anlass über das Thema Marx oder Kant hielt, und die nun auch im Druck vorliegt. [1]

Es verlohnt sich, auf diesen Vortrag näher einzugehen, weil er besonders deutlich zeigt, welche Stellung heute der liberale deutsche Professor theoretisch zur Sozialdemokratie einnimmt, wie weit seine Gegnerschaft durch die von der unseren verschiedene bürgerliche Anschauungsweise bedingt und daher in diesen Kreisen allgemein ist, inwiefern sie aber auch über dieses Mass hinausgeht und auf Rechnung persönlicher Gehässigkeit zu setzen ist. Zugleich zeigt sie auch, dass man nicht grobe Worte gebrauchen muss, um seinen Gegner zu beleidigen und zu verhöhnen. Unsere Gegner entrüsten sich ja so gern über den „rüden“ Ton unserer Polemik; aber eine ehrliche Grobheit wirkt lange nicht so aufreizend wie Verleumdung und bornierte Ueberhebung, die sich ihrer eigenen Frechheit vielleicht nicht einmal bewusst ist.

Die Auffassung von den sozialen und wissenschaftlichen Kämpfen unserer Zeit, die in dem erwähnten Vortrag zum Ausdruck gelangt, sieht einigermassen melodramatisch aus. Auf der einen Seite steht der Erzengel Immanuel, sonst Kant geheissen, der mit dem flammenden Schwert der praktischen Vernunft die Heiligtümer der Religion, der Moral und des Geldsackes verteidigt, von der anderen aber zieht die finstere Gestalt des Dämons der Verneinung heran, sonst Marx genannt. Erfüllt von wütendem Hass gegen alles Wertvolle, gegen allen Wert überhaupt, stürmt er gegen die feste Burg des Ideals und des Privateigentums. Zu diesem Angriff hat er sich an die Spitze der Schar der gesellschaftlich Verdammten gestellt, des Proletariats, und als Sturmbock dienen ihm die

Trümmer des schon so oft abgeschlagenen, aber immer wiedererstehenden Erzfeindes aller Kultur, des Materialismus. Aber wie das zu einem guten Melodram gehört, siegt schliesslich doch das Licht und überwunden liegt im tiefsten Abgrund der schnöde Geist der Finsternis.

In diesem Bilde etwa zeigt der Herr Professor v. Schulze seinen Hörern das Verhältnis zwischen Kant und Marx. Für ihn ist die ganze Theorie der Sozialdemokratie, besonders aber die Lehre vom Klassenkampf, ein Produkt der Bosheit und Verstocktheit eines einzelnen. Die zur Bekämpfung des Marxismus vorgebrachten Argumente sind nichts weniger als neu und von unserer Seite schon oft genug widerlegt. Es würde hier zu weit führen, dies alles nochmals vorzubringen. Soweit sich Schulzes Angriffe auf die materialistische Geschichtsauffassung mit dem Standpunkt Rickerts decken, verweise ich deshalb nur auf Max Adlers Kausalität und Teleologie im Kampfe um die Wissenschaft (Marx-Studien, Band I) sowie auf den Artikel über Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts in Neue Zeit, XXVI/1, Seite 701 ff. Alle anderen Punkte finden ihre Erledigung unter anderen in Boudins verdienstvollem Buch The Theoretical System of Karl Marx (Chicago, Ch. H. Kerr u. Co. 1907), von dem nächstens auch eine deutsche Uebersetzung erscheinen soll. Auch kommt es uns hier nicht auf die Argumente selbst an, sondern auf die Art des Kampfes, den der Professor gegen uns führt, auf die Kriegsregeln, denen er folgt.

Zunächst ist es schon höchst auffallend, dass überhaupt Kant und Marx in Gegensatz zueinander gestellt werden. Wie lange ist es her, dass Marx, den die Herren vom Katheder zuerst überhaupt totzuschweigen versuchten, als Nationalökonom von ihnen ernst genommen wird? Natürlich anerkannten sie seine Existenz zunächst nur so weit, dass sie ihn totschlugen, und sie glaubten ihn wirklich tot; denn nach ihrem eigenen Empfinden waren die gegen ihn ins Feld geführten Argumente zumeist gewiss wirklich zutreffend und schlagend. Dass dies aber so oft geschehen musste und dass es auch heute noch nicht überflüssig geworden ist, beweist, dass die Streiche doch nicht ganz so tödlich ausgefallen sein können, wie sie vermeint waren. In der Tat müssen heute auch bürgerliche Gelehrte zugeben, dass die Grenznutzentheorie, die einzige ernsthafte Gegnerin des Marxschen theoretischen Systems, ihre Unzulänglichkeit bereits genügend dargetan hat, und langsam dringt doch ein besseres Verständnis und damit auch eine richtigere Würdigung der Marxschen Wertlehre und ihrer Folgerungen auch in weitere Kreise. Unterdessen aber haben die bürgerlichen Gelehrten sich überzeugen müssen, dass Marx auch sonst nichts weniger als tot ist, und heute dreht sich nicht nur der Kampf in der Philosophie der Geisteswissenschaften immer ausschliesslicher um die Marxschen Prinzipien, die Herren sehen sich nun auch gezwungen, dies einzugestehen. Mit dem äussersten Widerstreben und gewiss auch oft zu ihrem eigenen Staunen haben sie so allmählich doch den Kampf auf der ganzen Front aufnehmen müssen und angesichts dessen erscheint es doch recht sonderbar, wenn sie noch immer zu behaupten versuchen, eigentlich sei ihr Gegner schon seit mindestens 20 Jahren mausetot, und an der Komik dieser Situation wird nichts geändert, wenn sie ihm huldvoll zugestehen, dass er in gewissem Sinne einmal doch auch befruchtend auf die Wissenschaft gewirkt habe. Wäre Marx wirklich tot, wozu ereifern sich denn die Herren von Jahr zu Jahr immer mehr über und gegen ihn? Freilich, bestünde die Welt nur aus Akademikern, dann wäre Marx wirklich schon lange erschlagen; da es aber ein Proletariat und Klassenkämpfe gibt, lebt die Lehre noch, die der Ausdruck und die Erklärung dieser Erscheinungen ist.

Schulze sucht diesen Eindruck dadurch abzuschwächen, dass er die von ihm zugegebene Weltherrschaft der Marxschen Lehren nur für „beschränktere Kreise“ gelten lassen will, worunter er offenbar das Proletariat und seine Wortführer versteht. Dann hat er aber Ort, Zeit und Publikum für seinen Vortrag schlecht gewählt. Zum Proletariat spricht man nicht bei akademischen Feiern, sondern in Volksversammlungen. Dort hätte er allerdings vielleicht doch nicht gewagt, seine guten Ratschläge vorzubringen, mit denen er in wohlwollender Herablassung die sozialistische Bewegung bedenkt. Liesse der Herr Professor die Anweisungen, die er den Arbeitern gibt, auch für sich selbst gelten, dann könnte man sie mit einer gewissen Nachsicht hinnehmen. Sie wären zwar auch dann überflüssig und albern, aber wenigstens ehrlich gemeint. Da es aber Herrn von Schulze gewiss nicht im Traume einfällt, selbst an den „Zukunftsstaat“ zu glauben, den er den Arbeitern als geistiges Spielzeug hinwirft, mit dem sie sich „in Feierstunden“ befassen sollen, so wäre kaum irgend eine Charakterisierung einer solchen schulmeisterlichen Ueberhebung zu scharf. Diese wird dadurch nicht gemildert, dass der Autor sich der Anmassung in seinem Vorgehen vielleicht gar nicht bewusst ist. Ihm als deutschem Professor steht es ja natürlich zu, Arbeitern Ratschläge zu geben, an die er sich selbst nicht für gebunden erachtet, es ist sogar noch eine Gunst von seiner Seite, wenn er sich mit solchen Leuten überhaupt abgibt.

Sein Recht zu solcher Bevormundung beweist Schulze, indem er zeigt, dass er Marx’ Theorien selbst nicht verstanden hat. Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, wie er wieder einmal den dritten Band des Kapital der Werttheorie des ersten Bandes widersprechen lässt. Dieses Missverständnis ist in professoralen Kreisen schon festgewurzelte Gewohnheit geworden. Auch dass er erklärt, zwischen der Werttheorie und der materialistischen Geschichtsauffassung bestehe kein innerer Zusammenhang, während er diese mit dem metaphysischen Materialismus gleichsetzt und Marxens Monismus mit dem Häckels durcheinander wirft, darf uns nicht mehr wundern, so oft wir auch die Irrigkeit dieser Behauptungen dargetan haben. Aber das kann doch nicht mehr ruhig hingenommen werden, wenn Professor v. Schulze die materialistische Geschichtsauffassung „in das Schema giesst“, dass der Naturalproduktion als Eigentumsverhältnis der ursprüngliche Kommunismus, als geistiger Zustand instinktives Bewusstsein, als politischer Zustand die Geschlechterorganisation und als Religion die Naturreligion entsprechen sollen. Ebenso soll dann mit der Warenproduktion das Privateigentum, ein ideologisch irrendes Bewusstsein, der Staat und das Christentum, mit der sozialistischen Produktion aber die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ein die Naturgebundenheit durchschauendes Bewusstsein, der Verein freier Menschen (Zukunftsstaat) und der Atheismus verknüpft sein. Wenn Schulze von diesem Schema sagt, es sei eine „Vergewaltigung der Geschichte“, hat er vollkommen recht; aber es ist in genau demselben Masse eine Vergewaltigung der materialistischen Geschichtsauffassung, die auch weit über das Mass an Missverständnis hinausgeht, das wir ihm sonst zugute halten wollen.

Ein derartiges Verkennen des Wesens der Marxschen Theorie ist allerdings bei den Professoren leider keine Seltenheit. So stellt zum Beispiel sogar ein Mann wie Wundt in seiner Logik die Marxsche Werttheorie so dar, als ob sie für den Zukunftsstaat Geltung erst erlangen solle und nicht für die heutige kapitalistische Welt schon Geltung habe. Und wie oft liest man auch heute noch, Marx habe aus seinem Wertgesetz das Recht auf den vollen Arbeitsertrag abgeleitet oder aus seiner Theorie folge, dass sich der Sozialismus ohne menschliches Zutun aus der Entwicklung des Kapitalismus ergeben müsse. Was für ein Geschrei würden aber nicht nur die Männer der bürgerlichen Wissenschaft, sondern auch ihre Nachbeter unter den Sozialdemokraten erheben, wenn einer von uns mit ähnlich souveräner Unkenntnis über Kant oder auch nur über Herrn von Schulze-Gävernitz urteilen wollte!

Nun, an solche Dinge haben wir uns schon gewöhnt, wir wissen eben, dass diese Missverständnisse wenigstens zum Teil aus der Schwierigkeit herrühren, die es den bürgerlichen Gelehrten macht, sich in die proletarische Gedankenwelt hineinzuversetzen. Was aber, wenigstens vorläufig, doch noch ungewöhnlich ist und auch keine solche mildernde Erklärung verträgt, das ist, dass in einer feierlichen akademischen Rede die schöne Form der Polemik gepflegt wird, wie sie Herr v. Schulze anwendet. Allerdings, wenn ein deutscher Professor sich darüber lustig macht, dass Marx seit den Vierzigerjahren „den Bücherschätzen des Britischen Museums vertrauter wurde als der seit den Sechzigerjahren aufsteigenden Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung der britischen Arbeiter“, dann braucht er um den Heiterkeitserfolg wirklich nicht besorgt zu sein.

Weniger harmlos aber ist es, wenn der Herr Professor die sich aus den Lehren von Marx notwendig ergebende praktische Weltanschauung mit folgenden Worten schildert (Seite 38):

„Voran steht die ‚Messer und Gabelfrage‘. Ist die erste Frage gelöst, so liegt der Wert des Lebens für den Wissenden, dem ‚Ideologie‘ in ihrer durchschauten Nichtigkeit keinen Spass macht, doch wohl in der Menge eingeheimsten Geschlechtsgenusses. Dieses Interesse steht in vielen Fällen hinter der Forderung der ‚freien Liebe‘, deren ‚Folgen‘ durch Präventivmittel abgewehrt oder durch öffentliche Kinderaufzucht der Gesellschaft überwälzt werden sollen. So rücken Engels und Bebel den Geschlechtstrieb in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens und verweilen bei seiner Unbezähnr barkeit, wie schon die älteren Materialisten das ‚Hohelied des Frauenkörpers‘ angestimmt haben. In diesem Punkte berührt sich der marxistische Sozialismus mit dem Geschlechts-,Titanismus‘ moderner – oft impotenter – Dekadenz!“

Wie immer man über die Forderung der freien Liebe und über die künftige Regelung des Geschlechtslebens denken mag, darüber kann kein Zweifel bestehen, dass in der zitierten Stelle nicht nur eine Denunziation und Verleumdung liegt, sondern auch beabsichtigt ist, wie wir sie bisher nur von unseren Christlichsozialen, dem deutschen Reichslügenverband und andern „Schwarzen Banden“ zu hören gewohnt waren. Herrn Professor v. Schulze war es Vorbehalten, sie ex cathedra zu verkünden.

Zur Charakterisierung dieses Vorgehens wäre jedes Wort verschwendet.

Ob und inwieweit Herr v. Schulze befugt ist, im Namen der Kantischen Ethik zu sprechen, interessiert uns hier weiter nicht. Seine Persönlichkeit ist uns gleichgültig. Wir wollten nur an einem Beispiel die Art des Vertreters der offiziellen Wissenschaft zeigen, der in bürgerlicher Denkweise befangen die Lehren gar nicht versteht, die er bekämpft, der sich aber zugleich und eben deswegen über die Proletarier und ihre Ideologie so hoch erhaben fühlt, dass er ihnen von oben herab „gute Lehren“ erteilt, die ihrem untergeordneten Verständnis angepasst sind und der sich endlich bis zu gemeinen Verleumdungen hinreissen lässt.

Traurig stünde es um Kant, wenn seine Sache wirklich auf solche Verteidiger und solche Waffen angewiesen wäre.

* * *

Fussnote

1. Professor Dr. v. Schulze-Gävernitz, Marx oder Kant, Freiburg i. Br. und Leipzig, Speyer und Kaerner, 1908. Preis 1 M.


Zuletzt aktualisiert am 18. Mai 2023